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"Belebung des Beitrittsprozesses dringend erforderlich"

Das richtige Signal bei den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sei, dass es weitergeht, sagt Johannes Kahrs von der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe der SPD. Die Auseinandersetzung mit der EU habe im letzten Jahrzehnt dafür gesorgt, dass die Türkei moderner, westlicher und wirtschaftlich erfolgreicher geworden sei.

Johannes Kahrs im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 26.06.2013
    Silvia Engels: Nach einigem diplomatischem Hin und Her steht nun fest, dass die EU zwar ein neues Verhandlungskapitel mit dem Beitrittskandidaten Türkei eröffnet hat, aber erst ab Herbst konkrete Gespräche anstehen. Deutsche Regierungsvertreter waren zuvor nach dem harten Vorgehen türkischer Behörden gegen Demonstranten auf die Bremse getreten, hatten nun aber den Prozess nicht komplett gestoppt. Gestern Abend sprach mein Kollege Dirk-Oliver Heckmann mit Johannes Kahrs, dem Vorsitzenden der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe von der SPD. An ihn ging die Frage, ob das das richtige Signal ist.

    Johannes Kahrs: Das richtige Signal ist, dass es weitergeht, weil ich glaube, dass eine Belebung des Beitrittsprozesses dringend erforderlich ist. Das erst im Oktober zu machen, finde ich ein bisschen kleinkariert. Das sollen ja die Deutschen und die Österreicher verbockt haben. Frau Merkel hält ja generell nichts von einem EU-Beitritt, deswegen erklärt sich das von selber. Aber es ist schäbig.

    Dirk-Oliver Heckmann: Aber inwieweit ist es kleinkariert oder schäbig, wie Sie sagen, jetzt ein Signal zu setzen, jetzt einen Warnschuss abzugeben nach dem Motto, so geht es nicht weiter, Erdogan, Du musst Deinen Kurs ändern, was den Umgang mit friedlichen Demonstranten angeht?

    Kahrs: Die Frage ist ja, wen trifft der Warnschuss, und ich sage mal, die, die da demonstrieren, vertreten die Werte, die wir als Wertegemeinschaft in Europa verkörpern, also wie Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit und was da alles zugehört, und der Beitrittsprozess hat im letzten Jahrzehnt dafür gesorgt, dass die Türkei moderner, westlicher, wirtschaftlich erfolgreicher geworden ist. Es gibt natürlich auch Rückschritte. Es gibt auch Leute, denen das in der Türkei nicht passt. Aber am Ende gibt es in der Türkei einen tief sitzenden Grundkonsens, dass, wenn es in irgendeine Richtung gehen sollte, es Richtung Europa geht.

    Heckmann: Aber selbst der Chef der türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, der hat hier im Deutschlandfunk in der vergangenen Woche gesagt, wenn die Regierung Erdogan so weitermacht mit der Gewalt, dann sollte die EU abwarten mit der Eröffnung von weiteren Kapiteln. Weshalb schlagen Sie solche Warnungen in den Wind?

    Kahrs: Na ja, wir haben ein Kapitel abgeschlossen, ein paar jetzt auf gehabt und unzählige, die noch nicht auf sind. Das heißt, der Prozess wird noch ewige Jahre dauern. Das heißt, die Frage, ob es jetzt losgeht oder im Oktober, die Frage, ob es im nächsten Jahr oder im übernächsten Jahr viele weitere Fortschritte gibt, das ist nicht der ganze Punkt, sondern der Punkt ist, dass die Entwicklung in der Türkei in die richtige Richtung weitergehen muss. Man muss sich doch mal die Frage stellen: Wenn wir das machen, was Frau Merkel sagt, privilegierte Partnerschaft, wir sagen ihnen, wir wollen euch nicht, wir sind ein Christenklub, keine Wertegemeinschaft, dann ist doch die Frage, in welche Richtung entwickelt sich die Türkei, wenn nicht Richtung Europa. Dann muss man sich ihre Nachbarn nur mal angucken, das würde ich für falsch halten. Wir müssen denen in der Türkei, die in Richtung Europa wollen, die müssen wir unterstützen, und dass Erdogan das am Anfang getan hat und jetzt nicht mehr tut, der muss dieses Signal abkriegen. Aber wir würden ihn doch nur unterstützen in seinen jetzigen Bemühungen, wenn wir allen anderen sagen, nein, wir setzen das erst mal aus.

    Heckmann: Ursprünglich sollte ja jetzt demnächst über Regionalpolitik und Strukturförderung verhandelt werden. Sollte man nicht das viel wichtigere Kapitel, das ja auch noch nicht aufgenommen worden ist, nämlich Rechtsstaatlichkeit, Justiz, Grundrechte, mit hineinnehmen in die Verhandlungen?

    Kahrs: Ja, klar! Wenn ich sage, man soll den Beitrittsprozess beschleunigen, dann würde ich gerade solche Kapitel jetzt aufrufen wollen. Und dann ist es eben an der Türkei und dann kann man nämlich diejenigen, die in der Türkei Richtung Europa wollen, unterstützen, dann können sie es zeigen und dann können wir all das ja auch kritisieren. Zurzeit ist es ja häufig so, dass wir die Türkei kritisieren, die Türkei sagt, das ist Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei. Aber wenn wir einen laufenden Beitrittsprozess haben, den die Türkei auch will, dann ist das keine Einmischung mehr in innere Angelegenheiten der Türkei, sondern dann haben wir das Recht, dann haben wir sogar die Pflicht, uns darum zu kümmern, dass all das, was diese Demonstranten wollen, was wir als Wertegemeinschaft wollen, auch kommt.

    Heckmann: Für Sorge und für Verärgerung, Herr Kahrs, sorgt ja nicht nur die Gewalt gegen friedliche Demonstranten, sondern auch die Andeutungen des türkischen Europaministers, Herrn Bagis. Der hat Ärger ausgelöst in Berlin, wonach Ankara die Straße mobilisieren könnte in Deutschland, wenn Berlin die Aufnahme von weiteren Verhandlungen blockiert. Ist das nicht in der Tat eine Aktion, die nicht geht?

    Kahrs: Erstens geht sie nicht, zweitens ist das wirklich Quatsch und drittens ist es kontraproduktiv bis zum geht nicht mehr. Man merkt daran einfach, dass in der Türkei diejenigen, die mit kühlem Kopf die Lage analysieren, zurzeit nicht die Oberhand haben, sondern diejenigen, die impulsiv sind, die emotional sind, die auch in die falsche Richtung gehen, und das ist falsch, das kann keiner wollen. Wir wollen auch diese jetzige Türkei nicht in der Europäischen Union haben. Aber wir können auch nicht wollen, dass die Türkei sich islamisiert, in die falsche Richtung abdriftet. Man muss sich die Nachbarn mal angucken: Irak, Iran, Syrien. Das ist keine Nachbarschaft, in der wir die Türkei sehen wollen, weil dann haben wir vielleicht irgendwann die Probleme. Deswegen muss man das, was dieser Europaminister da gesagt hat, erstens schärfstens zurückweisen - der rudert ja auch schon zurück, das hat man ja gehört -, aber man muss gleichzeitig diejenigen unterstützen, die in der Türkei in Richtung Europa wollen, die demonstrieren, und das ist ein starker Teil der Türkei.

    Engels: Johannes Kahrs, Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe von der SPD, im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.