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Belgrader Zentrum für kulturelle Dekontamination
Migranten als Menschen sehen, nicht als Masse

Schon in den 90er-Jahren zur Zeit der Jugoslawienkriege mischten sich KünstlerInnen im Belgrader Zentrum für kulturelle Dekontamination ein. Heute kritisieren sie vor allem den Umgang mit Flüchtlingen - durch Kunst und Kultur wollen sie Impulse zur Integration geben wollen.

Von Sabine Adler | 15.08.2018
    Eine iranische Flüchlingsfrau schlägt die Hände vors Gesicht. Das Bild entstand in einem Foto-Workshop für Flüchtlinge in Belgrad, den das Zentrum für kulturelle Dekontamination veranstaltet hat
    Foto einer iranischen Flüchtlingsfrau in einem Transitzentrum in Serbien - entstanden im Rahmen eines Foto-Workshops für Flüchtlinge, den das Zentrum für kulturelle Dekontamination im Sommer 2018 veranstaltet hat. (Lola Joksimovic / Zentrum für kulturelle Dekontamination)
    Es gehört zum Selbstverständnis von Lola Joksimović, die öffentliche Meinung gegen den Strich zu bürsten. Als die Länder Ex-Jugoslawiens Anfang der 1990er-Jahre glaubten, ihre Pfründe nur mit Gewalt gegeneinander verteidigen zu können, setzte ein Kreis fassungsloser Intellektueller der allgemeinen Kriegseuphorie etwas entgegen: das Zentrum für kulturelle Dekontamination. Heute, 23 Jahre und Tausende von Veranstaltungen und Projekten später, stört sie der Blick auf die Flüchtlinge, die auf der Balkanroute durch Serbien zogen und immer noch ziehen. Denn die verbreitete Wahrnehmung der Migranten als Masse ist ihrer Meinung nach inhuman. Es seien einzelne Personen, die die Landsleute auch kennenlernen könnten.
    "Es kommen immer Migranten und Ortsansässige zusammen. Wir treten schließlich nicht als eine Art Kolonialisten auf. Es geht nicht darum, sie in unsere Gesellschaft zu integrieren, sondern Integration meint zuallererst gegenseitiges Verstehen. Kunst und Kultur sollen helfen, Probleme zu benennen, Traumata anzusprechen, mit ihnen umzugehen. Wir wollen Anstöße geben. Es geht immer um kleine Gruppen, und um kleine Schritte."
    Innenansichten von Menschen auf Reisen
    Die temperamentvolle Serbin, von Haus aus Archäologin, hat sich zur professionellen und unerschrockenen Managerin entwickelt. Wenn sie und ihre Mitstreiter in die Transitzentren gehen, laufen sie durchaus nicht immer in offene Arme. Den Fotoworkshop, den sie iranischen Flüchtlingsfrauen vorschlugen, fanden diese zunächst schrecklich, vor allem weil sie befürchteten, dass man sie ablichten würde. Sie wollten nicht erkannt werden:
    "Sie nörgelten, fanden die Idee überhaupt nicht gut, bis jede der Frauen ihre eigene Kamera bekam. Da sahen sie, dass sie es selbst in der Hand hatten, welche Art von Fotos entsteht. Plötzlich waren sie glücklich. Ihre Fotos sind jetzt in einer Online-Ausstellung zu sehen. Sie zeigen Innenansichten von Menschen, die lange Reisen auf ihrer Flucht hinter sich haben."
    Für Bojana Radojcic, die die Fotogruppe organisierte, war es das erste Zusammentreffen mit Migrantinnen: "Sie sind sehr offen und berichten sehr ehrlich von ihren schmerzlichen Erfahrungen." Zehn Männer stehen im Kreis, alle fassen sich den Händen. Einer, mit Boxhandschuhen, springt in die Mitte. Theaterworkshop, fünf Tage, einer intensiver als der andere. Festgehalten in einem Film, den eine andere Projektgruppe drehte. Darin tritt Mohammed aus Ghana auf, ein muskulöser junger Mann mit kurzem Vollbart in weißem T-Shirt: "Wenn wir Theater spielen, dann ist das wie Magie. Wunderschön."
    Mostafa aus dem Iran, um die 30, hohe Stirn, resümiert sehr nachdenklich: "In jedem Alter und unter allen Umständen kann man mit anderen zusammenkommen und etwas Sinnvolles tun, egal, woher jeder stammt. Man kann mit anderen glücklich sein. Das Leben ist so schnell vorbei und wenn es Zeit ist zu sterben, wollen wir doch nicht sagen müssen, dass wir die glücklichen Momente nicht erkannt und ausgekostet haben."
    Die Schauspielerin Stefana Savic leitete die Theatergruppe, die ausschließlich aus Männern bestand. "Es gab sehr emotionale Momente, in denen der eine dem anderen sehr nahe kam und plötzlich viel aus dessen Leben verstand."
    Vertrauen auf die Zivilgesellschaft
    Lola Joksimovic vom Zentrum für kulturelle Dekontamination in Belgrad vertraut auf die Zivilgesellschaft, auf die kleinen Gruppen, kleinen Schritte. Nicht auf den derzeit autoritären serbischen Staat. Der lässt Institutionen wie ihre wegen ihrer unabhängigen Haltung ohnehin links liegen, kümmert sich aber auch kaum um die in Serbien gestrandeten Flüchtlinge, die hofften, auf der Balkanroute schnell in Richtung EU weiterzukommen.
    "Die Reise auf der Balkanroute oder wo auch immer ist extrem stressig. Diese Menschen benötigen mehr, als sie derzeit in den Transitzentren bekommen, also Sicherheit, Nahrung, humanitäre Hilfe. Sie brauchen Ansprache, um sich psychisch besser zu fühlen, und Bildung, wenn möglich."
    Sie erklärt auf der Bank unter der riesigen Platane im Garten des Kulturzentrums das Anliegen: "Sie erfahren Wertschätzung durch den Kontakt mit den Einwohnern der Stadt, den Künstlern und Schauspielern, und sie bekommen die Idee vermittelt, dass jeder Mensch kreativ ist. Dafür geben wir ihnen den Raum. Wir wollen, dass sie sich wohl fühlen".