Freitag, 29. März 2024

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Benedict Wells: "Hard Land"
Der Sommer der Entscheidungen

Benedict Wells ist nach eigener Aussage ein Fan von Coming-of-Age-Geschichten. Ähnlich wie seine US-Vorbilder Charles Simmons und J.D. Salinger erzählt er in seinem fünften Roman von einem Teenagerdrama. Sein 16-jähriger Held Sam erlebt 1985 den schönsten und zugleich den schlimmsten Sommer seines Lebens.

Von Julia Schröder | 08.04.2021
Ein Portrait des Schriftstellers Benedict Wells und das Cover seines Romans "Hard Land"
Bekennender Literatur-Autodidakt: Der Bestsellerautor Benedict Wells (Buchcover Diogenes Verlag / Autorenportrait (c) Roger Eberhard)
Sam ist fast 16, ziemlich ängstlich und hat keine Freunde. Aber hey, es ist Sommer in seiner kleinen Stadt am Missouri River! Und dann das:
"In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb."

Muttersterben und erste Liebe

So beginnt "Hard Land", der neue Roman von Benedict Wells. Dass nach einem solchen Auftakt nicht mehr viel schiefgehen kann, weiß die Leserschaft von Coming-of-Age-Romanen seit Charles Simmons' "Salzwasser" mit seinem berühmten ersten Satz "Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank". Von diesem Satz hat sich Benedict Wells erklärtermaßen inspirieren lassen und sein Ich-Erzähler ebenso, wie sich später im Buch herausstellt. Anders jedoch als in Simmons‘ berühmter Geschichte einer Jugend, deren Erzähler sich als alter Mann an lang zurückliegende Ereignisse erinnert, ist bei Wells das entscheidende Geschehen erst ein Jahr her. Sein Sam ist mithin immer noch erst 17, aber er berichtet von diesem einzigartigen Sommer just im Tonfall des abgeklärten Betrachters eigener Jugendtorheit.
Vielleicht aber wirkt das auch nur deshalb so, weil es nicht etwa die Gegenwart ist, in der Benedict Wells, demnächst 37 Jahre alt, seine Geschichte ansiedelt, und auch nicht die Jahrtausendwende, als er selbst 16 war, sondern der Sommer 1985, wie der Roman allenthalben deutlich macht:
"Die Heartland Plaza Mall lag ein Stück außerhalb der Stadt. Sie war in den Fünfzigern gebaut worden, Gradys große Zeit, als die Textilfabrik noch blühte und ständig neue Leute brauchte. Inzwischen war die Mall heruntergekommen, aber immer noch ,der‘ Ort, wenn man Zeit totschlagen wollte. Von der Rolltreppe aus sah ich Mitschüler in den Cafés und Restaurants sitzen. Aus den Lautsprechern schallte das unvermeidliche ,Dont’t you‘ der Simple Minds."

Im Kaufhaus spielen sie Simple Minds

Dass diese Szenerie an das Setting ungezählter US-amerikanischer Serien und Teenie-Blockbuster erinnert, aus denen mitteleuropäische Heranwachsende in den Achtzigerjahren ihr Amerikabild zusammensetzten, ist kein Zufall. In seinem fünften Roman outet Benedict Wells sich als Fan von Kultfilmen wie "Back to the Future", "Breakfast Club", "Stand by me" und "Ferris macht blau" samt der entsprechenden Musik. Um nicht zu sagen, er baut ein ganz großes literarisches Reenactment popkultureller Prägungen auf, die - und das ist das Paradoxe - seiner eigenen Prägezeit eine halbe Generation vorausgingen.
Was sich in diesem Sommer 1985 ereignet, ist schnell erzählt. Der schüchterne Einzelgänger Sam Turner findet Anschluss an einen Dreierbund etwas älterer Jugendlicher. Die beiden Jungs in der Truppe werden seine Freunde. Das Mädchen Kirstie mit der Zahnspange und den Rollschuhen wird seine erste Liebe. Ihrem Vater gehört das Kleinstadtkino, in dem die vier jobben und abhängen. Gemeinsam erleben sie alterstypische Abenteuer, Sam hat seinen ersten Rausch, bekommt seinen ersten "richtigen" Kuss und muss den ersten Liebeskummer durchstehen. Überschattet wird die schöne Zeit von der Tatsache, dass die drei älteren Freunde im Herbst auf weit entfernte Colleges gehen werden. Und davon, dass Sams Mutter seit Jahren unheilbar krank ist – Diagnose Hirntumor:

"Anfangs waren wir alle wie gelähmt gewesen. (…) Doch so komisch es klingt: Irgendwann hatten wir uns an die ungewisse Situation gewöhnt. (…) wir lachten wie immer, stritten wie immer, schauten fern wie immer. Innerlich aber warteten wir alle nur auf neue schlechte Nachrichten. Denn der Tod saß die ganze Zeit bei uns am Küchentisch, trank seinen Kaffee, blickte stumm auf die Uhr."
Mit solchen Augenblicken, solchen Metaphern berührt Benedict Wells auch eine Leserin, die von Literatur mehr erwartet als Pop-Referenzen und die routinierte Nachbildung unterhaltsam-regressiver filmischer Vorbilder. Der aus den Achtzigern herbeizitierte, mal bittersüße, mal bonbonbunte Augenzucker ließ schließlich sein Publikum eher vergessen als schmecken, was in den USA des Reagan-Jahrzehnts tatsächlich los war, vom atomaren Gleichgewicht des Schreckens bis zum ökonomischen Ausbluten gerade des amerikanischen Herzlandes.

Lebensweisheiten statt Wahrhaftigkeit

Das titelgebende Motiv in "Hard Land" ist ein – fiktives – Gedicht mit angeblich unknackbarem allegorischem Sinn, um den das Buch deutlich zu viel Aufhebens macht. Die lyrischen monstres sacrés Arthur Rimbaud, Sylvia Plath und Dylan Thomas werden bemüht, zudem kanonische Größen der Jugendliteratur. Aber das verleiht den Leiden des jungen Turner ebenso wenig Wahrhaftigkeit wie die Lebensweisheiten, die der Leser in Hülle und Fülle serviert bekommt. Und dabei wäre doch der Anschein von Wahrhaftigkeit gerade im Genre, das vom Erwachsenwerden handelt, unabdingbar.
Von Trauer und Familiengeheimnissen hat Wells in seinem erfolgreichen Vorgängerroman "Vom Ende der Einsamkeit" mit großem Ernst erzählt. Diese wuchtigen Themen nun mit all den nostalgischen Triggern zu mischen, die derzeit eh so angesagt sind, war keine gute Idee.
Benedict Wells: "Hard Land". Roman
Diogenes Verlag, 343 Seiten, 24 Euro