
Ellen Thiemann war acht Jahre alt, als sie 1945 mit ihrer Mutter und zahllosen anderen Deutschen das Sudetenland verlassen musste. Grundlage für die Massenvertreibungen waren die so genannten Beneš-Dekrete, benannt nach dem tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš. Betroffen waren rund drei Millionen Sudetendeutsche. Als Sudetendeutsche wurden alle in den böhmischen, mährischen und schlesischen Grenzgebieten der Tschechoslowakei lebenden Deutschen bezeichnet.
Ein halbes Jahr später folgte die "Zerschlagung der Rest-Tschechei", wie es hieß, und die Errichtung des "Reichsprotektorats Böhmen und Mähren" als Teil des "Großdeutschen Reichs".
Als Vergeltung zerstörte die SS das Dorf Lidice unweit von Prag. Als Vorwand diente die – falsche – Behauptung, Einwohner hätten den Attentätern Unterschlupf gewährt.
Über 300 Einwohner von Lidice wurden ermordet, das Dorf in Brand gesteckt, vollständig zerstört und dem Erdboden gleichgemacht, um es von der Landkarte auszuradieren.

"Das ist eine traumatische Erfahrung, vor allem für die damalige tschechoslowakische Politik- und Bildungselite gewesen, und die hat dazu geführt, dass man darüber nachdachte, wie können wir ein zweites München verhindern, nach dem Sieg über Hitler. Wir können dieser Bevölkerungsgruppe so nicht mehr trauen."
"Es wird notwendig sein, kompromisslos die Deutschen in den tschechischen Ländern völlig zu liquidieren. Unsere Losung muss es sein, unser Land kulturell, wirtschaftlich und politisch endgültig zu entgermanisieren."
Edvard Beneš brachte in drastischen Worten das zum Ausdruck, was die tschechoslowakische Regierung dann in Form von Dekreten in staatliches Handeln umsetzte. Die insgesamt 143 Verordnungen gingen als "Beneš-Dekrete" in die Geschichte ein. Detlef Brandes:
"Die Beneš-Dekrete wurden zum Teil schon während des Krieges ausgearbeitet durch die Exil-Regierung in London. Das wichtigste Dekret ist gewiss das mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft, die dann die Zwangsaussiedlung ermöglichte. Die anderen Dekrete laufen auf die Enteignung hinaus. Also erst wurde der Boden enteignet, dann der gesamte industrielle und Hausbesitz. Und dann gibt es noch Dekrete zur Schließung der deutschen Universitäten und so weiter."

Dekret Nr. 123 vom 18. Oktober 1945 über die Auflösung der deutschen Hochschulen in Prag und in Brünn.
"Es kam ein Tscheche, verkündete: In 30 Minuten oder einer Stunde müsst ihr raus. Es wurden zuerst Mitglieder der NSDAP, Beamte und so weiter, ausgewiesen, aber das ging dann weiter."
Gerhard Engel musste als 15-Jähriger mit seiner Familie das nordböhmische Kratzau verlassen.
"Auf einer alten Kiste saß eine Frau, die war vielleicht zwischen 70 und 80, und die weinte dermaßen bitterlich und so hoffnungslos. Dieses Bild sehe ich heute noch."

"In Prag gab es Lynchjustiz. In den Grenzgebieten entstanden so genannte Revolutionsgarden und rückte die neu aufgestellte Armee ein und begann mit Vertreibungen schon sehr früh. Und diese Vertreibungen waren, besonders wenn sie von den Revolutionsgarden, also zusammengewürfelte Partisanenhaufen, durchgeführt wurden, waren mit sehr vielen Opfern verbunden. Es gibt große Exzesse - wird es jetzt in der tschechischen Historiographie genannt – Exzesse wie zum Beispiel den so genannten Brünner Todesmarsch."
Ende Mai 1945 mussten sich in Brünn über 25.000 Sudetendeutsche an Sammelstellen einfinden, meist Kinder, Frauen und alte Männer, und zur 60 Kilometer entfernten Grenze laufen. Walter Saller war unter ihnen.
"Die Behandlung war allgemein sehr schlecht und brutal. Jeder hatte eine Peitsche und einen Karabiner. Sie haben geschlagen, sie haben mit Gewehrkolben die Leute aufgefordert, weiterzugehen, wenn sie nicht mehr konnten."
Mindestens 2.000 Menschen starben an den Folgen von Erschöpfung, Hunger und Durst oder wurden umgebracht. Von den Tätern musste sich später niemand verantworten. Sie gingen aufgrund eines Amnestie-Gesetzes straffrei aus.
In Kommotau, einer Kleinstadt in Nordböhmen, trieben tschechische Revolutionsgarden Anfang Juni mehrere tausend Deutsche auf dem Sportplatz zusammen, darunter Franz Benisch.
"Hier links stand das eine Tor, und hier wurden wir hereingetrieben von allen Straßen von Kommotau. Die Stadt war hermetisch abgeschirmt, alle Straßen wurden durchgekämmt. Und hier landeten alle, in Reihen aufgestellt. Am zweiten Tor war ein Haufen von Fleisch, totgeprügelten SS-Leuten, junge Kerle, die vom Leben noch keine Ahnung hatten."
"Vertreibung ist, soweit wir in der Lage sind, es zu überschauen, das befriedigendste und dauerhafteste Mittel."
"Es wird keine Mischung der Bevölkerung geben, denn dadurch würden endlose Unannehmlichkeiten entstehen."
Die Umsiedlung von Millionen Menschen sollte nach dem Willen der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion human und in geordneten Bahnen verlaufen. Doch die Formel von der "ordnungsgemäßen Überführung" war reiner Zynismus und ein beispielloser Akt der Selbsttäuschung. Der Regensburger Historiker Manfred Kittel:
"Es gibt in der Geschichte der so genannten modernen Vertreibungen kein zweites Dokument, das eine Gewaltmigration derartigen Ausmaßes einseitig verfügt hätte wie das Protokoll dieser Potsdamer Konferenz vom 2. August 45. Im Artikel 13 vereinbarten die Siegermächte explizit die bekannte, berühmt-berüchtigte so genannte ordnungsgemäße Überführung der noch in ihrer Heimat verbliebenen Deutschen aus Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen."
Detlef Brandes ist Mitglied der deutsch-tschechischen Historikerkommission, die in ihrer Untersuchung nur die Opfer direkter Gewalt berücksichtigte und zu weit niedrigeren Zahlen kam.
"Man rechnet mit mindestens 18.000, eventuell 36.000 Toten."
Die meisten Vertriebenen wurden in die amerikanische Besatzungszone abgeschoben, vor allem nach Bayern, wo man auf die Aufnahme der Sudetendeutschen nicht vorbereitet war.
"Und ich sehe meine Großmutter noch auf ihrer Kiste sitzen und sagen, da sollen wir wohnen? Dieses Barackenlager hatte doppelten Stacheldraht drum herum. Bei den Baracken waren zum Teil Fenster rausgerissen, Türen rausgerissen, so in einem absolut desolaten Zustand."
Die Vertriebenen kamen in ein zerstörtes, vom Krieg gezeichnetes Land. Sie stießen auf eine Bevölkerung, die sie alles andere als freundlich aufnahm. Der Historiker Andreas Kossert hat dafür den Begriff der "Kalten Heimat" geprägt. Auf die Vertreibung folgte die bittere Erfahrung von Ausgrenzung und Ablehnung. Sudetendeutsche wie Marlene Wetzel-Hacksbacher waren unerwünschte Fremde.
"Mit dem ersten Transport sind wir dabei gewesen, und da sind wir dann nach Dillingen gekommen, und dann ist kein Zug mehr gefahren. Und da habe ich gesagt, Herr Wirt, da ist doch schön warm, lassen Sie uns halt bis früh da, bis der erste Zug geht. Und da hat er gesagt, ja, Mädle, das denkst bloß du. Und morgen früh komme ich, und meine Wirtsstube ist ausgeräumt. Das war der Empfang in Dillingen. Bös war’s, wir waren nicht gut angesehen."
Die Volksgemeinschaft, wie sie die Nazis zwölf Jahre lang propagiert hatten, war nach dem Untergang des Deutschen Reiches vergessen.
Die Alteingesessenen und die Neuankömmlinge konkurrierten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren um knappen Wohnraum, um Arbeit und Lebensmittel. Franz-Josef Strauß, der spätere langjährige bayrische Ministerpräsident, war am Anfang seiner politischen Karriere von 1946 bis ‚48 Landrat in Schongau.
"Zunächst haben wir die Unterkünfte in Notlagern, in Schulen, in Pfarrgemeindesälen, in Sporthallen, das waren Bilder der Not und des Elends, wie sich heute ja kaum mehr die älteren Menschen, geschweige denn die jungen, vorstellen können. Es gab natürlich auch Spannungen zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Flüchtlingen und Vertriebenen. Da sah es so aus, dass alle zwei Wochen ein Transportzug aus der Tschechoslowakei kam, und diesem Transportzug entstiegen 250, 300 Menschen."
Die Eingliederung der Flüchtlinge war ein Glücksfall der Geschichte, erleichtert durch das Wirtschaftswunder und die gemeinsame Sprache und Kultur. Ob das Beispiel aus der deutschen Nachkriegszeit als Lehrstück für weitere Migrationsprozesse taugt, wie Michael Schwartz meint, ist daher fraglich.
"Das wäre vielleicht auch für heutige Flüchtlings- oder Einwanderungsprozesse nicht uninteressant, dass eine große Gruppe von Millionen von Menschen, die zunächst einmal von den Einheimischen nicht nur als fremd, sondern auch als ökonomische, als finanzielle Belastung betrachtet worden ist, binnen weniger Jahre durch Integration in den Arbeitsmarkt, vor allem der jungen Generation, zu einem wichtigen Träger des Aufschwungs geworden ist."
"Versöhnung ja, Verzicht nein, alles für unsere sudetendeutsche Heimat."

"Die deutsche Seite bedauert das Leid und das Unrecht, das dem tschechischen Volk durch die nationalsozialistischen Verbrechen von Deutschen angetan worden ist. Die tschechische Seite bedauert, dass durch die nach dem Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde."
Deutsche und Tschechen halten inzwischen gemeinsame Gedenkstunden für die Opfer der Vertreibung ab, sie haben Mahnmale errichtet und organisieren Versöhnungsmärsche; in Aussig und München sind Museen geplant oder gerade fertiggestellt, die an das Schicksal der Sudetendeutschen erinnern. In deutschen Großstädten existieren tschechische Zentren und in Prag sogar eine Vertretung der Sudetendeutschen Landsmannschaft.
"Das hat sicherlich erstens symbolischen Wert. Zweitens können sich tschechische Politiker vorstellen, dass bei einer Aufhebung der Dekrete auch die Eigentumsübertragungen in Frage gestellt werden. Das würde eine Riesenumwälzung bringen."
Unter den Sudetendeutschen denkt ohnehin kaum noch jemand an eine Rückkehr in die alte Heimat. Franz Benisch, einst aus Kommotau vertrieben, kommt nur besuchsweise in das heutige Chomutov.
"Man denkt halt an die Jugendzeit zurück, aber ansonsten, vorbei ist vorbei. Die Leute sind auch froh, dass sie jetzt ein Haus haben, nee, gut. So ist das Leben, c’est la vie. Aber die Erinnerungen sind halt da, das ist das Einzige, was bleibt."