Heimatvertriebene
Zwischen Trauma und Versöhnung

Zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden Millionen Deutsche aus ihrer Heimat in Mittel- und Osteuropa vertrieben, so auch die Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei. Eine Folge des Nazi-Terrors dort. Wie wird heute mit diesem Thema umgegangen?

    Frauen in sudetendeutscher Tracht versammeln 2018 in der Augsburger Kongresshalle zum Sudetendeutschen Tag, dem jährlichen Treffen der Sudetendeutschen Landsmannschaft.
    Sudetendeutsche Tracht verkörpert für viele Familien eine Tradition und heute auch eine Kultur der Versöhnung. (Getty Images / Andreas Gebert)
    Vor rund 80 Jahren, zum Ende des Zweiten Weltkriegs, begannen die Vertreibungen von Deutschen und Deutschstämmigen etwa aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern und dem Sudetenland. 12 bis 14 Millionen Menschen mussten fliehen oder wurden gewaltsam vertrieben und strömten gen Westen. Eine Folge von Nazi-Terror und deutschem Vernichtungskrieg.
    Vor 75 Jahren, am 5. August 1950, wurde dann in Stuttgart die Charta der deutschen Heimatvertriebenen unterzeichnet. Sie sollte eine Geste von Versöhnung sein, wird aber oft auch als revanchistisch gewertet. In der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR gab es eine solche Interessenvertretung nicht – hier waren die Heimatvertriebenen und ihre Belange aus politischen Gründen kein Thema.
    Nach Jahrzehnten voller Konflikte hat sich in den Beziehungen zwischen Vertriebenen und den Ländern ihrer früheren Heimat in Mittel- und Osteuropa zuletzt einiges in Richtung Verständigung bewegt, beispielsweise bei den Sudetendeutschen und der Tschechischen Republik. Welche Rolle spielt die Erfahrung der Heimatvertriebenen heute in Deutschland? Und wie kam es in der damaligen Tschechoslowakei zur Vertreibung?

    Inhalt

    Welche Rolle spielt die Vertreibung Deutscher heute?

    Vor allem junge Menschen, besonders in Ostdeutschland, wissen oft nur wenig oder gar nichts über die Vertreibung Deutscher zum Ende des Zweiten Weltkrieg – und häufig auch nicht über die Fluchtgeschichten in der eigenen Familie.
    Vor allem in der DDR wurde das Thema Flucht und Vertreibung etwa durch Russen, Tschechen oder Polen kaum angesprochen. Dort waren die Erinnerungen und Erzählungen über Flucht und Vertreibung der Umsiedler oder Neubürger genannten Vertriebenen unerwünscht. Denn die Klagen über das erlittene Unrecht hätten sich gegen die neuen sozialistischen Bruderstaaten der DDR wie Polen und die Tschechoslowakei gerichtet. Auch Interessenvertretungen – wie im Westen – durfte es nicht geben. Besonders in der DDR verstummten daher viele der Vertriebenen – mitsamt ihrer Traumata.
    In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat sich aber gesamtgesellschaftlich beim Thema Heimatvertriebene einiges bewegt, etwa zwischen Deutschen und Tschechen. Nach einer jahrzehntelang von gegenseitiger Aufrechnung, Schuldzuweisungen und Feindschaft geprägten Beziehung halten Deutsche und Tschechen inzwischen beispielsweise gemeinsame Gedenkstunden für die Opfer der Vertreibung ab. Sie haben Mahnmale errichtet und organisieren Versöhnungsmärsche.
    In Tschechien und Deutschland gibt es seit Beginn der 2020er-Jahre eine Dauerausstellung sowie ein Museum zur deutschsprachigen Bevölkerung in Böhmen und Mähren.
    Der Kontakt und die Zusammenarbeit über die Grenze hinweg sind alltäglich geworden. Daran hat der 1997 ins Leben gerufene Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds großen Anteil, über den Tausende gemeinsam erarbeitete Projekte gefördert wurden.
    Auch bei den Landsmannschaften der Vertriebenen gibt es Veränderung. So seien etwa bei den Sudetendeutschen Tagen – dem seit 1950 stattfindenden jährlichen Treffen der Sudetendeutschen – inzwischen Tausende tschechische Teilnehmer dabei, meist junge, sagte Bernd Posselt vor wenigen Jahren. Der CSU-Politiker ist seit 2008 Vorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft.

    Warum wurden die Sudetendeutschen nach 1945 vertrieben?

    Die Vertreibung von 12 bis 14 Millionen Deutschen und Deutschstämmigen aus ihren teils ehemals deutschen Heimatgebieten in Mittel- und Osteuropa wurde auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 besiegelt.
    Das Balkendiagramm zeigt die Zahl der vertriebenen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg nach Herkunft in den Jahren 1944 bis 1948.
    Zahl der vertriebenen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg nach Herkunft in den Jahren 1944 bis 1948 (Statista 2025)
    Zu dem Zeitpunkt waren von Willkür und Gewalt geprägte „wilde Vertreibungen“ im Gange. Es gab Tausende Tote, Halbverhungerte kamen in Eisenbahnwaggons etwa in das in Trümmern liegende Berlin. In Flüchtlingstrecks zogen Menschen zu Fuß Richtung Westen. Bis 1950 dauerte die auf der Potsdamer Konferenz beschlossene Zwangsaussiedlung an.
    Bei den Sudetendeutschen – so wurden alle in den böhmischen, mährischen und schlesischen Grenzgebieten der Tschechoslowakei lebenden Deutschen bezeichnet – waren die sogenannten Beneš-Dekrete die Grundlage für die Massenvertreibungen, benannt nach dem tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš.
    Die rund drei Millionen Menschen umfassende Minderheit der Sudetendeutschen lebte in der Tschechoslowakei bis in die 1930er-Jahre gleichberechtigt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland wurden Forderungen an die Tschechoslowakei nach einer Abtretung des Sudetengebietes an Nazi-Deutschland immer lauter. 1938 verfügte das Münchner Abkommen, an dem neben NS-Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien beteiligt waren, diese Abtretung – ohne Beteiligung der Tschechoslowakei.
    Die NS-Politik ab 1938 habe auf die Zerstörung der Tschechoslowakei abgezielt zu, erklärt Gundula Bavendamm, Direktorin des Berliner Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Ein wesentliches Ereignis dabei ist die Zerstörung des Dorfs Lidice nahe Prag am 10. Juni 1942 durch die SS, bei der mehr als 300 Einwohner ermordet wurden. Die Kluft zwischen Tschechoslowaken und Sudetendeutschen wurde immer tiefer, die Sudetendeutschen wurden pauschal als Anhänger Hitlers verdächtigt.
    Nach dem Krieg legitimierten die 143 Verordnungen, die als „Beneš-Dekrete“ in die Geschichte eingingen, Menschen allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Bevölkerungsgruppe pauschal zu Staatsfeinden zu erklären, ihrer Rechte zu berauben, auszubürgern und zu vertreiben.
    Wie viele Opfer die Vertreibung der drei Millionen Sudetendeutschen genau forderte, ist umstritten. Die Zahlen bewegen sich zwischen mehr als 200.000 und mindestens 18.000. Letztere sind laut Historiker Brandes die Opfer direkter Gewalt aus einer Untersuchung der deutsch-tschechischen Historikerkommission.

    Wie wurden die Sudetendeutschen nach ihrer Vertreibung integriert?

    Die meisten Vertriebenen wurden in die damalige amerikanische Besatzungszone abgeschoben, vor allem nach Bayern. Sie kamen in ein zerstörtes Land, das auf ihre Aufnahme nicht vorbereitet war. Die Bevölkerung reagierte mit Ausgrenzung und Ablehnung. Die Alteingesessenen und die Neuankömmlinge konkurrierten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren um knappen Wohnraum, um Arbeit und Lebensmittel.
    Doch im Zuge des Wirtschaftswunders und ihres Beitrags dazu gelang die Integration der Sudetendeutschen.
    Die Heimatvertriebenen erklärten in ihrer 1950 unterzeichneten Charta den Verzicht auf Rache und Vergeltung. Zugleich hätten die politischen Interessenvertreter aber „sehr stark am Revisionsanspruch der deutschen Grenzen und damit am Rückkehrrecht in die frühere Heimat festgehalten, zum Teil auch verbunden mit Entschädigungsanspruchsforderungen“, erläutert Michael Schwartz, Historiker vom Institut für Zeitgeschichte. Seit den 60er-Jahren seien die öffentlich sichtbaren Vertriebenen-Organisationen immer stärker ins Abseits geraten, so Schwartz.
    Inzwischen bekennen sich die Vertriebenenverbände zu Ausgleich und Verständigung und akzeptieren die gemeinsame Erklärung der tschechischen und deutschen Regierung aus dem Januar 1997. Darin heißt es unter anderem:

    Die deutsche Seite bedauert das Leid und das Unrecht, das dem tschechischen Volk durch die nationalsozialistischen Verbrechen von Deutschen angetan worden ist. Die tschechische Seite bedauert, dass durch die nach dem Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde.

    aus: Deutsch-tschechische Erklärung von 1997
    2015 setzte die Sudetendeutsche Landsmannschaft einen Meilenstein, indem sie die „Wiedergewinnung der Heimat“ aus ihren Statuten strich. Sie gab den Anspruch auf, wieder zurückzukehren auf das Gebiet des heutigen Tschechiens.
    Die tschechische Regierung hat von den Beneš-Dekreten bislang keines aufgehoben – laut Historiker Brandes wohl auch aus Angst vor einer Infragestellung der Eigentumsübertragungen und damit verbundenen „Riesenumwälzung“. An eine Rückkehr in die alte Heimat denkt unter den Sudetendeutschen aber ohnehin kaum noch jemand.

    Was verbindet Vertriebene damals und Geflüchtete heute?

    Dass aus der Geschichte deutscher Vertriebener nach dem Zweiten Weltkrieg gelernt werden kann, das betonte Bundesfamilienministerin Karin Prien. Bei einer Gedenkstunde für die Opfer von Flucht und Vertreibung im Juli 2025 sagte die CDU-Politikerin: Das Leid und die Lebensleistung der Menschen, die vor 80 Jahren flohen, sei in Deutschland viel zu lange viel zu wenig gesehen worden. Aus der Beschäftigung mit dem Leid könne Raum für Empathie entstehen. So lasse sich auch etwas für die Gegenwart mit Millionen Flüchtlingen lernen.

    abr