Sonntag, 03. Dezember 2023

Bergkarabach
Massenflucht nach Armenien

Die Republik Bergkarabach ist Geschichte: Der Großteil der Bevölkerung ist nach Armenien geflohen, nachdem Aserbaidschan die Region erobert hat. Die Regierung von Bergkarabach hatte die Auflösung des international nicht anerkannten Staates erklärt.

30.09.2023

    Flüchtende aus Bergkarabach warten in Autos in einer Schlange auf einer Straße auf die Einreise nach Armenien. Im Hintergrund sind Berge des Kaukaus zu sehen.
    Zehntausende Armenierinnen und Armenier fliehen aus Bergkarabach - an der Grenze zur benachbarten Kaukasusrepublik Armenien stauen sich die Fahrzeuge (imago / SNA / Grigoriy Pechorin)
    Seit Aserbaidschan die gesamte Region Bergkarabach militärisch wieder unter seine Kontrolle gebracht hat, und die selbsternannte Republik Bergkarabach ihre Auflösung bekannt gegeben hat, gibt es eine Massenflucht der armenischen Bevölkerung aus der Region.
    Am 19. September hatte Aserbaidschan die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Bergkarabach angegriffen. Der als „Antiterroroperation“ bezeichnete Krieg dauerte nur einen Tag: Bereits am 20. September verkündeten die Angreifer eine Waffenruhe. Die Region Bergkarabach, die sich 1991 für unabhängig erklärt hatte, solle in Aserbaidschan "wiedereingegliedert" werden, hieß es. Ein vorläufiger Schlussstrich unter den seit Jahren schwelenden Konflikt.

    Überblick

    Wie ist die Situation nach Ende des Krieges in Bergkarabach?

    Gut eine Woche nach Ende des jüngsten Krieges verkündete die Regierung der selbsternannten Republik Bergkarabach deren Auflösung. In einem am 28. September 2023 veröffentlichten Dekret ordnete sie die Auflösung "aller staatlichen Institutionen und Organisationen" bis zum 1. Januar 2024 an.
    Der Entschluss ziele darauf ab, die Sicherheit und das Leben der Bevölkerung in Bergkarabach zu schützen. Die Auflösung war Teil der Kapitulationsbedingungen. Aserbaidschan will Bergkarabach wieder in aserbaidschanisches Staatsgebiet eingliedern, wie Präsident Ilham Alijew kurz nach Ende des Eintagekriegs betonte.
    Viele der knapp 120.000 ethnischen Armenierinnen und Armenier, die vor dem Krieg in Bergkarabach lebten, wollen daher die Region verlassen. Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR sind inzwischen mehr als 100.000 Geflüchtete aus der Region in Armenien angekommen. Die Kaukasusrepublik ist von der Zahl zu versorgender Menschen überfordert. Freiwillige sammeln Hilfsgüter für die Flüchtlinge, die oftmals so gut wie nichts aus ihrer alten Heimat mitbringen.
    Die Soziologin und Armenologin Tessa Hofmann spricht von "Massenexodus" und "Vertreibung". Die Menschen wollten nicht unter der Herrschaft Aserbaidschans leben. Sie seien verängstigt, möglicherweise aufgrund von "Gräueltaten", berichtete die Journalistin Silvia Stöber über Flüchtende, die in der armenischen Hauptstadt Jerewan ankommen.
    Infografik: Die Karte zeigt Armenien und Aserbaidschan, dazwischen die Region Bergkarabach und den Latschin-Korridor
    Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan (Deutschlandradio / Andrea Kampmann / picture alliance/dpa Grafik)
    Für die hohe Zahl an Flüchtenden spielt sicher auch das Verhalten von Aserbaidschans Präsident Alijew eine Rolle. Seiner Zusicherung, humanitäre Standards zu beachten, sei nicht zu trauen, meint Stöber. Aufgrund von Erfahrungen wie etwa der Blockade Bergkarabachs in den vergangenen Monaten oder mit Gräueltaten im Krieg 2020 sei – ohne internationale Kontrollen –, "das Schlimmste" zu erwarten, befürchtet Stöber.

    Aserbaidschan bestreitet Vorwürfe

    Der Botschafter von Aserbaidschan in Deutschland, Nasimi Aghayev, bekräftigt im Interview mit dem Deutschlandfunk die Aussagen seiner Regierung: Sein Land würde die Sicherheit der armenischen Bevölkerung garantieren. Er bestreitet eine gewaltsame Vertreibung.
    Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan wirft Aserbaidschan dagegen "ethnische Säuberungen" und "illegale Festnahmen" von Flüchtenden vor, die von Bergkarabach aus nach Armenien gelangen wollen. Er forderte eine Reaktion der internationalen Gemeinschaft. In Armenien wächst zudem die Angst davor, dass Aserbaidschans Präsident Alijew auch Armenien angreifen könnte.

    Wie verlief der jüngste Krieg in Bergkarabach?

    Der jüngste Krieg war kurz: Am 19. September begann Aserbaidschan seine sogenannte "Antiterroroperation" gegen die Einheiten der Republik Arzach. Es war die dritte bewaffnete Auseinandersetzung um die Region Bergkarabach, nachdem diese 1991 ihre Unabhängigkeit erklärt hatte.
    Bereits am Tag nach Beginn des Angriffs verkündete Aserbaidschan eine Waffenruhe. Von den Behörden Bergkarabachs hieß es, man werde mit Baku über die Integration der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region in den aserbaidschanischen Staat verhandeln.
    Eine Frau sitzt auf einer Treppe in einem Wohngebäude, das bei einem aserbaidschanischen Angriff auf Stepanakert zerstört wurde. Um sie herum sind Trümmer.
    Nach Verkündung der Waffenruhe fragten sich viele: Wie geht es weiter mit der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach? Viele haben sich bereits in Richtung Armenien auf den Weg gemacht. (picture alliance / dpa / TASS / Oldhike)
    Die Truppen Bergkarabachs hatte gegenüber der Übermacht der aserbaidschanischen Streitkräfte nicht bestehen können. Zwar sprechen beide Seiten von „Waffenstillstand“. Doch im Grund handelt es sich um eine Kapitulation der Armee Bergkarabachs, die sich zu einer kompletten Entwaffnung verpflichten musste.

    Moskau hat "die Seiten gewechselt"

    Nach Angaben der aserbaidschanischen Regierung wurden während der eintägigen Kriegshandlungen 192 eigene Soldaten und ein Zivilist getötet. Die pro-armenische Seite meldete 213 Tote.
    Offenbar hat Russland – wie bereits 2020 – den Waffenstillstand vermittelt, so Stephan Malerius. Er leitet das Regionalprogramm Südkaukasus für die Konrad-Adenauer-Stiftung. Bisher war Russland die Schutzmacht Armeniens, seit 2020 hat es in der Region Truppen stationiert. Doch Moskau habe "die Seiten gewechselt" und sei zu einem Verbündeten Bakus geworden. Auch mit der Türkei sei das Vorgehen eng abgestimmt gewesen.

    Wie ist die Geschichte des Konfliktes um Bergkarabach?

    Die Region Bergkarabach liegt im Südkaukasus und ist etwa so groß wie das Saarland. Nach internationalem Recht gehört sie zu Aserbaidschan, ist aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt.
    1991 sagte sich der ehemalige sowjetische Oblast Bergkarabach von Aserbaidschan los und erklärte seine Unabhängigkeit unter dem Namen Republik Bergkarabach. International anerkannt war diese nie. Bis zu Beginn der jüngsten Kampfhandlungen herrschte in dem Gebiet eine autonome Regierung mit engen Beziehungen zu Armenien.
    Armenien und Aserbaidschan streiten seit Jahrzehnten um Bergkarabach. Dabei kam es mehrfach zu Kriegen und Scharmützeln zwischen den beiden Staaten, die bis zu ihrem Zerfall 1991 der Sowjetunion angehörten. Den ersten Krieg in den 90er-Jahren entschied Armenien mit Unterstützung Russlands zunächst für sich.
    Im Jahr 2020 ging eine Offensive von Aserbaidschan aus, unterstützt wurde Baku dabei von der Türkei. Nach sechs Wochen Krieg vermittelte Russland einen Waffenstillstand und stationierte Friedenstruppen in der Region. In den aktuellen Konflikt griffen diese nicht ein.
    Seit Ende 2022 eskalierte Aserbaidschan den Konflikt, indem es den einzigen Zugang aus Armenien zur Enklave, den Latschin-Korridor, blockierte. Damit wurden die Menschen in Bergkarabach von der Versorgung abgeschnitten, mit weitreichenden Folgen. Die Menschen litten Hunger, es gab kein Benzin und Medikamente fehlten. Kurz nah nach Vereinbarung der Waffenruhe Ende September 2023 öffnete Aserbaidschan den Latschin-Korridor wieder. Mit der angekündigten Selbstauflösung zu Beginn des Jahres 2024 endet ein jahrzehntelanger Konflikt um die Unabhängigkeit von Bergkarabach.

    Findet in Bergkarabach ein Genozid statt?

    Zahlreiche Beobachter und auch die armenische Regierung sprechen von einer "ethnischen Säuberung" in Bergkarabach. Im Zusammenhang mit der Blockade des Latschin-Korridors waren die Warnungen lauter geworden, in Bergkarabach drohe eine Hungersnot und damit verbunden ein Genozid an der armenischen Bevölkerung. So hatte sich etwa der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, geäußert.
    Auch Stephan Malerius von der Konrad-Adenauer-Stiftung bezeichnete das Vorgehen Aserbaidschans als "ethnische Säuberung". Die Kampfhandlungen seien die Fortsetzung des Aushungerns durch die Blockade mit militärischen Mitteln“ gewesen.
    Die Armenologin Tessa Hofmann weist darauf hin, dass Aserbaidschans Präsident Alijew bereits im Oktober 2020, während des damaligen Krieges, die Armenier Karabachs entmenschlichte, indem er sie etwa als "Hunde bezeichnete, die man vertreiben müsste".

    Welche Kulturgüter sind bedroht?

    Im Zuge eines Genozids werde aus identitätspolitischen Gründen immer auch Kulturgut der vernichteten oder vertriebenen Gruppe zerstört, warnt Hofmann. "Und davon gehe ich aus, dass es sich hier letzten Endes um einen Genozid handelt."
    Bergkarabach sei eine der ältesten christlich geprägten Regionen. Besonders Klöster und Kirchen seien bedroht. Viele der 20.000 armenischen Baudenkmäler auf dem Territorium des historischen Arzach seien bereits zerstört, teils mit Bulldozern durch die aserbaidschanische Armee.

    Was kann der Westen tun?

    Angesichts des Massenexodus der Armenier aus Bergkarabach hat die Regierung in Jerewan die internationale Gemeinschaft wiederholt aufgefordert zu reagieren. Internationale Beobachter wie der Berliner CDU-Politiker Martin Pätzold kritisieren, die Europäische Union und Deutschland hätten die Menschen dort nicht ausreichend geschützt.
    Die EU und die Vereinten Nationen hätten bereits vor Jahren versäumt, Friedenstruppen in die Region zu entsenden, sagt Pätzold, der selbst armenische Wurzeln hat. "Armenien ist eine junge Demokratie, eine sehr wertegeleitete Gesellschaft, die jetzt autokratisch angegriffen wird – und wir stellen leider fest, dass die Unterstützung da noch zu klein ist", beklagt der frühere Bundestagsabgeordnete.
    Vor dem Hintergrund von Befürchtungen, Aserbaidschan könne nun auch den Süden Armeniens angreifen, forderte Pätzold eine klare Position von Europäischer Union und Deutschland. Beide müssten deutlich machen, dass ein solches Vorgehen scharfe Sanktionen und Schritte der EU nach sich ziehen würde. Dabei müsse man sich unabhängig machen davon, dass Aserbaidschan nun ein wichtiger Gaslieferant geworden sei.
    Auch Stephan Malerius von der Konrad-Adenauer-Stiftung kritisiert vergangene diplomatische Bemühungen im Verhandlungsprozess zwischen Aserbaidschan und Armenien um Bergkarabach. Es sei in der Vergangenheit nicht gelungen, zu einem Friedensabkommen zu kommen, so Malerius. Ähnlich sei es bei der zivilen Beobachtermission der EU, die seit Februar an der armenischen Grenze von Armenien tätig war. „Die hat das Aufflammen des Konfliktes nicht verhindern können“, so Malerius.
    Die Europäische Union hatte wenige Tage nach Vereinbarung der Waffenruhe fünf Millionen Euro an humanitärer Hilfe für die Menschen in Bergkarabach und die nach Armenien Geflüchteten zugesagt.

    abr, Reuters, AFP, dpa