Seit Jahren geistert sie durch die Medien - die so genannte "Clankriminalität". „Die Clankriminalität steigt“, hieß es erst vor kurzem wieder, als die Polizei Berlin ihren "Lagebericht Clankriminalität" veröffentlichte. 872 entsprechende Straftaten wurden demnach im vergangenen Jahr registriert. Bei knapp 520.000 Straftaten insgesamt ein Anteil von weniger als 0,2 Prozent.
Anteil in der Kriminalitätsstatistik sehr gering
"Das, was Polizei und Politik unter Clankriminalität verstehen, macht – wenn man sich die statistische Erfassung anguckt – nur einen sehr, sehr, sehr geringen Teil des insgesamt erfassten Kriminalitätsaufkommens aus“, betont der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Goethe-Universität Frankfurt am Main gegenüber dem WDR.
Dennoch behandeln die Landeskriminalämter mehrerer Bundesländer den Bereich gesondert. Die Pressestelle der Polizei Berlin erklärt dieses Vorgehen in einem schriftlichen Statement: "Die Erhellung von kriminellen Strukturen und Netzwerken kann allein mit der Durchführung strafprozessualer und gefahrenabwehrrechtlicher Maßnahmen nicht erreicht werden, da es keine zentrale Bearbeitungszuständigkeit innerhalb der Polizei Berlin gab und gibt und Informationen nicht gebündelt wurden. Dies wurde mit der Einrichtung eines Zentrum für Analyse und Koordination zur Bekämpfung krimineller Strukturen beim LKA Berlin verändert."
Keine einheitliche Definition
Seit 2020 wird hier zudem das jährliche "Lagebild Clankriminalität" erstellt, das unter anderem einzelne Straftaten exemplarisch darstellt. Den so geschaffenen Fokus können Journalistinnen und Journalisten schon lange nicht mehr ignorieren. Wer nicht berichtet, muss sich vorwerfen lassen, die Augen zu verschließen.
Doch auf die Frage, was genau "Clankriminalität" eigentlich ist, würden bei der Polizei und in der Politik häufig konkrete Antworten fehlen, so Kilian Wegner, Juniorprofessor für Strafrecht an der Europa-Universität Viadrina: „Offiziell haben sich die Polizei- und Justizbehörden auf eine einheitliche Definition des Begriffs Clankriminalität geeinigt. Wenn man genau hinschaut, trügt das aber und die Länder verwenden den Begriff überhaupt nicht einheitlich.“
Normverstöße von Menschen bestimmter Herkunft
Gemein ist den meisten Definitionen, dass sie Clankriminalität mit bestimmten Herkünften verbinden – konkret mit kurdisch-, arabisch- und türkischstämmigen Tätern. Nicht etwa mit russischen oder italienischen, die im bayerischen Definitionsansatz sogar explizit ausgeklammert werden. Im jüngst veröffentlichten "Lagebild Clankriminalität" der Polizei Berlin heißt es: „Ein Clan ist eine informelle soziale Organisation, die durch ein gemeinsames Abstammungsverständnis ihrer Angehörigen bestimmt ist.“
Wissenschaftler Kilian Wegner kritisiert: "Da schwingt immer die Idee mit, Clans seien irgendwelche archaischen Gebilde aus dem Nahen Osten, die gefährlicher seien als normale organisierte Kriminalität, dafür gibt’s aber keine wissenschaftlichen Belege. Manche Behörden sagen auch ganz offen, dass sie mit dem Clanbegriff einfach alle Normverstöße von bestimmten Menschen mit einer bestimmten Herkunft sammeln wollen, also nicht nur schwere Straftaten, nicht nur bandenmäßige Begehweisen, sondern auch Verkehrsvergehen oder Ordnungswidrigkeiten.“
Besser: "familienbasierte Kriminalität"
Kilian Wegner verweist auf das Landeskriminalamt Nordrhein Westfalen, das eine Namensliste für türkisch-arabische Familien führt, deren Angehörige in der Vergangenheit im Kontext von "Clankriminalität" aufgefallen sind. Wenn jemand mit dem entsprechenden Nachnamen zum Beispiel ohne Fahrschein fährt, fließt dieses Vergehen in die Statistiken zu "Clankriminalität" – selbst wenn der Täter ansonsten nichts mit organisierter Kriminalität zu tun hat.
Mehrere Wissenschaftler fordern inzwischen diese auf Herkunft bezogene Sonderbehandlung einzustellen und auf den Begriff "Clankriminalität" ganz zu verzichten. Sie schlagen stattdessen neutralere Begriffe wie Banden- oder Netzwerkkriminalität vor. Wenn die Verwandtschaft bei der Tat eine explizite Rolle spiele, könne man ggf. von „familienbasierter Kriminalität“ sprechen. Diese gäbe es durchaus –allerdings unabhängig von der Herkunft.
Familienmitglieder in Sippenhaft - weniger pauschalisieren
Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba, der seit vielen Jahren im Milieu der arabisch-türkischen beziehungsweise kurdischen Großfamilien forscht, betont in diesem Zusammenhang: Zu einem so genannten Clan gehören oft bis zu 10.000 Menschen, von denen selbstverständlich niemals alle kriminell sind.
Durch eine pauschalisierende Berichterstattung jedoch werde dieser Eindruck geschürt. Mit Folgen gerade für diejenigen, die ein ganz normales Leben führen wollen: „Sie haben sehr Schwierigkeiten zum Beispiel eine Wohnung zu finden. Ich habe jemanden getroffen aus dem Remo-Clan und er hat mir gesagt: Guck, ich habe keine Verbindungen zu Hisa Remo, aber wegen meinem Familiennamen, ich versuche jetzt gerade seit 2 Jahren eine Wohnung zu finden, aber ohne Chance und er war in einem Verein zu einer Beratung. Er wollte seinen Familiennamen ändern wegen dieser Diskriminierungserfahrung im alltäglichen Leben.“
Mehr differenzieren
Mahmoud Jarabas Empfehlung an Medienschaffende, die sich mit dem Thema "Clankriminalität" beschäftigen: Weiter berichten - aber dabei mehr als bisher differenzieren. Durch eine bedachte Wortwahl, aber auch, indem zum Beispiel den vielen nicht-kriminellen Familienmitgliedern häufiger als bisher eine Stimme gegeben wird.