Samstag, 27. April 2024

Mythos "Clankriminalität"
Unwissenschaftlich und stigmatisierend

Der Sammelband "Generalverdacht - Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird" zeigt die Tragweite und den Furor auf, mit dem der Staat vermeintliche „Clan“-Mitglieder verfolgt.

Von Timo Stukenberg | 07.11.2023
Polizisten stehen vor einem Haus.
Die Grundannahme des Buches "Generalverdacht – Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird" lautet: "Clankriminalität" ist ein Konzept der Polizei, das der rassistischen Kriminalisierung der Betroffenen dient. (picture alliance / dpa / Roland Weihrauch)
In der Debatte um sogenannte „Clankriminalität“ geht der Blick in aller Regel in eine Richtung: durch die Augen von Polizisten, Journalistinnen und Politikern auf vermeintlich kriminelle, arabische oder kurdische Großfamilien. Der Sammelband „Generalverdacht – Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird“ dreht diesen Blick nun um.
In fünf Kapiteln analysieren die 24 Autorinnen und Autoren den Begriff „Clankriminalität“ aus vielen Perspektiven: vom Umgang der Justiz über die Rolle des Konstrukts im Deutschrap bis zu den Auswirkungen auf Sinti und Roma. Dabei arbeiten sie zunächst eine Grundannahme dieses Buches heraus. „Clankriminalität“ ist ein Konzept der Polizei, das der rassistischen Kriminalisierung der Betroffenen dient.
Die Kriminologin und Polizeiforscherin Laila Abdul-Rahman von der Universität Frankfurt am Main gibt einen Überblick über die Studienlage des vermeintlich wissenschaftlich fundierten Konzepts. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Polizeikategorie „Clankriminalität“ ohne Rassismus schlicht nicht definieren lässt: „Die dem Konstrukt zugrunde liegenden Annahmen sind entweder widerlegt oder nur unzureichend nachgewiesen. Dennoch lässt sich kaum eine größere Versachlichung der Debatte verzeichnen.“

Autoren: Von Behörden aufgeblasenes Phänomen

Stattdessen fassten Polizeibehörden in eigenen Lagebildern alles von Organisierter Kriminalität bis hin zu Parkverstößen unter den Begriff „Clankriminalität“, schreibt Abdul-Rahman. Im Ergebnis würden die Behörden das Phänomen aufblasen, obwohl die bereits vorhandenen Polizeikategorien ausreichten, um Straftaten zu bekämpfen.
Die Verfolgung von vermeintlichen „Clans“ hat in Deutschland bereits eine Tradition, wie Britta Rabe in ihrem Beitrag schreibt. Demnach arbeiteten die deutschen Behörden Anfang des Jahrtausends zum Beispiel mit Interpol-Ermittlerinnen zusammen, um Menschen hierzulande nachzuweisen, dass sie ihre Staatenlosigkeit nur vortäuschten.

"Überall in Deutschland arbeiteten Beamte an der Verfolgung von Familien"

Bei den Betroffenen handele es sich häufig um Menschen aus Palästina, dem Libanon oder der heutigen Türkei, die bereits jahrzehntelang Flucht und Vertreibung erfahren hätten. „Überall in Deutschland arbeiteten Beamte emsig an der Verfolgung ganzer Familien. Der Leiter des Bereiches Wirtschaftsdelikte der Stadt Iserlohn berichtete 2006 stolz, dass "in langwieriger Puzzle-Arbeit umfangreiche Familienstammbäume einiger Clans‘ erstellt worden seien“.
Die Autorinnen und Autoren stellen immer wieder heraus, wie vor allem der Vorwurf und selten der Nachweis von Straftaten oder gar Strukturen der Organisierten Kriminalität gelingt - und dass Politiker wie der NRW-Innenminister Herbert Reul das Konzept ganz unbeeindruckt davon weiter fördern und instrumentalisierten. Zum Beispiel, indem ein riesiges Polizeiaufgebot inklusive Politiker und Fernsehteam im Schlepptau eine Shisha-Bar stürmen. Am Ende bleiben davon meist zwei Dinge: ein Law-and-Order-Image des entsprechenden Politikers und ein als gefährlich markierter Ort, die Shisha-Bar und ihre Gäste. Deren Stigmatisierung sorgt für den titelgebenden „Generalverdacht“.

"‚Clankriminalität‘ übernimmt die Rolle des islamistischen Terrors"

Betroffen sind meist Muslime oder Menschen, die als solche gelesen werden, schreibt Mitherausgeber Mohammed Ali Chahrour. „Im sicherheitspolitischen Diskurs der Bundesrepublik übernimmt die ‚Clankriminalität‘ zunehmend die Rolle des islamistischen Terrors. Der Schwerpunkt verlagert sich, aber Musliminnen sind und bleiben unter Generalverdacht.“
Welche Rolle die Berichterstattung hierbei spielt, hat die Journalistin Elisabeth Winkler untersucht. In ihrer lesenswerten Analyse zeigt sie, wie rassistische Sprache und Verallgemeinerungen, fehlende Einordnung und unkritische Übernahme von Polizeierzählungen ebenfalls zum „Generalverdacht“ beitragen.
Die teilweise akademischen Analysen werden immer wieder unterbrochen von kurzen Einschüben, die die Perspektive der Betroffenen veranschaulichen. Dazu gehört ein offener Brief von Gewerbetreibenden aus Berlin-Neukölln aus dem März 2022. Aus Sorge vor weiteren Razzien im sogenannten Kampf gegen „Clankriminalität“ fordern sie ein Ende der einschüchternden und brutalen Polizeipraxis. „Wir haben zugesehen, wie ganze Straßen abgesperrt werden, weil eine Gewerbekontrolle in einer stattfindet. Wir haben erlebt, wie Dutzende von Polizisten bei Gewerbekontrollen kleine Läden durchsuchen, ohne die Besitzer zu informieren, warum sie da sind. Unsere Gäste sind angeschrien, mit der Waffe bedroht, und über viele Stunden festgehalten worden. Unsere Läden werden immer wieder zugemacht, ohne dass wir über die Gründe informiert werden.“

Gedächtnisprotokoll eines zwölfjährigen Mädchens nach Durchsuchung

Die Beschreibung der staatlichen Gewalt und des entmenschlichenden Umgangs deutscher Behörden ist teilweise schwer verdaulich. Sie macht aber die Tragweite und den Furor, mit dem der deutsche Staat vermeintliche „Clan“-Mitglieder verfolgt, in einer Weise deutlich, die auch weiße – und daher per Definition nicht betroffene – Leser und Leserinnen nachvollziehen können. Zum Beispiel durch das Gedächtnisprotokoll eines zwölfjährigen Mädchens nach einer Hausdurchsuchung: „Der schwere Polizist hat mit seinem Knie gegen meinen Rücken gedrückt. Es tat weh, dann habe ich es irgendwie geschafft aufzustehen und dann habe ich mit seinem Lederhandschuh eine Ohrfeige gekriegt. Der schwere Polizist packte mich daraufhin wieder auf den Boden und legte mir die Handschellen hinter meinem Rücken auf, die sehr eng befestigt wurden.“

Hinweis auf die tödlichen Folgen der "Clan"-Debatte

Die Herausgeber haben es geschafft, einen wichtigen Baustein der sicherheitspolitischen Debatte mitsamt seinen Anknüpfungspunkten an die derzeit geführte Migrationsdebatte einzufangen und nachvollziehbar zu zerlegen. Damit bündeln sie Positionen und Erkenntnisse, die auch außerhalb des Kreises teilweise aktivistischer Autorinnen geteilt werden.
Letztlich ist dieses Buch auch ein mahnender Hinweis auf die tödlichen Folgen dieser Debatte. Denn es leuchtet den Hintergrund aus, vor dem der rassistische Attentäter von Hanau als „migrantisch“ und „gefährlich“ markierte Orte für seine Taten aussuchte.
Mohammed Ali Chahrour / Levi Sauer / Lina Schmid / Jorinde Schulz / Michèle Winkler (Hg.): "Generalverdacht - Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird", Edition Nautilus, 320 Seiten, 22 Euro.