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Bernard MacLaverty: "Schnee in Amsterdam"
Am Ende die falsche Versöhnung

Bernard MacLavertys neuer Roman schildert die langsame Erosion einer Ehe. Auf einer gemeinsamen Reise nach Amsterdam sieht sich ein alterndes Paar mit den Gespenster ihrer Vergangenheit konfrontiert. Sie weisen ins Belfast der 1970er-Jahre zurück.

Von Jochen Schimmang | 05.02.2019
    Buchcover: Bernard MacLaverty: „Schnee in Amsterdam“
    Kann ein gemeinsames Wochenende die Ehe retten? Bernard MacLavertys Protagonisten reisen im Roman nach Amsterdam (Buchcover: C.H. Beck Verlag, Foto: imago/blickwinkel)
    Nach gut 20 Seiten penibel geschilderter Reisevorbereitungen erhebt sich die Maschine endlich in die Luft, und Gerry und Stella sind auf dem Weg nach Amsterdam. Sie sind seit Jahrzehnten verheiratet, jetzt beide im Ruhestand, und den Viertagesausflug mitten im Winter hat Stella ihrem Mann geschenkt. Er wird erst später herausfinden, dass sie in Amsterdam ein eigenes Programm verfolgt. Vorerst ist er damit beschäftigt, den Nachschub zu sichern, denn Gerry ist Alkoholiker und seine entsetzlichste Vorstellung ist die einer restlos leeren Whiskyflasche.
    Früher hat er sich als Architekt einen gewissen Ruf erworben, wenn auch nicht den Ruhm erlangt, von dem er vielleicht insgeheim geträumt hat. Deshalb hat der Alkohol in seinem Leben von Jahr zu Jahr eine größere Rolle gespielt. Damit verbunden ist die anstrengende Arbeit, vor seiner Frau so lange wie möglich zu verbergen, wie viel er wirklich trinkt. Eine nutzlose Anstrengung, denn Stella weiß seit langem Bescheid.
    Erosion einer Ehe
    Sie ist die Tochter eines Landarbeiters und hat später als Englischlehrerin gearbeitet, ist demnach eine Aufsteigerin. Warum sie und ihr Mann, obwohl beide Iren, nun schon lange in Glasgow leben, wird erst nach und nach klar, weil MacLaverty nicht linear erzählt, sondern die Vorgeschichte beider in wohl dosierten Rückblenden und einer gekonnten Erzählökonomie immer mehr erhellt. Mitten im Bürgerkrieg ist Stella in hochschwangerem Zustand als Unbeteiligte in Belfast von einem Heckenschützen angeschossen und schwer verletzt worden und hat noch auf der Straße liegend ein spirituelles Gelübde abgelegt, falls wenigstens ihr ungeborenes Kind überlebt. Dieser Wunsch wird erfüllt. Stella und Gerry ziehen nach Glasgow, um der Gewalt zu entkommen, und was für Gerry der Alkohol ist, wird für Stella, die praktizierende Katholikin, der Glaube.
    Beide leben also über Jahrzehnte hinweg in ihrer je eigenen Welt und entfernen sich voneinander. Gerry verschanzt sich oft unter Kopfhörern, hört Musik und versucht, möglichst unauffällig den Alkoholpegel zu halten. Die Kurzreise nach Amsterdam soll offiziell dazu dienen, ihre Ehe aufzufrischen.
    Der Alkohol und ein Gelübde
    Stella aber, die vor 30 Jahren im Rahmen eines Lehrerseminars schon einmal in Amsterdam gewesen ist, sucht hier einen Weg, ihr Belfaster Gelübde zu erfüllen. Damals hat sie vom Amsterdamer Beginenhof erfahren, der versteckt mitten in der Stadt liegt und in dem noch heute Frauen in spiritueller Gemeinschaft, aber ohne Ordensgelübde wohnen. Stella möchte in Erfahrung bringen, ob es eine Möglichkeit für sie gibt, dort zu leben. Sie schleicht sich also aus dem Hotel, während Gerry frühstückt, findet unter Mühen die unscheinbare Tür, die auf den Hof führt und spricht im Büro vor. Derweil ist Gerry verstört, weil er nicht weiß, wo sie ist, denn obwohl er und Stella schon seit Jahren nebeneinander her leben, ist Gerry es nicht gewohnt, ohne sie zu sein. Später trifft er sie zufällig in der Stadt und erfährt zum ersten Mal, was der wahre Hintergrund dieser gemeinsamen Reise ist: dass Stella ihn verlassen und im Amsterdamer Beginenhof wohnen und sinnvolle Arbeit leisten möchte, denn wie es an einer anderen Stelle des Romans heißt, sie hat zu viel Zeit ihres Lebens damit zugebracht, ihrem Mann beim Trinken zuzusehen.
    Allerdings braucht es noch einen zweiten Besuch im Beginenhof, um Näheres zu erfahren. Sie spricht diesmal mit einer der Bewohnerinnen, Kathleen aus der Republik Irland, die sie in ihr Zimmer einlädt, und erfährt schließlich, dass man, um hier einziehen zu können, drei Voraussetzungen erfüllen muss: Man muss es sich leisten können, man muss allein leben und man muss zum Zeitpunkt des Einzugs zwischen 30 und 65 Jahre alt sein. Stella begreift sofort, dass sie zu spät kommt, dass ihr Traum geplatzt ist, weil sie zu lange gewartet hat.
    Bis hierhin spinnt MacLaverty ein sehr feines erzählerisches Netz, lässt nach und nach die Zusammenhänge immer deutlicher werden, hat ein ungeheuer präzises Gespür fürs Detail und wird beiden Perspektiven, aus denen er abwechselnd erzählt, in gleichem Maße gerecht. Der auch mit diesem Autor erfahrene Hans-Christian Oeser, selbst seit Jahrzehnten in Irland lebend, bringt dieses erzählerische Können adäquat ins Deutsche.
    Eine falsche Versöhnung
    Auf den letzten Seiten allerdings stürzt der Roman dann ins Unglaubwürdige ab. Der Rückflug wird angetreten, und noch beim Einchecken wiederholt Stella, dass sie sich von Gerry trennen will, auch wenn der Amsterdamer Traum sich zerschlagen hat. Weil plötzlich viel Schnee in Amsterdam fällt, können keine Maschinen mehr starten, die Flughafenhalle und die Terminals füllen sich mit immer mehr Wartenden, man übernachtet notdürftig auf Stühlen und Bänken. Gerry zieht los, um zu trinken, man verliert sich aus den Augen, findet sich aber wieder.
    So weit, so gut, auch das wird wieder mit diesem präzisen Sinn für die gelähmte Atmosphäre und fürs Detail erzählt. Dann aber, während in der Morgendämmerung erste Anzeichen darauf hindeuten, dass es bald weitergehen kann, legt Gerry ein Gelübde ab, ab sofort mit dem Trinken aufzuhören, und Stella will sich darauf einlassen, weil er eigentlich ein, so wörtlich, "gütiger und talentierter Mann" sei, der eben nur ein Problem habe. Und Gerry, das ist der letzte Satz, empfindet es als "ein Wunder, an ihrer Seite durchs Leben zu gehen." Die leise Skepsis, die diese letzten Szenen begleitet, reicht nicht aus, um das Unglaubwürdige dieser falschen Versöhnung zu verbergen. Wer als Leser bis hierhin gefolgt ist, wird sie dem Autor nicht abnehmen und den angebotenen Trost nicht annehmen.
    Bernard MacLaverty: "Schnee in Amsterdam"
    aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
    C. H. Beck Verlag, München. 287 Seiten, 22 Euro.