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Betriebssystem der USA braucht Update

Wie wird die Zukunft der Vereinigten Staaten aussehen? Der Wiener Politikwissenschaftler Anton Pelinka meint, dass der Niedergang noch auf sich warten lassen wird. Dagegen sieht der renommierte Umweltrechtler James Gustave Speth die USA auf dem absteigenden Ast.

Von Günter Kaindlstorfer | 28.10.2013
    In den USA liegt vieles im Argen – vom alarmierenden Zustand der Staatsfinanzen bis zu den Lebensbedingungen der ghettoisierten Unterschichten in den Slums von Baltimore oder Detroit. Dennoch besteht für Europäer kein Grund, mit kopfschüttelnder Überheblichkeit über den Atlantik zu blicken – meint zumindest Anton Pelinka. Denn, so lautet die zentrale These des österreichischen Politikwissenschaftlers: Wir sind "den Amerikanern" um vieles ähnlicher, als wir uns einbilden mögen.

    "Ich gehe ja davon aus, dass die USA und die Welt einander immer ähnlicher werden, im Zusammenhang mit der Globalisierung. Und natürlich haben die USA vielfach Vorsprünge, die sie noch vor einigen Jahrzehnten gehabt haben, eingebüßt: Im Pro-Kopf-Einkommen und in bestimmten Formen des Lebensstandards sind die USA heute nicht mehr der Trendsetter. Das heißt, die USA dominieren weniger, aber sie sind dem Rest der Welt damit gleichzeitig ähnlicher. Aber das würde ich nicht als Niedergang, sondern im höheren Sinn als Erfolg Amerikas sehen."

    Die Nachwehen der Shutdown-Krise und den Prozess der galoppierenden Deindustrialisierung werde die US-amerikanische Gesellschaft ebenso meistern wie sie die Depression der 1930er-Jahre gemeistert habe, da ist sich Anton Pelinka sicher. Schließlich stünde das mythenumrankte Wort "Amerika" immer noch für Spitzenleistungen in Wissenschaft und Technik.

    Auch der Lifestyle, der an der Südspitze Manhattans und an den Stränden Kaliforniens gepflegt wird, setzt immer noch Maßstäbe für den Rest der Welt. Pelinkas Optimismus nährt sich nicht zuletzt von der Mentalität der amerikanischen Menschen, die trotz aller "troubles" immer noch von jenem schwungvollen Optimismus geprägt ist, den man früher an der Musik Glenn Millers oder der Beach Boys geschätzt hat.

    Trotzdem, wer heute die USA bereist, stellt fest: Das Land hat schon bessere Zeiten gesehen. Straßen, Brücken und Dämme verrotten, das öffentliche Schulwesen, vor allem in ärmeren Distrikten, ist katastrophal unterdotiert.

    "Das ist natürlich ein Kritikpunkt. Der wird zu Recht erhoben. Die USA sind ja nicht perfekt. Da gibt es Fehler, da gibt es falsche Entwicklungen. Gerade die Vernachlässigung des öffentlichen Verkehrs ist etwas, was einem ins Auge sticht. Das Land, das vor hundert Jahren das Pionierland des Eisenbahnverkehrs war, hat aus bestimmten Gründen faktisch den Anschluss völlig verloren. Wenn Sie an die Schnellzugsverbindung von Shanghai nach Peking denken: Das sollten die USA einmal nachmachen können."

    Anton Pelinka verknüpft in seinem Buch persönliche Eindrücke aus den USA mit einer profunden Analyse der Höhenflüge und Malaisen der amerikanischen Gesellschaft. Das Parteiensystem der USA habe sich in den letzten Jahren ebenso verändert wie das europäische, diagnostiziert Pelinka.

    "Als ich in den 70er-Jahren Politikwissenschaft zu unterrichten begonnen habe, galt noch folgende Lehrbuch-Weisheit: Die amerikanischen Parteien sind weitgehend ideologiefreie, pragmatische Allerweltsparteien, während die europäischen Parteien Weltanschauungs- und Klassenparteien sind. Wo sind die Weltanschauungs- und Klassenparteien Europas heute geblieben? Man könnte sogar im Gegenzug feststellen, dass die Polarisierung zwischen den amerikanischen Großparteien heute größer ist als zwischen SPD und CDU."

    Speth träumt von einem europäisierten Amerika
    Der Rechtsruck der Republikaner, der unter dem Einfluss der "Tea-Party" immer irrationalere Züge annimmt, dieser Rechtsruck erfüllt Pelinka allerdings mit Sorge. Gut möglich, dass die fundamentalistische Rechte das Land an den Rand der Unregierbarkeit manövriert, meint Pelinka. Eine Befürchtung, die James Gustave Speth durchaus teilt. Der ehemalige Umweltberater von Jimmy Carter, ein renommierter Jurist, zeichnet in seinem Buch ein wesentlich düstereres Bild der US-amerikanischen Wirklichkeit:

    Mit unserem politisch-ökonomischen System stimmt etwas insgesamt nicht, mit dem Betriebssystem, mit dem unser Land läuft. Dieses System produziert regelmäßig fürchterlich schlechte Ergebnisse und lässt uns in sozialer, wirtschaftlicher, ökologischer und politischer Hinsicht im Stich.

    Penibel listet Speth in seinem "Manifest für ein neues Amerika" auf, was in seinen Augen alles nicht stimmt im "alten", also gegenwärtigen Amerika. Im Vergleich mit den anderen 33 OECD-Ländern haben die USA die größte Einkommensungleichheit, die höchste Armutsquote, die geringste soziale Mobilität, die höchsten Ausgaben für das Gesundheitswesen, bei gleichzeitigen Höchstraten in Sachen Säuglingssterblichkeit und Fettleibigkeit und die höchsten Militärausgaben.

    Anders als Anton Pelinka, ein pragmatischer Analytiker der amerikanischen Gegenwart, will James Gustave Speth mit seinem Buch überzeugen, aufrütteln, missionieren. Der 71-jährige Umweltjurist träumt von einem fundamentalen Systemwandel, der die USA lebenswerter, ökologischer und sozialer machen soll.

    Mit anderen Worten: Speth träumt von einem europäisierten Amerika. Konkret fordert der renommierte Umwelt-Ethiker höhere Staatseinnahmen, ein öffentliches Gesundheitssystem nach europäischem Muster, eine gezielte Bremsung des exzessiven Konsumverhaltens, strengere Energiespar- und Klimaschutzmaßnahmen, ein rigideres Waffengesetz und die Senkung der exorbitanten Militärausgaben.

    Vieles von dem, was James Gustave Speth in seinem "Manifest" vorschlägt, klingt aus heutiger Sicht utopisch. Allerdings: Der Mann ist kein Sektierer, Speths Analysen kommen profund, seine Lösungsansätze wohlbegründet daher. Eine andere Welt ist möglich, glaubt Speth: sofern sie von engagierten Menschen in großer Zahl für möglich gehalten wird.

    Was auch immer aus der Tea-Party werden mag, sie hat zumindest gezeigt, dass es möglich ist, sich in einem erstaunlichen Tempo vom Protest zu einer Bewegung und schließlich einer politischen Kraft zu entwickeln. Die Progressiven, die ich kenne, hoffen, dass die Occupy-, Gewerkschafts-, Klima- und anderen Bewegungen helfen werden, den Funken einer neuen, breiter angelegten Bewegung in Amerika zu zünden.

    Ob und wie dieser Funke zünden wird, hängt nicht zuletzt von den finanzpolitischen Entscheidungen ab, die die Verantwortlichen in Washington in nächster Zeit treffen werden. James Gustave Speth hält einen Crash des Systems für unausweichlich: Erst muss das Alte sterben, bevor Neues entstehen kann. Man weiß nicht so recht, ob man dem Umwelt-Ethiker aus Vermont da folgen möchte. Es war nicht das globale Shangri-La der Freien und Gleichen, das die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre befördert hat, es waren ganz, ganz andere Entwicklungen. Wir haben keine Garantie, dass es diesmal anders laufen könnte.

    Anton Pelinka: "Wir sind alle Amerikaner. Der abgesagte Niedergang der USA"
    Braumüller Verlag (Lesethek), 200 Seiten, 22,90 Euro, ISBN: 978-3-991-00099-0

    James Gustave Speth: "Der Wandel ist machbar. Manifest für ein neues Amerika"
    Oekom Verlag, 256 Seiten, 19,95 Euro, ISBN: 978-3-865-81438-8