Dienstag, 19. März 2024

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Bewertung der Coronalage
Medizinstatistiker begrüßt Forderungen der Krankenhausgesellschaft

Der Medizinstatistiker Gerd Antes lobt die Forderung der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) nach einem Indikatoren-Mix zur Einschätzung der Pandemielage. Wir könnten dem "in Riesenschritten näherkommen", sagte er im Dlf. Er habe aber nicht das Gefühl, dass die Politik ernsthaft daran interessiert sei.

Gerd Antes im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 31.07.2021
Deutsche Krankenhausgesellschaft, Schild
Die Forderungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) machten ihm Hoffnung, sagte der Medizinstatistiker Gerd Antes im Dlf (imago / Steinach)
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) fordert einen Wandel in der Bewertung der Pandemielage. Der bisherige Leitwert, die Sieben-Tages-Inzidenz, sollte nur noch einer von insgesamt zwölf Indikatoren sein. Den Krankenhausvertretern schwebt eine Matrix vor, die, differenziert nach Alter, Kennzahlen zur Infektionslage, zu den Testungen, zur Impfsituation und zur Auslastung der Krankenhäuser kombiniert.
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Zuletzt hatten sich mehrere Politiker gegen die Inzidenz als Hauptrichtwert ausgesprochen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) verwies insbesondere auf die mittlerweile hohe Impfquote. Eine höhere Inzidenz führe dann nicht so schnell zu einer Überlastung des Gesundheitssystems. Das Robert-Koch-Institut (RKI) will aber weitgehend an der Inzidenz als Richtwert für Corona-Maßnahmen festhalten.

"Wieso sind die Forderungen nicht glasklar auf dem Tisch?"

Der Medizinstatistiker Gerd Antes begrüßt den Vorschlag der DKG. Zusätzliche Kennzahlen müssten endlich erschlossen und kompetent ausgewertet werden. Das Robert-Koch-Institut sitze auf Zahlen, obwohl es vor einer Woche das Gegenteil behauptet habe. Das sei "extrem peinlich", sagte Antes im Deutschlandfunk. Auch die Gesundheitsämter sitzen auf Daten, die sie bislang nicht weitergeben, weil die gesetzliche Vorgabe fehle. Zudem müssten weitere Werte aggregiert werden, was sehr leicht möglich wäre.
Antes äußerte Bedenken an der Bereitschaft der Politik, den Forderungen der DKG nachzukommen. Er bezweifle, "dass Landesministerpräsidenten und das Bundeskanzleramt ernsthaft daran interessiert sind". Als Grund nannte Antes Interessenskonflikte und derzeit als größten Störfaktor die anstehende Bundestagswahl.
Das Interview im Wortlaut:
Zurheide: Herr Antes, zunächst einmal ein anderer Punkt: In der politischen Debatte wird ja oft gesagt, auch gerade von Herrn Laschet, dem Kanzlerkandidaten der CDU, das Gleichsetzen von Impfen und Testen, das sei eigentlich einer der Schlüssel zur Bekämpfung der Pandemie. Hat er recht?
Antes: Nein, im Gegenteil, nicht mal ansatzweise. Also, wenn eine Erfolgsstory zu vermelden ist aus dem letzten Jahr, dann ist es das Impfen, aber das Testen selbst ist dermaßen unkontrolliert und auch nicht begriffen, dass wir heute nicht mal ansatzweise wissen, wie die Eigenschaft von diesen Tests eigentlich ist. Man kann auch nicht von den Tests sprechen, sondern wir haben gegenwärtig 545 zugelassene Tests – wobei auch der Begriff "zugelassen" eher sarkastisch zu benutzen ist –, dass diese Gleichsetzung ein völliger Fehlgriff ist.

"Gleichsetzung von Testen und Impfen ist ein völliger Fehlgriff"

Zurheide: Auf der anderen Seite sagen Sie jetzt auch nicht, die, die nicht geimpft sind, sollen sich gar nicht mehr testen, das ist auch nicht die Konsequenz. Was schlussfolgern Sie aus dem, was Sie gerade sagen?
Antes: Einmal, dass wir morgen die Studie machen, um zu sehen, wie diese Tests unter Realbedingungen eigentlich funktionieren. Die übersehen teilweise jeden zweiten Infizierten, das heißt, der läuft danach, in Anführungszeichen, "freigetestet" durch die Gegend und steckt andere Menschen an. Und zweitens, natürlich überhaupt erst mal anfangen, systematisch darüber nachzudenken, und zwar nicht morgen, sondern heute. Der gegenwärtige Zustand, jetzt zu glauben, dass uns die Testerei den Rücken freihält, der wird uns ganz schwer auf die Füße fallen im Herbst.
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Wegkommen von der Sieben-Tage-Inzidenz als Leitwert

Zurheide: Jetzt habe ich gerade schon zitiert, die Deutschen Krankenhausgesellschaft sagte ziemlich drastisch heute Morgen, wir brauchen einen völlig anderen Mix an Zahlen, und vor allen Dingen gibt es den ersten Hinweis, das RKI sitze auf Zahlen, aber mixe sie nicht richtig zu. Sitzt das RKI auf Zahlen, die Sie zum Beispiel auch gerne hätten?
Antes: Ja, sicher. Einmal sitzt es jetzt schon drauf, dann sitzen viele Zahlen in den Gesundheitsämtern und werden nicht gemeldet, weil es nicht im Gesetz steht, dass sie gemeldet werden müssen. Und dann gibt es noch einen dritten großen Haufen, das sind die Zahlen, die wir brauchen und die wir erst generieren müssen, was aber auch sehr leicht möglich wäre. Also diese drei Töpfe zu erschließen und damit wegzukommen von dieser einen Zahl der Sieben-Tage-Inzidenz, ist das, was morgen passieren muss. Ich hab die Nachricht heute Morgen auch gehört, das war perfekt formuliert von der Deutschen Krankenhausgesellschaft und ist natürlich extrem peinlich fürs RKI, da sie genau diese Woche das Gegenteil behauptet hat.

"Gegenwärtig der größte Störfaktor: die Wahl"

Zurheide: Herr Antes, auch wir beide haben hier über dieses Thema schon geredet, und ich bin immer wieder einigermaßen sprachlos. Wenn die Dinge doch so auf dem Tisch liegen – ich kann Sie jetzt kaum fragen, weil Sie haben zu den Warnern immer wieder gehört –, wie ist es zu erklären, dass wir bis heute auch wieder quasi kurz vor Ende der Ferien darüber nachdenken, was passiert, wenn die Menschen zurückkommen, was ja evident ist. Ich weiß, ich hab vor einem Jahr ein Interview mit Herrn Spahn hier genau kurz vor Ende der Ferien geführt, wo wir auch einigermaßen erstaunt waren, dass nichts passiert ist. Wir stehen wieder da. Begreifen Sie das noch?
Antes: Ich bin natürlich genauso sprachlos wie Sie, aber ich versuch’s trotzdem. Die Ministerpräsidenten, die befinden sich permanent und wirklich chronisch im Bereich ihrer eigenen Inkompetenz, aber das wird nicht begriffen, und dann gibt’s Unterstützung auch aus meiner eigenen Fachwelt: Wieso sind die Forderungen, wie wir sie jetzt in der Sekunde gerade besprechen, nicht glasklar auf dem Tisch – von einigen sind sie es –, die Forderungen nach Stufenplänen, lange voraus darüber nachzudenken, in welche Lage wir kommen können, alles das ist konsequent vermieden worden. Aber auch diesen Satz, den ich jetzt gerade sage, habe ich vor einem Jahr genauso gesagt, und deswegen muss ich sagen, letztlich hab ich eigentlich keine Erklärung. Eine Erklärung, die immer eine Rolle spielt, sind Interessenkonflikte und Fremdinteressen, und das ist gegenwärtig der größte Störfaktor: die Wahl.

Wir brauchen "eine Matrix, wo diese Werte eingehen"

Zurheide: Ziehen wir einen Strich jetzt und sagen noch mal, positiv formuliert, welchen Mix an Zahlen brauchen wir, damit wir wirklich valide sagen können, da müssen wir als Bevölkerung uns schützen – durch die Regierung angezeigt, aber eben auch durch Eigenverantwortung möglicherweise umgesetzt: Was brauchten wir?
Antes: Wir brauchen natürlich auf der einen Seite weiterhin die Fallzahlen, das heißt jetzt nicht, dass man die völlig außer Acht lassen kann, aber dann muss extrem berücksichtigt werden das Alter – wir haben ja keinen größeren Risikofaktor als das Alter. Dann muss da rein die Impfquote, aber auch wieder die Impfquote in den Altersgruppen, die Hospitalisierung, wie viele von denen, die ins Krankenhaus gehen, müssen auf die Intensivstation, wieder nach Alter. Und wenn Sie das Spektrum haben, dann haben Sie das, was die Deutsche Krankenhausgesellschaft heute Morgen als Matrix bezeichnet hat, das heißt eine Matrix, wo diese Werte eingehen. Und dann müssen die dann aber auch noch verantwortlich im Sinne von einer hochwertigen wissenschaftlichen Auswertung mehr oder weniger zeitnah in der gleichen Sekunde wissen, was es bedeutet. Und von allen diesen einzelnen Aspekten sind wir leider sehr weit entfernt, aber wir können dem morgen in Riesenschritten näherkommen, wenn wir es richtig machen würden. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass gerade die Landesministerpräsidenten und das Bundeskanzleramt ernsthaft daran interessiert sind, das muss ich so bösartig sagen.

Sogenannte Pendler-Studie kommt erst im Winter

Zurheide: Die entscheidende Frage ist ja auch, was ziehen wir dann daraus? Wir ziehen dann vermutlich daraus sehr regional unterschiedliche Ergebnisse. Das müsste die Öffentlichkeit und die Politik doch auch irgendwann mal verstehen. Das heißt, man hat eine einheitliche Zahlenbasis, aber man wird dann regional unterschiedlich damit umgehen müssen, oder?
Antes: Ja, man wird regional unterschiedlich damit umgehen müssen, zum Beispiel fragen Sie sich mal, wie viel Busfahrer in der Hochrisikozeit infiziert waren. Ich hab jetzt noch mal nachgefragt: Da gab’s dann eine vollmundige sogenannte Pendler-Studie, weil das Problem auf jeden Fall wiederkommt – Homeoffice, pendeln, Nahverkehr. Und dann hab ich diese Woche die Mitteilung bekommen von der Pressestelle, nachdem das mit sehr viel Lautstärke von den Pressestellen der Landesministerien herausgebracht wurde, dass die Forschungsorganisation, die es gemacht hat, eine Unterorganisation der Charité, nach eigenen Erfahrungen davon ausgeht, ich lese hier gerade vor, dass die "Studie frühestens im Winter in einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht wird". Ich meine, das ist der blanke Wahnsinn, wenn man sich das mal auf der Zunge zergehen lässt, dass eine Studie, mehr oder weniger die einzige Studie, die es versucht hat, dort Klarheit zu bringen, dass diese Studie jetzt im Winter frühestens publiziert wird. Dafür hab ich keine Worte von Verständnis mehr.
Zurheide: Und dann haben wir auf der anderen Seite Ereignisse, wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen wird die Stufe 3 bei der Warnung ausgesetzt, weil man vermutet, dass im Moment der Maßstab sich verändert, aber man hat noch nicht den veränderten Maßstab. Also, was sagt das über politisches Handeln aus?
Antes: Na ja, das hab ich letztes Jahr – das war ja auch ein Begriff, der dann sehr schnell die Runde machte – als Blindflug bezeichnet. Wenn ich irgendwie den Kompass aufstelle und nicht mal weiß, wo ich bin, dann würde ich doch als Notmaßnahme erst mal den Kompass angeschaltet lassen. Und das ist wieder ein Zeichen von Hilflosigkeit und aber auch ein Zeichen von einfach den Kopf ausschalten. Entschuldigung, dass ich es so hart formuliere, aber man kann es nicht anders sagen.

Faktor Impfen wird im Herbst den größten Einfluss haben

Zurheide: Gehen wir noch mal positiv ran: Was sagen Sie den Menschen denn heute Morgen, also wenn die Politik offensichtlich die Maßstäblichkeit nicht liefert, müssen wir als Menschen eigene Entscheidungen treffen. Wie verhalten Sie sich in diesen Tagen? Ich unterstelle, Sie sind geimpft.
Antes: Ja, erstens bin ich geimpft, und mein erster Satz wäre: Bist du geimpft, wenn nicht, gehe bitte zum Impfen. Das ist völlig klar, und das ist auch der Faktor, der uns nicht retten wird, aber der den größten Einfluss haben wird im Herbst. Dann verhalte dich sinnvoll, und zwar nicht im Sinne der Vorschriften – wenn du denen folgst, dann kannst du ja nur konfus werden –, sondern behalte die Regeln bei. Denke nicht, dass jetzt das Problem für dich gelöst ist, sondern bleibe dabei und denk drüber nach, was du tust. Alle diese Dinge, die empfehle ich, auch meinen Freunden, und damit hab ich auch meistens mit denen Konsens. Aber die Konfusionen oder auch die völlige Irritation in der Bevölkerung, die ist schon mehr als bedenklich. Ja, dann sag ich denen, was ich Ihnen jetzt auch gerade gesagt habe. Aber wie kommt man da raus? Also, ich hab nicht das Patentrezept. Dass jetzt die Krankenhausgesellschaft, zum Beispiel, als einer der großen Faktoren in dem Geschehen, so klar Stellung bezogen hat, das gibt mir Hoffnung, dass jetzt die Dinge, die ja etliche Leute, mich eingeschlossen, seit einem Jahr fordern, doch vielleicht in die Realität umgesetzt werden, aber versprechen würde ich es nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.