Pflicht, Aufklärung, Anreize
Wie man die Impfquote erhöhen kann

Eine Impfpflicht soll es in Deutschland nicht geben, diskutiert wird aber, ob geimpfte Menschen schneller und mehr Freiheiten bekommen sollten als andere. Mit welchen weiteren Mitteln ließe sich die Impfquote erhöhen? Und wäre eine Impfpflicht überhaupt verfassungsrechtlich durchsetzbar? Ein Überblick.

    Injektionsnadeln und Ampullen mit Impfstoff liegen auf einem Tisch.
    Die Infektionszahlen steigen wieder, die Zahl der verabreichten Impfdosen hingegen sinkt – wie lässt sich diese Entwicklung umkehren? (picture alliance / Waldemar Thaut)
    Die Bundesregierung hat einer Impfpflicht in Deutschland eine Absage erteilt – und setzt dagegen auf Einsicht: Das beste Argument für eine Covid-19-Impfung sei immer noch der Schutz vor der Erkrankung, betonen beispielsweise Gesundheitsminister Jens Spahn und Regierungssprecher Steffen Seibert. Dennoch ist in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eine Debatte darüber entstanden, mit welchen Mitteln die Impfquote erhöht werden kann.
    Im Gespräch sind verschiedene Vorschläge und Wege, dies zu erreichen:
    • generelle Impfpflicht
    • Bußgelder für nicht wahrgenommene Impftermine
    • Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen
    • mehr Aufklärung und niederschwellige Impfangebote im Alltag beispielsweise in Cafés oder an öffentlichen Plätzen
    • Impfanreize wie beispielsweise Prämien oder Belohnungen
    • Indirekte Impfanreize durch die Beseitigung aller Corona-Auflagen für vollständig Geimpfte
    Ist eine generelle Impfpflicht in Deutschland verfassungsrechtlich umsetzbar?
    Die Bundesregierung lehnt eine Impfpflicht im Hinblick auf Corona strikt ab. Dahinter steckt auch die Einschätzung, eine Impfpflicht juristisch nicht durchsetzen zu können, weil diese einen Eingriff in persönliche Rechte darstelle: "Je weniger angespannt die Lage im Gesundheitssystem ist, desto weniger wird ein Zwang akzeptiert", heißt es dazu in der Regierung.
    Auch der Medizinrechtler Alexander Ehlers sieht eine generelle Impfpflicht verfassungsrechtlich sehr kritisch. Für gänzlich ausgeschlossen hält Ehlers sie aber nicht: Wenn sich die Situation dramatisch zuspitze, die Inzidenz steige und die Krankenhäuser überlastet seien, könne eine solche Maßnahme legitim sein, sagte er im Deutschlandfunk.
    Interview Alexander Ehlers, Medizinrechtler, zur Test- und Impfpflicht (29. Juli 2021)
    Der FDP-Bundestagsabgeordnete und Professor für Infektiologie Andrew Ullmann bezeichnete eine Impfpflicht im Deutschlandfunk als den "sicherlich falschen Weg". Er plädierte dafür, die Menschen vielmehr vom Sinn einer Corona-Impfung zu überzeugen.
    Der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie Carsten Watzl betonte, es sei richtig, dass die Entscheidung der Impfung eine persönliche Entscheidung sei und auch sein müsse. Er halte nichts von einem Impfzwang. Er plädierte für eine bessere Aufklärung: Als Immunologe und Wissenschaftler sei er davon überzeugt, dass die Impfung um ein Vielfaches sicherer sei, als sich dem Risiko der Infektion auszusetzen, und er versuche dies mit Informationen und Fakten zu vermitteln.
    Palästina: Hände in Handschuhen beim Aufziehen einer Corona-Impfdosis Sputnik V
    Immunologe Watzl - "Es gibt eigentlich keinen Grund, sich nicht impfen zu lassen"
    Der Immunologe Carsten Watzl plädiert nicht für eine allgemeine Impfflicht, warnt aber: Wer sich gegen eine Impfung entscheide, entscheide sich dafür, früher oder später an Corona zu erkranken.
    Strafen bei Versäumnissen oder Absagen von Impfterminen sind nach Einschätzung einiger Gesundheitsexperten wenig zielführend. Bußgelder seien eher abschreckend, Zwang führe häufig zu Widerstand.
    Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen
    Zunehmend wird darüber diskutiert, wie Infektionen bei Minderjährigen und eine Virus-Weitergabe in ihren Familien eingedämmt werden können. In diesem Zusammenhang wird die Forderung nach einer Impfpflicht für das Personal in Kitas und Schulen erhoben.
    Hintergrund der Debatte: Für Kinder bis zwölf gibt es keinen zugelassenen Impfstoff. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt derzeit nur für ältere Kinder und Jugendliche eine Impfung, wenn sie etwa bestimmte Vorerkrankungen oder gefährdete Personen im Umfeld haben, die sich selbst nicht schützen können.
    Ebenfalls diskutiert wird eine Impfpflicht für Mediziner und Pflegepersonal. Dazu sagte der Medizinrechtler Alexander Ehlers, es sei denkbar, bestimmte Berufsgruppen wie medizinisches Personal oder Lehrer zu einer Impfung zu verpflichten. Unternehmen in den USA wie Facebook oder Uber haben eine Impflicht eingeführt.
    Zwang könne und dürfe nicht die Lösung sein, sagte hingegen Grit Genster, Leiterin des Bereichs Gesundheitspolitik bei der Gewerkschaft Verdi. Diese lehnt eine Impflicht für bestimmte Berufsgruppen ab. Die Impfbereitschaft beim Gesundheitspersonal und bei Kita-Beschäftigten sei überdurchschnittlich hoch – im Gesundheitswesen geht Verdi von einer Impfquote von 90 Prozent aus, so Genster. "Eine Impfpflicht würde viel Vertrauen kaputt machen und kontraproduktiv wirken." Arbeitsgeber dürften den Impfstatus ihrer Beschäftigten auch nicht abfragen und sie auch nicht benachteiligen, wenn diese eine Schutzimpfung ablehnten, sagte die Verdi-Gesundheitsexpertin. Grund sei das Maßregelungsverbot bei einer nicht bestehenden Impfverpflichtung.
    Interview mit Grit Genster, Gesundheitsexpertin der Gewerkschaft Verdi (11.08.2021)
    Direkte oder indirekte Impfanreize
    Politiker wie Außenminister Heiko Maas (SPD), Hamburgs CDU-Chef Christoph Ploß oder Mediziner wie Kassenärzte-Präsident Andreas Gassen sprachen sich für direkte oder indirekte Impfanreize aus – etwa dadurch, dass man für vollständig Geimpfte alle Corona-Auflagen beseitigt. Der Medizinethiker Alexander Ehlers sagte, es sei weiterhin die Entscheidung eines jeden Einzelnen, ob er oder sie sich impfen lassen wolle. Das habe dann aber Konsequenzen. Wenn Zugänge oder Möglichkeiten für Ungeimpfte im öffentlichen Raum eingeschränkt seien, Tests kostenpflichtig werden oder eine Quarantäne verhängt werde, sei das eine Motivation, sich impfen zu lassen. Ehlers betonte, es gehe dabei nicht um Privilegien für Geimpfte, sondern um deren Freiheitsrechte.

    Keine kostenlosen Corona-Tests mehr

    Auf ein Ende der kostenlosen Corona-Tests verständigten sich Bund und Länder am 10. August 2021. Vom 11. Oktober an muss jeder, der nicht geimpft ist, seinen Schnelltest selbst bezahlen, wenn er am öffentlichen Leben teilnehmen will. Zudem wurde beschlossen, dass Ungeimpfte ab dem 23. August für Veranstaltungen in Innenräumen einen negativen Corona-Test vorlegen müssen. Ausgenommen von der Regelung sind Kinder bis zum sechsten Lebensjahr und Schüler.
    Diagnostika-Verband zu künftigem Bedarf an Coronatests
    Der Chef des Diagnostika-Verbands Martin Walger rechnet damit, dass der Bedarf an Coronatests insgesamt weiter hoch bleibt. Zudem sei zu erwarten, dass sich das Hauptgeschäft der Labordiagnostik –Vorsorgeuntersuchungen, wieder normalisiere, sagte er im Dlf.
    Die Reaktionen auf das Ende der kostenlosen sogenannten "Bürgertests" sind gemischt: Von einer Impfpflicht durch die Hintertür könne nicht die Rede sein, sagte Alena Buyx, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats. Sie hält die Entscheidung für folgerichtig und nachvollziehbar. Auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund begrüßte die Entscheidung. Kritik kommt von der Opposition. FDP-Chef Christian Lindner sagte in Berlin, er halte diesen Schritt für verfrüht. Linken-Vorsitzende Hennig-Welsow erklärte in Berlin, es sei falsch, dass jetzt bewährte Maßnahmen wie kostenlose Tests in Frage gestellt würden. Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel meinte, dass auf diese Weise der Druck auf Ungeimpfte erhöht werde. Der Gesundheitsexperte der Grünen im Bundestag, Janosch Dahmen, wies darauf hin, dass mit dem Wegfall kostenloser Tests ein systematischer Überblick über das Infektionsgeschehen aufgegeben werde.
    Nudging: eine Bratwurst zur Belohnung
    Der Verhaltens- und Gesundheitsexperte Mathias Krisam plädierte im Deutschlandfunk dafür, kleine Anreize fürs Impfen zu setzen. Aus psychologischer Sicht gebe es vier Möglichkeiten, Menschen zu einem gewünschten Verhalten zu bringen:
    1. Informationen zum Thema bieten und Aufmerksamkeit dafür schaffen
    2. Anreize setzen und gewünschtes Verhalten attraktiv und einfach machen
    3. Steuern
    4. Gesetze, Pflichten und Verbote
    Gerade in gesundheitlichen Aspekten aber wollten Menschen die freie Wahl haben, sagte Krisam. Auf der anderen Seite "sind wir nicht der homo oeconomicus, der seine Entscheidung nur rational trifft". Daher sei das Anreize setzen hier von Vorteil. Er sprach sich im Dlf für das sogenannte "Nudging" aus: kleine, aber nicht entscheidungsrelevante ökonomische Anreize. Beispielsweise sei "die Bratwurst, die man bekommt, wenn man sich impfen lässt, kein entscheidungsrelevanter ökonomischer Anreiz, aber ein geringer Anreiz. Eine 100-Euro-Prämie wäre kein Nudging mehr."
    Die Entscheidung für eine Impfung müsse für die Menschen attraktiv und so einfach wie möglich werden, ohne dass negative gesellschaftliche oder ökonomische Konsequenzen drohten, so Krisam, der auch eine Agentur leitet, die unter anderem Krankenversicherungen in Sachen Nudging berät.
    Interview Mathias Krisam, Arzt und Sozialwissenschaftler, zum Nudging in der Pandemie (8. August 2021)

    Mehr zum Thema Coronavirus und Corona-Impfung


    Wie ist der Stand der Impfungen in Deutschland?
    In Deutschland ist inzwischen über die Hälfte der Bevölkerung vollständig geimpft, weitere rund zehn Prozent haben ihre erste Impfung erhalten. (Stand 03.8.2021)
    Das heißt allerdings im Umkehrschluss: Immer noch haben rund 40 Prozent der Deutschen keinen Impftermin wahrgenommen oder sind zu Impfungen nicht zugelassen wie Kinder unter zwölf Jahren. Für die sogenannte Herdenimmunität ist das nicht ausreichend: Das Robert Koch-Institut (RKI) hält es angesichts der zunehmenden Verbreitung der hochansteckenden Delta-Variante inzwischen für nötig, dass mindestens 85 Prozent der 12- bis 59-Jährigen und 90 Prozent der über 60-Jährigen den vollen Impfschutz bekommen. Dafür sei es entscheidend, dass die noch Ungeimpften motiviert werden, sich noch im Sommer impfen zu lassen.
    Zuletzt hatte die Zahl der nicht wahrgenommenen Impftermine Sorgen geschürt, die Impfbereitschaft könnte abnehmen. Dass mit dem Fortschritt der Kampagne die Zahl der täglichen Impfungen ab einem gewissen Zeitpunkt wieder abnimmt, ist aber genauso auch in Ländern wie Großbritannien zu beobachten.
    Das RKI sieht die Impfbereitschaft der Bevölkerung weiterhin auf einem hohen Niveau. So hätten unter den Ungeimpften 67 Prozent angegeben, sich "auf jeden Fall" beziehungsweise "eher" impfen lassen zu wollen.
    Welche sozialen Unterschiede zeigen sich bei Impfquoten?
    Mit dem COVIMO-Monitoring zur Covid-19-Impfung soll die Impfbereitschaft und -akzeptanz verschiedener Bevölkerungsgruppen in Deutschland erfasst werden. Dazu werden deutschlandweit alle drei bis vier Wochen etwa 1.000 deutschsprachige Personen befragt. Dabei zeigten sich im letzten Erhebungszeitraum (17.05.21 - 09.06.21) auch soziale, beruflich oder gesundheitlich bedingte Unterschiede an der Impfquote:
    So liegt die Impfquote bei Personen mit höherer Bildung, gemessen am Schul- und Berufsabschluss wie Haupt-, Realschulabschluss oder Abitur und/oder Bachelor, leicht höher als bei Personen mit niedrigerem Bildungsabschluss.
    Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer Der Paritätische Wohlfahrtsverband
    Armut und Corona - "Wir haben eine neue Form der Ausgrenzung"
    Armut sei ein Risikofaktor in der Corona-Krise, so Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. So sei das Infektionsgeschehen in sozialen Brennpunkten sehr hoch, die Impfquote dagegen sehr niedrig.
    Die Impfquote des medizinischen Personals und der Lehrkräfte liegt jeweils bei etwa 84 Prozent.
    Personen im Alter von 18 bis 59 Jahre mit Vorerkrankungen sind demnach häufiger bereits mindestens einmal geimpft als Personen der gleichen Altersgruppe ohne Vorerkrankungen:
    Grafik aus der COVIMO-Studie: Impfverhalten, Impfbereitschaft und -akzeptanz in Deutschland - Impfquote nach Vorerkrankunge(en).
    Impfquote nach Vorerkrankungen im Erhebungszeitraum Mitte Mai / Anfang Juni 2021 (RKI / COVIMO-Studie)
    Die Impfquote bei Personen ohne Migrationshintergrund ist höher als die von Personen mit Migrationshintergrund:
    COVIMO-Studie: Impfquote bei Personen mit Migrationshintergrund.
    Impfquote bei Personen mit Migrationshintergrund im Erhebungszeitraum Mitte Mai / Anfang Juni 2021 (RKI / COVIMO-Studie)
    In welchen Ländern gibt es eine Corona-Impfpflicht?
    Anders als Deutschland besteht in einigen anderen Länder zumindest in Teilen eine Impfpflicht. Einige Beispiele:
    • Australien hatte Ende Juni beschlossen, Corona-Impfungen für Hochrisikopersonal in der Altenpflege und für Angestellte in Quarantäne-Hotels vorzuschreiben.
    • In England sind ab Oktober Impfungen gegen Coronaviren für Mitarbeiter von Pflegeheimen Pflicht.
    • Alle Mitarbeiter des Gesundheitswesens in Frankreich müssen sich gegen Covid-19 impfen lassen. Dies sieht eine neue Regelung vor, die Präsident Emmanuel Macron am 12. Juli angekündigt hat.
    • Griechenland hat am 12. Juli Impfungen für das Personal von Pflegeheimen mit sofortiger Wirkung und für Mitarbeiter im Gesundheitswesen ab September zur Pflicht gemacht. Als Teil der neuen Maßnahmen werden zudem nur noch geimpfte Gäste in Bars, Kinos, Theatern und anderen geschlossenen Räumen zugelassen.
    • Ein im März verabschiedetes Dekret der italienischen Regierung schreibt vor, dass in Italien Mitarbeiter des Gesundheitswesens, einschließlich Apotheker, geimpft werden müssen. Wer sich weigert, kann für den Rest des Jahres ohne Bezahlung suspendiert werden.
    • Die polnische Regierung hat angedeutet, dass sie ab August Impfungen für einige Personen mit hohem Covid-19-Risiko in Polen verpflichtend machen könnte.

    (Quellen: dpa / COVIMO-Studie: Impfverhalten, Impfbereitschaft und -akzeptanz in Deutschland / epd)