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Bilanz 70. Festival d'Avignon
Reparaturwerkstatt der Demokratiedefekte

Das Festival d'Avignon zeigt viele Emotionen, selten waren auf den Festivalbühnen auch so viele Videoleinwände im Einsatz. Daraus wurde ein politisch und künstlerisch hochwertiges Programm, sagt der Deutschlandfunk-Rezensent.

Von Eberhard Spreng | 22.07.2016
    Dem Anschlag von Nizza zum Trotz - das Festival geht weiter: Straßenkünstler vor dem Rathaus in Avignon.
    Dem Anschlag von Nizza zum Trotz - das Festival geht weiter: Straßenkünstler vor dem Rathaus in Avignon. (Deutschlandradio / Eberhard Spreng)
    Ein einfacher Laufsteg zieht sich längs inmitten der Kirchenruine in der Chartreuse de Villeneuve bei Avignon. Mit nur drei Akteuren hat Festivalleiter Olivier Py die bereits vor sechs Jahren begonnene Arbeit an Aischylos Stücken zum Abschluss gebracht, die nicht zur berühmten Orestie gehören. So ist denn die Neuproduktion "Der Gefesselte Prometheus" hier der Einstieg in ein äußerst reduziertes, ganz der klassischen Rhetorik vertrauendes Theater.
    - "J'ai pitié des hommes, qui a pitié de moi?"
    - "Ce spectacle cruel, sali le nom de Zeus."
    Olivier Py möchte mit Aischylos die Grundlagen der abendländischen Demokratie erkunden und zugleich zu den Theatertugenden der radikalen Einfachheit zurückkehren. Er versteht das Theater als den eigentlichen Ort des Politischen, abseits der Machenschaften professioneller Volksvertreter.
    Mit einem mächtigen zeitgenössischen Endbild hatte bereits die Eröffnungsinszenierung das diesjährige Festival eingeläutet. Da hatte ein nackter Mann sich ein Maschinengewehr geschnappt und Salven ins Papstpalastpublikum gefeuert. Das war zwar eigentlich ein forciertes, falsches Ende, schien aber das Festivaltheater schlagartig fit zu machen fürs Rendez-Vous mit einer von Gewalt geprägten Gegenwart: Lars Norens Stück "20. November" brachte in Sophia Jupiters Regie Licht in die Psyche des Amokläufers von Emsdetten 2006.
    Viele Emotionen
    Wenige Stunden nach dieser Premiere am 14. Juli holte die Wirklichkeit das Theater auf der Promenade des Anglais in Nizza ein. Es wurde aber auch deutlich, dass das Theater seine ihm eigene Kraft verliert, wenn es nichts weiter tut, als mediale Bilder und Erzählungen ins Theater zu spiegeln. Selten waren auf den Festivalbühnen so viele Videoleinwände im Einsatz, selten so viele filmähnliche Soundtracks zu hören, selten soviel Appelle ans Gefühl zu erleben. Der in Toulouse lehrende Serge Rigoud sagte denn auch auf einem Podium der Ateliers de la Pensée, also der Denkwerkstatt des Festivals.
    "Wir versinken seit einigen Jahrzehnten in einem Trend, nach dem Emotionen allmählich die Vernunft ersetzten. Das setzt sich überall in Medien und der Kultur durch. Das Primat der Vernunft wird abgeschafft."
    Wut, Hass, Selbstekel und Selbstgeißelung gehörten zu den Gefühlen der Künstler, bei Angelica Lidell, aber zum Beispiel auch beim chilenischen Autor und Regisseur Marco Layera, der in "La Dictatura de lo Cool", der Diktatur der Coolness, das grelle Porträt einer Klasse gezeichnet hat, deren Leben gleichermaßen von Reichtum und Rebellion geprägt ist.
    "Diese soziale Gruppe - und wir Theaterleute sind ein Teil von ihr - ist intellektuell und beruflich ziemlich avanciert und hat gleichzeitig ein ausgeprägtes soziales Bewusstsein. Sie ist der prägende Teil eines Kapitalismus, der sich humanisiert hat."
    Man profitiert von einem System, dessen schädliche Auswirkungen man gleichzeitig klar erkennt. Der so unvermeidlich entstehende Widerspruch entlädt sich in Layers bunter und lauter Inszenierung letztlich in einem blutigen Endbild: Neue Rebellionen richten an dieser Klasse ein Blutbad an.
    Welchen Preis das Individuum für den so verstandenen Wohlfühlkapitalismus an anderer Stelle zahlen muss, war in einer aufregenden Entdeckung des Festivals zu erleben. Die belgische Autorin und Dramatikerin Anne-Cécile Vandalem erzählt von der häuslichen Gewalt eines Familienvaters, die die Töchter in die Radikalisierung treibt, von politischen Machenschaften, die den Einwohnern einer verlassenen Insel die Existenzgrundlage entzogen haben, von Opportunisten, Mitläufern, Opfern und Profiteuren, und von der Wahlkampagne einer populistischen Politikerin. Klug verflechten sich im Politthriller "Tristesses" Privates und Politisches, wobei die Autorin und Regisseurin Vandalem ihre kleine Insel Tristesse als Metapher für ein Europa in der Krise versteht:
    "Es geht um den Begriff der Depression, so wie ihn Gilles Deleuze in seinen Vorlesungen an der Sorbonne entwickelt hat: Das ist eine Traurigkeit als Reaktion auf den Umstand, dass die Handlungsmöglichkeiten verschwinden. Die Reaktion darauf ist Hass."
    Vandalem zeigt in ihrer Krisenmetapher, wie diese neue Traurigkeit zum Mittel der Beherrschung ganzer Gesellschaften werden kann, zu terroristischen Aktionen führt und die abendländischen Demokratien unterminiert.
    Deren Pannenzustand war auch in anderen Arbeiten Thema. Avignon betreibt eine rege Reparaturwerkstatt für Demokratiedefekte. Selten sah man ein politisch und künstlerisch so hochwertiges Programm mit vielen Gastspiel- und Premierenhighlights.