Samstag, 27. April 2024

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Birthler: Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur steckt noch in den Kinderschuhen

Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur steckt nach Einschätzung der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, im Osten wie im Westen teilweise noch in den Kinderschuhen. Man brauche offenbar einen viel längeren Atem zur Bewältigung der deutschen Teilung, als man das 1990 angenommen habe. Bei einer Minderheit von zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung im Osten gebe es derzeit eine Gemengelage aus Nostalgie und Ablehnung demokratischer Strukturen. Vor allem jene, die sich als Verlierer der Einheit empfänden, neigten zu einer Verharmlosung der DDR-Diktatur.

Moderation: Bettina Klein | 22.08.2005
    Bettina Klein: Sie haben im Unionswahlkampf beide polarisiert: Edmund Stoiber und Jörg Schönbohm. Im Westen Deutschlands trafen sie bei vielen auf Zustimmung, östlich der Elbe dagegen vielfach auf Empörung. Inzwischen haben beide ihre Äußerungen relativiert. Schönbohm hat sich gar entschuldigt. Einen direkten Zusammenhang zwischen Proletarisierung und Verwahrlosung im Gebiet der früheren DDR und einem neunfachen Babymord wollte er so nicht mehr hergestellt wissen. Das sei auch unpassend und falsch gewesen, sagt die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Marianne Birthler, aber sie gibt dem brandenburgischen Innenminister ausdrücklich Recht, wenn er Defizite thematisieren möchte, die in der DDR entstanden sind. Es gibt nicht nur Defizite - darauf legt Frau Birthler Wert -, aber zwei Diktaturen hätten eben auch Spuren hinterlassen. Ich habe sie vor der Sendung gefragt, was genau sie damit meint.

    Marianne Birthler: Ja, das Leben in der Diktatur verändert eine Gesellschaft. Wenn aus der Öffentlichkeit das freie Wort verbannt ist, wenn man nur im Freund-Feind-Schema zu denken lernt und auch in einer geschlossenen Gesellschaft lebt, dann macht das etwas mit den Köpfen der Leute. Man kann die Strukturen relativ schnell verändern. Man kann auch die Spielregeln einer Gesellschaft ändern. Aber bestimmte Denkgewohnheiten, eine bestimmte Art, sich nicht zu äußern, oder auch bestimmte Wertvorstellungen, die verändern sich natürlich in einer solchen Zeit.

    Klein: Denkgewohnheiten, welche?

    Birthler: Es ist ja mittlerweile auch untersucht worden, dass mit Blick auf die Frage was hat Priorität: Freiheit oder Gleichheit?, wir in westlichen Bundesländern und im Osten ganz unterschiedliche Ergebnisse haben. Mit der Freiheit tun sich ja die Deutschen insgesamt nicht so leicht. Das gilt auch für den Westen. Aber es gibt doch noch mal glaube ich eine weniger ausgeprägte Freiheitstradition im Osten als im Westen und da merkt man eben, dass in der Bundesrepublik West ein 40jähriger Prozess von Demokratisierung und Öffnung stattgefunden hat, der dem Osten fehlt.

    Klein: Nun kann man natürlich auch sagen, die Frage, welchem Wert man die höhere Priorität einräumt, Freiheit oder Gleichheit, ist auch eine politische Frage, die jetzt nicht notwendigerweise mit Erfahrungen von Generationen in einem bestimmten Land zu tun haben muss. Aber wenn Sie von bestimmten Denkgewohnheiten sprechen, die speziell durch eine Diktatur angerichtet wurden - Sie haben gerade das Stichwort der Gewohnheit genannt, sich nicht frei und offen äußern zu können -, inwiefern nehmen Sie bis heute wahr, dass sich trotz der anderen Spielregeln, die gelten, dieses weiterhin erhalten hat?

    Birthler: Ich will vorab sagen, dass wir nicht über den ganzen Osten sprechen, sondern immer um bestimmte Teile, wenn Sie so wollen Biotope der Gesellschaft, in denen sich bestimmte alte Denkmuster festgesetzt haben und noch nicht überwunden worden sind. Also begehen wir nicht schon wieder den Fehler und nehmen den gesamten Osten hier in Geiselhaft. Es gibt auch ganz wunderbare Entwicklungen und Öffnungen. Wenn ich unterwegs bin, geht mir manchmal auch das Herz auf, was Leute in diesen 15 Jahren aus ihrem Leben gemacht haben, wie sie sich auch verändert und geöffnet haben. Es geht also um eine bestimmte Minderheit, die aus ganz unterschiedlichen Gründen noch den alten Verhältnissen auch anhaftet oder den Eindruck hat, dass sie zu den Verlierern gehören. Damit muss man wahrscheinlich leben in einer solchen Zeit. Man darf es nur noch hochrechnen auf die ganze ostdeutsche Bevölkerung.

    Klein: Verlierer gibt es natürlich fast überall und in jedem Land, gibt es auch im Westen. Was kennzeichnet den Verlierer Ost, sage ich mal, den Sie jetzt angesprochen haben?

    Birthler: Ich bin keine Soziologin und kann Ihnen das jetzt nicht statistisch darlegen, aber wenn ein Mensch mit seinem Leben nicht zufrieden ist, wenn jemand den Eindruck hat, dass seine Leistung nicht anerkannt ist, dass er keine Chancen bekommt, dann ist natürlich die Neigung besonders groß, an Zeiten zurückzudenken, wo es ihm anders gegangen ist. Das erzeugt dann so eine merkwürdige Gemengelage von Nostalgie und Ablehnung auch demokratischer Strukturen. Das ist in einer Minderheit der ostdeutschen Bevölkerung noch zu spüren, aber wie gesagt ich schätze diesen Anteil auf nicht mehr als 10 bis 15 Prozent.

    Klein: Jörg Schönbohm hat die Stichworte Proletarisierung und Verwahrlosung in den Raum geworfen. Ich habe mit einigen Menschen gesprochen, die gesagt haben, im Grunde schildert der eigentlich unseren Eindruck, der uns befällt, wenn wir durch den Osten heute noch reisen. Sind das zwei Stichworte, zwei Kategorien, die Sie auf jeden Fall zurückweisen würden?

    Birthler: Der Begriff Proletarisierung ist wahrscheinlich sowieso in Ost und West anders besetzt. Wenn ich das richtig sehe, hat Jörg Schönbohm Brandenburg gemeint und damit auch eine Zeit, in der auch im Unterschied übrigens zu anderen östlichen Bundesländern sich kein bäuerlicher Mittelstand herausbilden konnte. Gerade in diesen ländlichen Regionen Brandenburgs, vielleicht auch in Mecklenburg-Vorpommern, gab es ja einen fast nahtlosen Übergang von den Großgrundbesitzern hin zu den LPGen und da ist auch eine bestimmte Kultur nicht entstanden.

    Klein: Was meint man damit, wenn man auf diese Entwicklung anspricht? Was gibt es dort nicht im Gegensatz zum Westen, wo es eben diese 40, 50 Jahre Sozialismus nicht gegeben hat?

    Birthler: Es geht um graduelle Unterschiede, um bestimmte Defizite. Die äußern sich nach meiner Wahrnehmung darin, dass es weniger zivilgesellschaftliche Tugenden gibt, also die Bereitschaft, nicht nur für sich selber, sondern auch für das Sozialwesen, den Ort, in dem ich wohne, Verantwortung wahrzunehmen, mich auch als Bürger im ganz demokratischen Sinne zu fühlen. Das sind Tugenden, die in Zeiten der Diktatur ja eher abtrainiert werden und lange, lange Zeit brauchen, bis sie wieder entstehen. Davon gibt es auch einen Mangel im Westen, nicht dass wir uns falsch verstehen, aber im Osten sehr wahrscheinlich stärker als im Westen.

    Klein: Weshalb dauert es so lange, dass sich das wiederum verändert?

    Birthler: Weil Kulturen etwas sind, was schnell zerstört werden kann, aber langsam wächst.

    Klein: Wenn Sie feststellen, dass wir immer noch in zwei Kulturen leben in Deutschland - und damit meine ich jetzt mal nicht die regionalen Besonderheiten zum Beispiel zwischen Nord und Süd, sondern wirklich was die beiden ehemaligen deutschen Staaten angeht, diese Regionen -, ist dies etwas, womit wir uns irgendwie abfinden müssen, wenn Sie sagen es dauert so lange, bis eine Kultur sich wieder etabliert hat? Stößt dort die deutsche Einheit einfach an ihre Grenzen?

    Birthler: Das ist eine Generationenfrage. So etwas wird sich sehr allmählich annähern. Ich finde das zunächst auch nicht mal erschreckend, dass ich mich im Osten immer noch anders fühle als im Westen. Wir müssen nur darauf achten, dass es nicht mit Benachteiligungen oder mit Gefahren für die Demokratie verbunden ist. Wir brauchen dafür offenbar einen sehr langen Atem, einen längeren als man 1990 vielfach geglaubt hat.

    Klein: Einen längeren Atem. Auf der anderen Seite beklagen Sie auch eine gewisse Tendenz zur Verharmlosung der DDR. Das würde ja auch bedeuten, dass dieses bestimmte Bild auch weitergegeben wird über Generationen. Was bedeutet das?

    Birthler: Ja. In Teilen der Bevölkerung - und ich muss wieder sagen es handelt sich um eine Minderheit in Ostdeutschland - da gibt es durchaus eine Neigung, die Verhältnisse in der DDR zu verharmlosen, so ungefähr indem man sagt, wenn man nicht gerade zu den politisch Verfolgten gehörte oder im Gefängnis gesessen hat, dann konnte man in der DDR hervorragend leben. Das muss man in Frage stellen, denn eine Diktatur hat auch auf jene fatale Folgewirkungen, die stillhalten, die nichts sagen, die sich daran gewöhnt haben, dass man die Klappe hält und auf Anweisungen von oben zu reagieren hat. Das ist glaube ich vielfach noch nicht bewusst genug, dass der Alltag einer Diktatur auch zivilgesellschaftlich fatale Folgen nach sich zieht, manchmal generationenlange.

    Klein: Weshalb, Frau Birthler, fehlt eigentlich 16 Jahre nach der Wende noch immer das Bewusstsein dafür, ja offenbar teilweise in Ost und West?

    Birthler: Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur steckt zum Teil noch in den Kinderschuhen. Es gab ja schon zu der Zeit, als die DDR noch existierte, auch im Westen eine gewisse Blauäugigkeit, die den Diktaturcharakter der SED offenbar unterschätzt hat. Deswegen sind 15 Jahre dafür, dass man sich dieses Phänomens bewusst ist und es auch wirklich erfasst, eine relativ kurze Zeit. Manche verlangen ja nach dem Schlussstrich. Ich sehe, dass wir immer noch am Anfang stehen.

    Klein: Hatten Sie das Gefühl, dass Sie in Ihrer Partei das ganz offen und ganz offensiv auch debattieren konnten?

    Birthler: Die Schwierigkeiten, mit diesem Phänomen umzugehen, die finden Sie in allen Parteien. Das ist keine Frage der politischen Lager.

    Klein: Aber weshalb ist das so?

    Birthler: Erstens waren nur Teile der bundesdeutschen Gesellschaft bereit, sich wirklich offen und kritisch mit den Verhältnissen in der DDR auseinanderzusetzen. Da haben viele auch die Augen geschlossen, auch in allen politischen Lagern. Dann ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ja häufig auch schmerzlich und unangenehm, weil sie natürlich auch an eigene Irrtümer oder auch an Fehlverhalten erinnert. Dazu muss man immer sehr ermutigen, weil der Blick in die Vergangenheit immer etwas zwar Heilsames ist, aber eben auch Schmerzhaftes.

    Klein: Gibt es in diesem Zusammenhang etwas, was Sie im Moment ermutigt, wo Sie positive Zeichen dafür sehen, dass es weiter geht?

    Birthler: Ja, es gibt ganz viele positive Zeichen. Wenn Sie durch die verschiedenen Regionen in Ostdeutschland fahren, dann entdecken Sie auch unglaublich viele positive Impulse. Ich werde eingeladen. Ich spreche mit Leuten, die ganz kreativ versuchen, ihre Gegenwart zu gestalten, aber auch die Vergangenheit nicht auszublenden. Das würde ich als ganz typisch ansehen. Wir sprechen ja hier über eine bestimmte Minderheit, die sich einer solchen Entwicklung verweigert und nostalgisch und wehleidig zurückblickt in die DDR. Das ist nicht typisch für die ganze ostdeutsche Bevölkerung.

    Klein: Es ist nicht typisch, aber wie glauben Sie können diese Menschen, von denen Sie gerade gesprochen haben, aufgefangen werden, dazu bewegt werden, vielleicht etwas offener in die Welt zu schauen als sie es bisher getan haben?

    Birthler: Man kann dazu nur einladen. Sie können einem Menschen nur einen Mantel hinhalten. Ob er ihn sich anzieht, das ist eine andere Sache. Man kann Demokratieentwicklung, Nachdenklichkeit ja nicht anordnen. Man kann Gelegenheiten dafür schaffen, aber die Entscheidungen darüber, welchen Weg Menschen gehen, die müssen sie natürlich selber treffen.

    Klein: Marianne Birthler war das. Vielen Dank für das Gespräch.