Freitag, 29. März 2024

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Bischof Wilmer zur Coronakrise
"Das viele Streamen von Gottesdiensten ist mir nicht geheuer"

Er fände es nicht gut, wenn in der Coronakrise jeder Pfarrer oder jeder Priester aus irgendeiner kleinen Kapelle oder aus dem Wohnzimmer streamt, sagte der Bischof von Hildesheim, Heiner Wilmer, im Interview der Woche im Dlf. Dadurch komme eine Fixierung auf die Eucharistie zum Ausdruck.

Heiner Wilmer im Gespräch mit Christiane Florin | 12.04.2020
Heiner Wilmer, Bischof von Hildesheim
Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer sieht Gottesdienst-Streamen während Coronakrise kritisch (picture alliance/Holger Hollemann/dpa)
Es habe in der Geschichte des Christentums Zeiten gegeben, in denen Menschen nicht die Möglichkeit hatten, an einer Messe teilzunehmen oder die Kommunion zu empfangen. "Deshalb ist aber nicht der Glaube zusammengebrochen. Wir tun jetzt gerade so, als bräche alles zusammen. Das ist falsch, das ist eine Engführung", sagte der 59-Jährige im Deutschlandfunk.

Wilmer verteidigte die Entscheidung, auch an Ostern auf Gottesdienste in der üblichen Form zu verzichten. "Eingeschränkt in meiner Religionsfreiheit fühle ich mich nicht", sagte der Hildesheimer Bischof. Er höre auf den Rat der Experten. Die Kirchen könnten sich nicht vom Rest der Gesellschaft absondern.
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Wilmer kritisierte zudem, dass manche Gläubige das Virus als göttliche Botschaft deuteten oder Weihwasser eine medizinische Wirkung attestieren. "Ein Glaube ohne Vernunft ist mir suspekt", sagte er.

Das komplette Interview zum Nachlesen:
Christiane Florin: Folgt auf den Karfreitag immer ein Ostersonntag?
Heiner Wilmer: Auf den Karfreitag folgt an sich erst der Karsamstag, der Tag der Trauer, der Tag der Stille, der Tag, an dem die Tränensäcke leer geweint sind. Es ist der Tag des Dunkels, der Einsamkeit, der Öde und danach folgt der Ostersonntag.
Florin: Im Kirchenjahr ist klar definiert, wann die Zeit der Entbehrung oder die Zeit des Wartens zu Ende ist. Die Fastenzeit endet mit Ostern. Der Advent läuft auf Weihnachten hinaus. Aber jetzt in Corona-Zeiten, da wissen wir nicht, wann es vorbei ist. Wie gehen Sie damit um, das Ende nicht zu kennen?
Wilmer: Die Zeit des Corona-Virus, diese ganz spezielle Fastenzeit, ist für mich schon eine besondere Zeit. Alles ist irgendwie auf dem Prüfstand. Alles hat sich für mich verändert. Ich bin schon sehr nachdenklich geworden und ich frage mich auch, inwieweit unser Glaube trägt, inwieweit er mich trägt, wie weit trägt die Kirche die Menschen, was haben die Menschen von uns und inwieweit trägt auch hier die Botschaft Jesu die Art der Verkündigung. Das sind für mich schon Schlüsselffragen und natürlich habe ich die große Sorge um viele Menschen hier, im Bistum Hildesheim, aber auch in Deutschland und darüber hinaus. Die vielen Ängste, die vielen Kranken, Sterbenden, so viele, die sich infiziert haben, auch so viele Helferinnen und Helfer. Das ist schon alles sehr bedrückend.
Florin: Worin besteht für Sie Seelsorge im Moment?
Wilmer: Seelsorge besteht für mich in dem Paradoxon, dass wir darauf Wert legen, dass wir bei allem Abstand die Nähe suchen. Noch nie war es so wichtig, gemeinsam allein zu sein und Seelsorge heißt für mich, wirklich kreativ zu sein, jetzt bei den Menschen zu sein, anzurufen, neue Formen im Pastoral zu entwickeln, im Internet, digital. Seelsorge heißt aber auch für mich, doch auch die Maske aufzuziehen, den Kittel aufzuziehen und hier und da in Einzelfällen Menschen zu besuchen, die krank sind, die im Krankenhaus sind, die vor allem im Sterben liegen. Seelsorge heißt für mich, auch auf die Hoffnung hinzuweisen, auf den Trost und auf die Botschaft Jesu, der uns befreit, vor allem auch von der Angst.
Florin: Das heißt, Sie gehen mit Schutzmaske zu Leuten, die im Sterben liegen, um zum Beispiel die Sterbesakramente zu spenden?
Wilmer: Das ist ja schwierig geworden. Ich war aber in der letzten Woche in der Tat bei jemandem in einem Altenheim und habe mir auch da die Schutzmaske aufgezogen. Wir saßen da am Bett, haben gebetet. Er hatte schon in dem Fall die Sterbesakramente empfangen. Das war ein Mitbruder und er wollte unbedingt noch einmal den Bischof sehen. Ich habe gesagt, ich komme, in Absprache mit der Heimleitung und auch in Absprache mit der sanitären Aufsicht. Aber ich weiß, es sind Ausnahmen. Ich weiß, es ist zurzeit sehr, sehr schwierig überhaupt, dass Angehörige ihre Familien sehen. Ich habe selbst eine junge Nichte, die mit einer schwierigen Sache ins Krankenhaus gekommen ist. Für uns, für die Familie ist es schon bitter, dass niemand sie besuchen kann.
Florin: Herr Wilmer, Sie haben am 24. März laut einer Agenturmeldung angeregt, dass sich Gläubige verstärkt dem Gebet zuwenden sollen und dass sie darin auch Protest äußern dürfen. Wogegen sollen sie protestieren? Sollen sie Gott beschimpfen?
Wilmer: Ich habe mich in diesen Tagen verstärkt mit der Weise beschäftigt, wie wir beten können und bin erneut auf das Buch Hiob gestoßen. Im Buch Hiob geht es nicht nur um die Weise des Betens, nämlich Gott zu danken, ihn zu loben, zu preisen, auch zu bitten. Hiob klagt und er trommelt auf Gott ein, weil ihm in kurzer Zeit nacheinander die Kinder sterben, das Vieh verreckt, das Land wird verwüstet. Er steht ganz allein da, praktisch nackt. Die Freunde lästern über ihn, ziehen über seinen Glauben her, sind Zyniker und sagen, ja, ja, du bist es wahrscheinlich selbst schuld, Gott bestraft dich oder: Wo ist denn dein Gott, kann er dir denn nicht helfen, er ist doch allmächtig? Hiob schreit sein Elend, sein äußeres Elend und sein inneres Elend Gott entgegen. Er schreit ihn an, er klagt: Wo bist du, wo bleibst du? Mich erinnert das auch an den 27. März, als der Papst Franziskus in Rom auf regennassem Petersplatz ganz allein dastand und an die Szene der Jünger im Boot erinnert. Jesus schläft und die Jünger merken, das Boot geht unter und sie dann auf Jesus eintrommeln und sagen, wach auf, wach auf. Und der Papst betet auch hier, wach auf, wo bist du, Gott, wach auf. Das ist eine Weise, die wir vielleicht etwas vergessen haben, die mir aber in dieser Zeit sehr wichtig geworden ist.
"Wie komme ich dem Geheimnis meines Lebens auf die Spur?"
Florin: Wenn unsere Hörerschaft repräsentativ ist für den Durchschnitt in Deutschland, dann sagt ungefähr ein Drittel: Ich kann mit Gott nichts anfangen, ich gehöre keiner Religionsgemeinschaft an, auch keiner der beiden großen Kirchen. Was sagen Sie denen? Haben Sie ihnen auch etwas zu sagen?
Wilmer: Die eigentliche Frage lautet doch, wie kann ich gut leben, wie komme ich dem Geheimnis meines Lebens auf die Spur, wie bin ich so unterwegs, dass auch die anderen um mich herum gut leben können. Und dann ergibt sich auch die Frage, wie gehen wir um, wenn wir feststellen, dass unsere Vernunft an Grenzen kommt, dass die Vorhersagbarkeit von Ereignissen, die wir mathematisch und wissenschaftlich meinen, berechnen zu können, plötzlich abrupt ausgebremst wird. Im Grunde genommen sind wir doch von einem Allmächtigen umfangen, ob wir wollen oder nicht. Der Allmächtige schlechthin ist der Tod. Das macht nachdenklich und das ist so ein Teil meines Umgangs.
Florin: Sie sind mit 19 Jahren in den Orden der Herz-Jesu-Priester eingetreten. Das ist nun 40 Jahre her. Sie haben mal ein Buch geschrieben mit dem Titel "Gott ist nicht nett". Darin beschreiben Sie, wie schwierig es ist, sein Leben auf Gott, auf Jesus aufzubauen. Sie schreiben an einer Stelle davon, "küssen zu müssen, wenn einem das Verliebtsein abhandengekommen ist". Wie ist Ihr Beziehungsstatus zu diesem nicht netten Gott gerade: küssen müssen oder küssen wollen?
Wilmer: Ich glaube, dass wir in unserem Glauben Bilder vererbt bekommen haben, ich auch in meiner Familie, durch meine Erziehung, Bilder, die vielleicht doch nicht stimmen, Bilder, die Jesus als den guten Hirten zeigen, Bilder, die romantisch daherkommen, Bilder von Wegkreuzen, die schön gepflegt sind, aus Holz geschnitzt, aus Altötting, aus Südtirol, Holzdarstellungen, auf die man sogar in der Familie stolz ist, aber die Wahrheit ist doch, es ist ein grausamer Tod. Die Wahrheit ist, dass wir das Eckige, Kantige in unserem Glauben rundgeschliffen haben. Die Wahrheit ist, dass wir Gott in eine Schachtel gepresst haben, eine rote Schleife drumgebunden haben und denken: Wir haben es. So ist er, das ist mein Bild. Und das geht nicht! Auch die Ereignisse jetzt zeigen, das Leben ist unberechenbar und vor allem, Gott bleibt ein Geheimnis. Wir können manchmal eher sagen, was er nicht ist, als etwas ausdrücken, was er ist. Er ist nicht jemand, den wir mit Opfer besänftigen können, den wir magisch dominieren könnten, den wir irgendwie in eine bestimmte Ecke drängen könnten.
Florin: Aber in einigen Ecken der katholischen Kirche wird so etwas Magisches betrieben. Da wird gesagt: "Weihwasser hilft gegen das Virus, ich möchte jetzt erst recht in die Kirche gehen, ich würde für die Eucharistie sterben. Ein Weihbischof in Köln hat ein Video gemacht mit der Frage: Was will uns Gott durch das Virus sagen? Wie stehen Sie dazu?
Wilmer: Also gut, was einzelne Leute sagen, sei mal dahingestellt. Ich persönlich finde es schwer zu ertragen, wenn wir die Realität, die sich uns zeigt, auf die leichte Schippe nehmen und dann ankommen mit Weihwasser und mit Praktiken, die jeder Vernunft entbehren. Ein Glaube ohne Vernunft ist mir suspekt.
Florin: Ostern ist das höchste christliche Fest, bekanntermaßen. Fühlen Sie sich eigentlich jetzt in Ihrer Religionsfreiheit dadurch eingeschränkt, dass dieses Fest nicht wie gewohnt stattfinden kann mit Festgottesdiensten?
"Der Verzicht auf die Gemeinschaft ist der eigentliche Verzicht"
Wilmer: Eingeschränkt in meiner Religionsfreiheit fühle ich mich nicht. Mein Empfinden ist schon speziell, weil natürlich zum Glauben die Gemeinschaft gehört. Also, niemand glaubt allein. Unser Glaube basiert auf Gemeinde, basiert auf Gemeinschaft, basiert darauf, dass jemand und andere mit mir unterwegs sind, denen ich in die Augen schaue, mit denen ich zusammen bin, lachenderweise, auch weinenderweise. Der Verzicht auf die Gemeinschaft ist der eigentliche Verzicht. Manchmal wird immer nur von Eucharistiefasten gesprochen. Ich halte das auch für bedenklich, in solchen Begriffen zu operieren. Es ist ein Verzicht auf ein völlig normales Leben, das uns trägt. Wir brauchen den anderen. Wir sind Wesen, jeder von uns ein Wesen, das auf den anderen hingeordnet ist und das wird uns zurzeit genommen.
Florin: Ich bekam vor einigen Tagen mehrere Mails aus dem katholischen Inner Circle. Darin stand, die deutschen Bischöfe hätten das Gottesdienstverbot "widerstandslos hingenommen". Darin steckt der Vorwurf, dass die deutschen Bischöfe vor dem Staat eingeknickt sind, dass sie nicht entschieden genug, gerade jetzt zu Ostern, für die Gottesdienste kämpfen. Ist das ein berechtigter Vorwurf Ihrer Ansicht nach?
Wilmer: Ich sehe das anders. Wir leben in einer Gesellschaft. Wir gehören zusammen. Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist wichtig, auch für uns Kirchen, wir können uns da nicht absondern. Wir stehen als Menschen zusammen. Es kann nicht sein, dass wir eine katholische Nische bilden und uns absondern und alles besser wissen. Wir haben zusammenzustehen und wir haben in den Ministerien Experten, im Gesundheitsministerium. Wir haben Menschen, die sich in hoher Verantwortung um das Gut und das Wohl der Menschen in Deutschland und auch darüber hinaus kümmern. Es gehört zu meinem Glaubensverständnis, dass ich Respekt übe, dass ich Menschen, die sich um andere kümmern, mit Hochachtung begegne und mir auch fremden Rat hole und mich auch führen lasse von Experten in einer schwierigen Zeit.
Florin: Man kann, seit das Versammlungsverbot erlassen worden ist, im Internet jede Menge gestreamte Gottesdienste anschauen, oft ohne Menschen in den Bänken, ohne Kirchenvolk. Hand aufs Herz: Denken Sie da manchmal: Oh weia, so sieht die Zukunft der katholischen Kirche aus, wenn noch weniger Leute in die Gottesdienste kommen als bisher, also als vor der Corona-Krise?
Wilmer: Ich habe dazu zwei Gedanken. Einmal: Dieses viele Streamen ist mir persönlich nicht ganz geheuer. Wir haben hier im Bistum gesagt, wir haben einen offiziellen Streaming-Gottesdienst, aber auch nur Audio, aus dem Hildesheimer Dom. Ich finde es persönlich nicht gut, wenn jeder Pfarrer, jeder Priester aus irgendeiner kleinen Kapelle oder aus dem Wohnzimmer streamt. Ich finde es deshalb nicht gut, weil wir damit zeigen, wie verarmt wir sind. Vielleicht manifestiert sich jetzt auch einiges. Es kann auch nicht sein, dass wir nur auf die Eucharistie fixiert sind! Natürlich ist sie wichtig, aber das Zweite Vatikanische Konzil sagt, der Herr ist nicht nur gegenwärtig in der Eucharistie, sondern auch in den Heiligen Schriften, im Lesen der Bibel, und wir sollten das Wort Jesu ernst nehmen, wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. Wir können uns zusammensetzen auch über das Internet, auch über die modernen Medien, um dies zu tun. Das zum Ersten.
Zum Zweiten glaube ich schon, dass die leeren Kirchen, die wir jetzt haben, vielleicht doch einen Vorgeschmack geben auf eine Zukunft, die vielleicht gar nicht mehr so fern ist. Dass wir jetzt Bilder erhalten, die uns etwas spiegeln, mit dem wir uns definitiv schneller auseinandersetzen müssen, als wir jetzt vielleicht wahrhaben wollen.
"In der Reaktion mancher Gläubigen ist die Eucharistie überbewertet"
Florin: Heißt das, die Eucharistie ist überbewertet und Sie plädieren dafür, andere Formen des Zusammenhalts, auch des Gemeinschaftserlebens auszuprobieren?
Wilmer: Also, in der Reaktion mancher Gläubigen ist die Eucharistie schon überbewertet. So als gäbe es nichts Anderes. Wir haben immer wieder in der Geschichte des Christentums Zeiten gehabt, in denen Menschen nicht die Möglichkeit hatten, an einer heiligen Messe teilzunehmen oder die Kommunion zu empfangen. Das hat es immer gegeben. Deshalb ist aber nicht der Glaube zusammengebrochen. Wir tun jetzt gerade so, als bräche alles zusammen. Das ist falsch, das ist eine Engführung.
Florin: Sie hören das Interview der Woche mit Heiner Wilmer, dem Bischof von Hildesheim. Wenn wir gut einen Monat zurückblicken auf Anfang März, das scheint ja schon ziemlich lange her zu sein, da wurde ein neuer Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz gewählt. Sie galten auch als potenzieller Nachfolger von Reinhard Marx. Wären Sie es gerne geworden?
Wilmer: Ich galt nicht wirklich als potenzieller Nachfolger. Es ist in einigen Medien so gehypt worden. Ich bin erst anderthalb Jahre Bischof in Hildesheim. Der Gedanke war mir fern. Ich persönlich bin überzeugt, dass wir mit Bischof Georg Bätzing einen wunderbaren Nachfolger von Kardinal Reinhard Marx gefunden haben und ich freue mich, dass er diese Verantwortung übernommen hat.
Florin: Eine beliebte Aussage in der katholischen Kirche lautet: Es gibt in der Kirche keine Macht, in der Kirche gibt es nur Dienst. Warum ist es so schwierig, als Kirchenmann öffentlich zu sagen: Den Posten hätte ich gerne gehabt?
Wilmer: Die Frage der Macht ist ja in der Kirche ein wichtiges Thema, in manchen Kreisen ein Tabuthema. Ich glaube, dass wir beim Thema Macht sehr authoritätsbezogene Bilder haben, bis hin auch zu Gemeinden. Die eigentliche Frage, was Menschen heute interessiert, aus meiner bescheidenen Sicht, ist nicht die Frage: Wer hat das Sagen, wer hat die Macht? Sondern: Wer ist authentisch, wer lebt und arbeitet so, dass es anknüpft an die Erfahrungen der Menschen.
Florin: Authentisch ist nun ein sehr abgenutztes Wort. Jeder Turnschuh will ja authentisch sein. Aber wie geht das denn, glaubwürdig zu sein oder nah am Leben der Menschen zu sein, wenn man so ganz anders bisher gelebt hat, im Priesterseminar gelebt hat, in der Kirche Karriere gemacht hat, bis zum Bischof aufgestiegen ist? Da sind Sie doch von den Menschen in Ihrem Bistum ziemlich weit weg.
Wilmer: Für mich persönlich sind uralte Kontakte, die ich seit meiner Grundschule habe, nach wie vor wichtig. Dazu gehören Leute, die fahren heute einen Lkw. Dazu gehören Leute, die sind Schreiner, Tischler, Bauern. Dazu gehören Leute, die sind Arzt geworden, andere arbeiten im juristischen Bereich. Ich habe auch viele Bekannte, die gehen nicht mehr in die Kirche, von denen glauben einige. Ich habe auch gute Freunde, die weder in die Kirche gehen, noch mit Gott etwas anfangen können. Für mich sind all diese Menschen sehr, sehr wertvoll und sie geben mir irgendwie doch das Empfinden, am Boden zu bleiben, was ich für wichtig halte, auch für mich persönlich.
Florin: Nehmen wir jetzt einmal den Lkw-Fahrer: Wenn der Ihnen jetzt sagt: Mensch, das mit dem Zölibat, dass die Priester nicht heiraten dürfen, das verstehe ich einfach nicht. Ich verstehe auch nicht, warum man daran immer noch festhält. Was sagen Sie dem?
Wilmer: Dem sage ich, dass ich seinen Eindruck verstehen kann, dass er sich schwertut. Ich sage ihm, dass es kein Dogma ist. Wir hatten in der Kirche ja schon einige Jahrhunderte verheiratete Priester und ich sage ihm, dass ich im Bistum Hildesheim auch ein paar Pfarrer habe, die sind verheiratet und haben Kinder. Dann guckt er mich immer an.
"Der Zölibat gehört nicht zum Glaubensschatz der Kirche"
Florin: Aus der evangelischen Kirche konvertiert?
Wilmer: Ja, ja, genau, klar. Die zwei waren lutherisch, einer war Anglikaner. Offensichtlich geht das ja. Wir haben im Moment eine Zeit, die ist anders. Der Zölibat ist kein Dogma, es ist ein Kirchenrecht. Es gibt viele Gründe dafür. Der Zölibat hat auch was. Ich selbst bin Ordensmann, bin leidenschaftlicher Ordensmann und lebe gerne auch die drei Gelübde der Ehelosigkeit, des Gehorsams und auch des bescheidenen Lebensstils, der jetzt gar nicht mehr so bescheiden ist, muss ich hinzugeben als Bischof. Aber der Zölibat gehört nicht zum Glaubensschatz der Kirche.
Florin: Aber trotzdem hat der Papst ja entschieden: Der Zölibat wird nicht angetastet. Da wird nicht eine Spur Freiwilligkeit beigegeben oder eben auch eine andere Möglichkeit des Zugangs zum Priesteramt geöffnet.
Wilmer: Das sehe ich etwas anders in dem Dokument nach der Amazonas-Synode. Was neu ist in der Geschichte des Vatikans und der Papstgeschichte, dass der Papst sowohl seinen Abschlusstext der Synode plus den vorliegenden Text (gemeint ist das Papstschreiben "Geliebtes Aamazonien") zugleich veröffentlicht hat. Das ist völlig neu. Es sagt mir, dass der Papst will, dass hier doch weiter gedacht wird, dass er will, bleibt am Ball, redet, sprecht weiter, im Moment ist die Zeit nicht so reif. Wahrscheinlich ist seine Sorge und seine Angst, dass etwas auseinanderbrechen könnte, aber die Botschaft, die ich wahrnehme, ist, bleibt auf dem Weg und redet.
Florin: Um noch mal auf den Lkw-Fahrer zurückzukommen, dem würden Sie Geduld anraten?
Wilmer: Ja, ja, Geduld.
Florin: Sie haben in einem Ihrer ersten Interviews gesagt, Machtmissbrauch stecke in der DNA der Kirche. Wie haben Sie das gemeint?
Wilmer: Sagen wollte ich, dass die Kirche heilig ist von Gott her, aber die Kirche ist auch sündig von den Menschen. Den Aspekt haben wir vergessen. Es ist nicht eine Erfindung von mir, sondern die gehört zur Kirchengeschichte.
Florin: Würden Sie das heute noch einmal genauso sagen?
Wilmer: Ja, ich stehe schon dazu. Ich würde es genauso sagen.
Florin: Corona überdeckt viele innerkirchliche Debatten, die, ich habe es vorhin schon kurz angesprochen, Anfang März noch ganz wichtig waren. Über ein Thema, den Zölibat, haben wir gesprochen. Ein anderes möchte ich noch ansprechen, weil Sie damit in Ihrem Bistum stark befasst sind, nämlich mit dem Thema sexualisierte Gewalt. Einer Ihrer Vorgänger, Bischof Janssen, wird des Missbrauchs beschuldigt. Einem anderen Vorgänger haben Sie Vertuschung vorgeworfen. Was folgt daraus?
Wilmer: Für mich folgt daraus, dass wir Expertengruppen auf den Weg gebracht haben, A) die nicht zum Bistum gehören, B) die Experten sind und die selbstständig die Akten durchgehen. Also, im Fall von Bischof Heinrich Maria Janssen hat die Expertengruppe die relevanten Akten. Diese Gruppe wird von einer Frau geleitet, nämlich der ehemaligen Justizministerin aus Niedersachsen, Frau Niewisch-Lennartz. Ich habe denen gesagt, sie sind autonom, sie sind selbstständig, sie sind auch selbstständig in der Kommunikation, auch in Presseerklärungen. Ich möchte nicht, dass man mir nachsagt, es gibt eine Zensur. Sondern ich habe öffentlich gesagt, ich gebe die Kontrolle ab, ich will Licht ins Dunkel bringen.
Florin: Warum war diese Vertuschung überhaupt so möglich?
Wilmer: Ich glaube, dass die Vertuschung deshalb möglich war, weil die katholische Kirche im juristischen Bereich sich als autonom sah. Vergehen wurden intern behandelt. Sexualisierte Gewalt wurde betrachtet als ein Vergehen gegen das sechste Gebot, aber nicht als ein Verbrechen, nicht als ein Verbrechen mit strafrechtlicher Relevanz.
Florin: In jeder Messe sollen Gläubige ihre Schuld bekennen. Jedes Kommunionkind bekommt einen Beichtspiegel und soll Gewissenserforschung betreiben. Warum sagt bis heute kein einziger Amtsträger oder keiner von denen, die früher Verantwortung hatten und mit sexualisierter Gewalt befasst waren, warum sagt keiner freiwillig: Ich habe vertuscht?. Warum geschieht das, wenn überhaupt, immer nur auf Druck?
Wilmer: Einige haben ja dazu etwas gesagt, auch ehemalige leitende Geistliche in Deutschland und haben gesagt, dass sie Fehler gemacht haben, haben gesagt, dass sie Dinge nicht richtig eingeschätzt haben.
"Ein Verbrechen muss auch als Verbrechen benannt werden"
Florin: Aber glauben Sie das, nicht richtig eingeschätzt, wenn man gleichzeitig so viel Aufwand betrieben hat, das irgendwie unter der Decke zu halten, ist es dann glaubwürdig zu sagen: Ach, ich habe das damals für nicht so gravierend gehalten?
Wilmer: Nein, das halte ich eben für problematisch. Das halte ich schon für problematisch und ich finde, das geht überhaupt nicht. Ich finde, was damals schon ein Verbrechen war, nicht nur ein Vergehen, sondern ein Verbrechen, muss auch als Verbrechen benannt werden und dem muss auch nachgegangen werden. Dem muss auch mit staatlichen Mitteln nachgegangen werden. Also, es kann nicht sein, dass wir in der Kirche ein Verbrechen unter den Teppich kehren und die Betroffenen heute massiv darunter leiden und wir sagen: Na ja, es war eine andere Zeit. Das geht nicht. Die Frage der Gerechtigkeit steht im Zentrum und für mich steht eben ganz klar die Botschaft Jesu im Zentrum. Es geht nicht um eine Strukturerhaltung, nicht um den Glanz einer Institution, sondern im Zentrum steht der Mensch, der verwundete Mensch, der zerbrechliche Mensch, derjenige, der leidet.
Florin: Und trotzdem hat, obwohl sie sich alle auf Jesus berufen, keiner die Aufrichtigkeit besessen, öffentlich zu sagen: Ich bin persönlich schuldig geworden. Das wurde doch alles sehr passivisch formuliert oder sehr allgemein in dem Sinne, wir haben Schuld auf uns geladen. Es gibt immer Sünder" und so weiter und so fort.
Wilmer: Das Schwierige an dem Thema der sexualisierten Gewalt ist, dass das ganze System Kirche hier betroffen wird. Man muss sagen, je länger ich mich damit befasse, desto mehr packt mich die Wut und der Zorn auf der einen Seite. Auf der anderen Seite packt mich auch die Erkenntnis, wie auch ein System innerlich zusammenhängt. Klar, bestimmte Träger mögen ganz sicher alleine schuld sein, weil sie Dinge nicht aufgedeckt haben, aber es ist ein bisschen so wie bei einer großen Tischdecke. Wenn man an einer Ecke zieht, merkt man, es kommt alles irgendwie nach.
Florin: Das heißt, Sie müssten in diesem Gebäude Kirche jeden Stein umdrehen und es könnte sein, dass am Ende keiner auf dem anderen bleibt.
Wilmer: Nein. Das heißt für mich, dass wir einen neuen Umgang haben müssen mit Macht. Es kann nicht sein, dass wir nur top-down unterwegs sind. Wir brauchen Kontrolle, wir brauchen ein Gegenüber, wir brauchen Prüfung. Und das muss institutionell verankert werden und wir brauchen eine enge Zusammenarbeit auch mit Behörden, wenn es dann um Vergehen und Verbrechen geht, die dafür zuständig sind. Aber kirchenintern auf alle Fälle Strukturen, die wegkommen von monarchistischen Tendenzen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.