Dienstag, 30. April 2024

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Borderline Europe zur Flüchtlingsversorgung
"Die griechischen Verantwortlichen tauchen komplett ab"

Die Hilfsorganisation Borderline Europe hat den griechischen Behörden Untätigkeit in der Flüchtlingshilfe vorgeworfen. Vorstandsmitglied Elias Bierdel sagte im DLF, an den Küsten, an denen seit einem Jahr die Boote ankämen, gebe es bis heute keinerlei staatliche Einrichtungen zur Versorgung. Die griechischen Verantwortlichen seien komplett abgetaucht.

Elias Bierdel und Renan Demirkan im Gespräch mit Jasper Barenberg | 31.12.2015
    Flüchtlinge bei ihrer Ankunft an der Küste von Lesbos (5. Oktober 2015)
    Flüchtlinge bei ihrer Ankunft an der Küste von Lesbos (5. Oktober 2015) (dpa / picture-alliance / Zoltan Balogh)
    Die Hilfsorganisation Borderline Europe wirft griechischen Behörden zudem vor, ehrenamtliche Hilfe zu behindern. Als die Organisation ein Winterquartier aufbauen wollte, so Bierdel, hätten die Behörden immer wieder auf den bürokratischen Weg verwiesen und damit eindeutig ihren Unwillen gezeigt, Strukturen entstehen zu lassen, die auf Dauer helfen könnten, sagte Vorstandsmitglied Elias Bierdel in einem Doppelinterview im DLF. Offizielle Stellen seien an den Küsten vollkommen abwesend. Es gebe dort kein funktionierendes staatliches System. Die Versorgung der Flüchtlinge werde allein den freiwilligen Helfern überlassen
    Die Schauspielerin und Autorin Renan Demirkan betonte im Gespräch, dass die Flüchtlinge mutige Menschen seien. "Diese Menschen verdienen unseren ganzen Respekt, unsere Achtung und unsere Unterstützung." Deutschland hätte noch ganz viel Nachholbedarf. Doch sei das Jahr 2015 ein ganz signifikantes Jahr in den Köpfen der Menschen gewesen: "Dieses Land hat in diesem Jahr einen unglaublichen Quantensprung gemacht im Umgang mit massenhaft neuen Menschen in diesem Land."

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Ein Akt des zivilen Widerstandes gegen die Abschottungspolitik der EU mit ihren tödlichen Folgen für Migranten – so will die Organisation Borderline Europe ihre Arbeit verstanden wissen. Es geht darum, umfassend zu informieren und die Arbeit von Initiativen in ganz Europa zu vernetzen. Die dramatische Situation der Flüchtlinge rund ums Mittelmeer war für Borderline Europe außerdem Grund genug, sich vor Ort selbst zu engagieren. Auf der Insel Lesbos hat sie ein eigenes humanitäres Hilfsprojekt organisiert, um den Schutzsuchenden und den Flüchtlingen dort zu helfen, nach Möglichkeit auch, um für eine sichere Weiterreise zu sorgen. Dort hat auch Elias Bierdel in diesem Jahr viel Zeit verbracht. Er ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!
    Elias Bierdel: Guten Morgen, Herr Barenberg!
    "Eigentlich eine völlig unfassbare Situation"
    Barenberg: Flüchtlinge kommen auf den griechischen Inseln an. Wir haben davon alle Bilder im Kopf von Menschen in kleinen Schlauchbooten, von Rettungswesten, zurückgelassenen, am Strand. Geben Sie uns einen Eindruck von einem solchen Moment, den Sie ja ein ums andere Mal in diesem Jahr erlebt haben.
    Bierdel: Ich war ungefähr ein halbes Jahr auf der Insel Lesbos, und das sind ganz bestimmt auch meine Bilder des Jahres, eben diese winzigen Bötchen, die schon so überladen sind unterwegs, dass sie eigentlich gesunken schon ankommen. Das kann man sich kaum vorstellen, also das sind Schlauchbötchen, die eigentlich für maximal zwölf Personen zugelassen sind, sowieso schlechte Qualität, schlechter Motor, schlechte Verarbeitung, die Menschen eben auch kaum mit Rettungsmitteln an Bord. Und dann eben nicht nur zwölf, wie das nach Vorschrift bei uns erlaubt wäre, sondern eben 50 oder noch mehr Menschen auf so einem Bötchen. Die drücken dann durch ihr Gewicht diese Luftkammern unter Wasser und kommen eben schon so halb gesunken da an.
    Viele sind klatschnass, das ist im Sommer vielleicht noch nicht das größte Problem, aber jetzt eben, wenn es kälter wird, dann ist das eine ganz entsetzliche, auch furchtbar gefährliche Situation. Und wenn man dann eben sieht, ein paar Kilometer weiter ist ja die türkische Küste, von dort drüben kommen die Menschen. Es sind ja vor allen Dingen Syrer und Afghanen, die auf Lesbos zum Beispiel ankommen, aus völlig nachvollziehbaren Gründen sind die geflohen, und das die eben sehr gern auch die Fähre nehmen würden, die es da gibt, aber das wird ihnen nicht erlaubt, und darum sind sie gezwungen, diese Boote zu benutzen, und kommen dann oft mehr tot als lebendig an. Und manche eben auch nicht. Das muss man auch noch mal ganz klar sagen, dass hier in diesem ganz winzigen Seegebiet - das ist ja nicht so wie vor Sizilien oder dort unten in dieser Passage des Mittelmeers, dass es um Hunderte Kilometer offenes Wasser geht. Hier sind es nur zehn Kilometer, man kann das mit bloßem Auge überschauen. Und dass da noch Menschen sterben in Hundertergrößen, das ist eigentlich eine völlig unfassbare Situation.
    Barenberg: Und eine sehr gefährliche Reise bis zu diesem Punkt. Ich stelle mir vor, jetzt haben Flüchtlinge, die sich auf den langen Weg gemacht haben, Europa erreicht - was bedeutet das den Menschen, diesen Punkt schon einmal geschafft zu haben?
    Bierdel: Das ist wirklich ein Moment der Erlösung. Viele fallen auf die Knie, viele weinen. Und was wir natürlich gesehen haben, die haben heute auch Mobiltelefone - ja, wie denn auch nicht, die Jugend in der ganzen Welt hat so was -, und das erste Wort, das wir ganz oft gehört haben von Jüngeren, auch von Älteren, war das Wort "Mama". Die melden sich also irgendwie zu Hause und sagen erst mal, ich habe diese gefährliche Passage bis hierher überstanden, ich bin jetzt in Europa. Mit ganz, ganz großen Erwartungen und dann auch mit einiger Überraschung über das, was sie dann da vorfinden.
    "Eine komplette Abwesenheit aller offiziellen Stellen"
    Barenberg: Große Erwartungen ganz gewiss. Auf der anderen Seite haben wir viel berichtet über die Überforderung der griechischen Behörden. Wen wundert das auch bei diesen Mengen, damit irgendwie umzugehen. Wie viel Hilfe ist nötig, wenn die Menschen an den Stränden ankommen? Was wollen Sie vor allem bieten, um zu helfen?
    Bierdel: Da kann ich nur sagen, es ist eine komplette Abwesenheit aller offiziellen Stellen, sowohl der griechischen als auch irgendwie internationaler, also sagen wir mal zum Beispiel der EU. Dort an diesen Küsten, wo ja nun schon seit fast einem Jahr die Boote ankommen mit den Menschen, gibt es bis zum heutigen Tag kein funktionierendes, irgendwie staatliches System für die Aufnahme von Menschen, sondern das ist allein überlassen irgendwelchen NGOs, Helfergruppen, Freiwilligen.
    Auch wir haben versucht, dort einen Beitrag zu leisten, aber es ist ganz schrecklich schwierig, und dann hatten wir auch noch den Effekt, dass uns dort von Behördenseite, von offizieller Seite erhebliche Steine in den Weg gelegt wurden. Wir hatten den Plan, dort ein Winterquartier zu errichten, unter anderem, also neben der Erstversorgung der Menschen, die dort ankommen. Ein Winterquartier, weil wir wissen, es kann schrecklich kalt werden auf der Insel, jetzt spätestens im Januar, Februar, mit Temperaturen bis zu minus 20 Grad, die ich dort schon erlebt habe, noch eine ganz andere Situation. Und dann eben mussten wir sehen, wie man uns dort immer wieder auf den bürokratischen Weg verwiesen hat, also ganz eindeutig auch ein Ausdruck des Unwillens, dass man dort Strukturen schafft, die wirklich auf Dauer helfen könnten.
    Also, das ist eine schwere Gemengelage, und natürlich ist es gut, wenn es so viel freiwillige Hilfe gibt. Das ist so ein bisschen wie auch in Deutschland, ein Aufbruch, den man da spürt, und Internationale, die dort hinströmen, junge Menschen, die was tun wollen. Das ist an sich toll, aber wenn man sieht, dass dort eben die Verantwortlichen komplett abtauchen und sich nicht mehr blicken lassen, dann ist das schon etwas, was man eigentlich so nicht stehen lassen darf und was man auch skandalisieren muss, selbst wenn es eine Regierung betrifft wie die griechische, die es nun nicht leicht hat, das stimmt schon. Aber sie tun nicht einmal das, was sie leichttun könnte.
    Barenberg: Über die notwendigen Schlussfolgerungen wollen wir gleich noch weiter sprechen. Elias Bierdel, Sie bleiben in der Leitung. Ich möchte in der Zwischenzeit Renan Demirkan begrüßen, die Schauspielerin, Autorin, geboren in der Türkei, die als siebenjähriges Mädchen 1962 mit ihrer Familie nach Deutschland kam. Schönen guten Morgen, Frau Demirkan!
    Renan Demirkan: Guten Morgen nach Köln!
    Barenberg: Wir haben gerade gesprochen, Sie haben ja mitgehört, über die schwierige Situation für die Flüchtlinge, die dann ja auch noch den langen Weg oft vor sich hatten über den Balkan, bis sie dann am Ende, sagen wir, in Deutschland angekommen sind. Das sind sehr viele. Wie haben Sie, mit welchen Gedanken haben Sie diese enorme Wanderungsbewegung in diesem Jahr verfolgt und begleitet?
    Demirkan: Ich habe eigentlich gar nicht viel gedacht. Ich war immer nur, immer nur und immer wieder verwundert. Weil es war ja nicht dieses Jahr. Es ist ja schon seit Jahren, dass das immer wieder in den Nachrichten mit ganz großen Verlustzahlen eigentlich nebenbei behandelt wird, dass Menschen von Afrika auf der Flucht, einfach mal 150 ertrunken sind oder 50 oder 15. Das ist ja nicht dieses Jahr das erste Mal, dass Menschen auf der Flucht sind und dann auch nicht ankommen. Diese große Bewegung, dass das mit so viel Leid verbunden ist, hat mich seit Jahren schon beschäftigt. Und dass das in diesem Jahr dermaßen ganz ins Hirn sich auch eintätowiert hat und eingebrannt durch das Foto dieses kleinen Jungen, der bäuchlings auf dem Strand liegt, das ist etwas, was für mich in diesem Jahr tatsächlich unvergessen bleibt. Es ist ein schmerzhaftes Jahr für die Menschen gewesen, die sich auf den Weg gemacht haben für ein besseres Leben. Und dass so viele dabei nicht angekommen sind, das ist wirklich etwas, was mich ganz tief in der Seele berührt und wehtut, schlichtweg nur wehtut.
    Barenberg: Wenn wir an die denken, die es geschafft haben und nach Deutschland gekommen sind, sich versuchen, jetzt hier einzurichten - denken Sie da manchmal auch an Ihre eigenen Erfahrung mit dem Gedanken, dass Sie wissen und sich darüber im Klaren geworden sind über die vielen Jahre, die Sie sich damit beschäftigt haben, was es ausmacht, einen Start in einem neuen Land hinzubekommen.
    Demirkan: Ich hatte ja Gott sei Dank nicht diese Qual bei dem Wechsel von Standpunkten oder bei der Wanderschaft zwischen zwei Welten. Ich bin ja nicht geflohen. Ich hatte ein Ticket, ich bin mit der Bahn gefahren, zwei, drei Tage und zwei Nächte. Und es war auch hier das Ankommen nicht immer ganz leicht für meine Eltern, die sich in dieser Welt, der neuen Welt behaupten mussten. Aber es war 1962, es war eine ganz andere Zeit, Nummer eins. Es war nicht, dass von A nach B Menschen mich verfolgt haben und uns nicht haben wollten. Das heißt, wir standen nicht an Zäunen, wir mussten nicht betteln, lasst uns rein. Das heißt, ich kenne das, was diese Menschen durchgemacht haben, Gott sei Dank nicht.
    Ich weiß nur, es sind irrsinnig mutige Menschen. Es sind auch in ihren eigenen Ländern Ausnahmen, Ausnahmemenschen, die diese ungeheure Aufgabe auf sich nehmen, sich, ihr Kind, ihre Kinder, ihre Eltern auf dem Rücken tragend von einer Welt in die andere machen. Diese Menschen verdienen unseren ganzen Respekt, unsere Achtung und unsere Unterstützung. Es sind Menschen voller Energie, die wirklich in einem neuen Land auch mit einer unglaublich neuen Energie ankommen. Das weiß ich von meinen Eltern. Und da ist die Ähnlichkeit. Dass meine Eltern sich losgemacht haben, weil sie ein besseres Leben für ihre Kinder wollten. Auch für sich, aber in der Regel für ihre Kinder. Und dann, in diesem neuen Land wirklich mit ganz großer Energie, Bereitschaft, Aufopferung, Neugier angefangen, ein neues Leben zu kreieren. Sie sind unerschütterlich zukunftsorientiert gewesen. Und das sind Menschen, das sind Menschen, nennen wir es jetzt einfach mal, die sich auf den Weg machen. Ob sie jetzt nun aus Kriegsgründen fliehen, und da ist jetzt das Entscheidende, oder aus wirtschaftlichen Gründen fliehen, wie es bei meinen Eltern war, denn damals war die Türkei in einem Riesenchaos gewesen, das spielt für mich nicht die geringste Rolle.
    Barenberg: Wir haben heute Morgen in dieser Sendung schon mit Hassan Kabbesh gesprochen, einem Flüchtling, 28 Jahre alt, der in Damaskus geboren ist, seit drei Jahren in Hamburg lebt. Hören wir einmal an, was er sich wünscht und was er erwartet hier in Deutschland.
    Hassan Kabbesh: Ich habe eine Bitte an die Politiker hier in Deutschland: Bitte lassen Sie uns nicht alleine wohnen. Wir möchten uns hier integrieren, wir möchten hier arbeiten, zusammenarbeiten, zusammen leben.
    "Dieses Land hat in diesem Jahr einen unglaublichen Quantensprung"
    Barenberg: So weit also Hassan Kabbesh. Renan Demirkan, wir hören noch mal das, was Sie auch beschrieben haben, diese Bereitschaft, diese Energie, den Willen, irgendwie sich ein neues Leben zu meistern in Deutschland. Sind wir eigentlich alle schon eingestellt auf die Größe der Herausforderung, die das auch bedeutet?
    Demirkan: Das weiß ich nicht. Ich glaube, da ist noch ganz viel Nachholbedarf. Wir haben vor allen Dingen Nachholbedarf von über 50 Jahren Einwanderungsgeschichte in Deutschland, die noch nicht in diesem Land passiert ist. Aber ich bin unendlich glücklich, in diesem Land zu leben, weil dieses Jahr für mich ein ganz signifikantes Jahr in den Köpfen der Menschen im Land, also in der breiten Bevölkerung war, und in den Köpfen der Politiker. Dieses Land hat in diesem Jahr einen unglaublichen Quantensprung gemacht im Umgang mit massenhaft neuen Menschen in diesem Land. Seien es die Politiker gewesen - mir standen die Tränen in den Augen, als ich die Bundestagsdebatten gehört habe, wo erzkonservative Menschen gesagt haben, die bislang gegen Einwanderungspolitik waren und die sogar Hetze betrieben haben, wenn sie den Mund auch nur aufgemacht haben, wenn neue Menschen in das Land kamen, die gesagt haben, wir wollen nicht die Fehler in den 60er- und 70er-Jahren wiederholen.
    Es sind Menschen da, die gesagt haben, wir müssen uns verhalten, und zwar so, dass wir die Menschen dort abholen, wo sie sind, und nicht erst drauf warten, dass sie bei uns in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Das heißt, es gibt wirklich viel zu tun, aber noch nie hat es, und das kann ich Ihnen aus meiner Beobachtung, und ich habe in diesem Jahr ein Buch herausgebracht, "Migration. Das unbekannte Leben", weil ich seit den 80er-Jahren ständig ästhetisch mich damit auseinandersetze, sei es auf der Bühne oder sei es in Büchern, in Schriften, in Aufsätzen und Artikeln. Es war noch nie in diesem Land diese Form der Bereitschaft dagewesen, sich dem Neuen zu stellen, sei es in der politischen Aufgabe, Einwanderungsgesetze zu schaffen, sei es rein in der wohnungstechnischen Frage, wo bringen wir diese Menschen unter, dass man sie nicht sofort an die Ränder schiebt, in irgendwelche Gettos, sondern sagt, wir müssen sie unter uns aufnehmen, also auch unter uns verteilen, mitten in der Mitte.
    Barenberg: Renan Demirkan, lassen Sie uns kurz noch Elias Bierdel noch mal mit ins Boot holen, der ja vorhin ...
    Demirkan: Ja. Liebe Grüße übrigens, lieber Elias, ich bewundere deine Arbeit!
    Bierdel: Hallo Demirkan. Ich deine auch. Seit den 80er-Jahren in Dortmund im Theater.
    Demirkan: Ja, ganz genau. Wir beide kennen diesen Mist in den 80ern aus Dortmund, wo die Borussenfront alles plattgemacht hat, was schwarze Haare hatte.
    "Hier geht es um Friedenspolitik"
    Barenberg: Elias Bierdel, noch mal zurück zu der Frage, was noch nicht gut läuft. Und da müssen wir über Europas Außengrenzen sprechen. Sie haben beklagt, dass es überhaupt kein System gibt der Aufnahme. Nun dreht sich die Debatte darum, in Europa eine Balance zu finden einerseits zwischen der Verpflichtung, Schutz zu bieten, andererseits die Grenzen der Belastbarkeit zu beachten, und das heißt eben auch, die Außengrenzen besser zu schützen. Wie nehmen Sie diese Debatte wahr?
    Bierdel: Die Belastbarkeit, das ist immer so ein bisschen wehleidig, und das akzeptiere ich eigentlich nicht, speziell in Deutschland nicht. Wir wissen ja heute, all diese Investitionen, so muss man es doch sehen, die wir heute in Integration, in Ausbildung von Menschen, die herkommen, leisten, diese Investitionen sind Investitionen in die Zukunft. Die Zukunft eines Deutschlands, das sich ändern wird, das eine neue Mischung auch von Bevölkerung, von Ideen, von Lebensweisen, von Kulturen haben wird, und das können wir eigentlich nur begrüßen.
    Ich habe noch einen Punkt, der mir sehr wichtig ist. Ich glaube, wir sollten an diesem - es ist ja Jahresende - vielleicht einen Schritt zurücktreten mal von der Frage der vermeintlichen Flüchtlingskrise und uns noch mal eindeutig klarmachen: Hier geht es um Friedenspolitik. Hier geht es um die Frage, wie wir mit unseren Nachbarn umgehen. Denn die meisten, die da unterwegs sind, sind auf die eine oder andere Weise auch durch europäische Politiken vertrieben worden. Da sind die ungerechten Handelsbedingungen, da ist der Waffenhandel. Da gibt es diese Frage vom sogenannten Krieg gegen den Terror, der dann wieder ganz andere Gewalt nach sich zieht, und am Ende noch der Klimawandel, wo wir wissen, wer ihn zu verantworten hat. Das sind die Industrienationen. Deshalb sind die Menschen, die zu uns kommen, eine enorme Chance, wirklich neue Konzepte auszuprobieren und zu leben miteinander, die friedlicher sind und nicht immer das letzte Mittel der Politik, den Krieg am Ende doch wieder aus dem Hut zu zaubern, wo wir wissen, es ginge eigentlich darum, die vorletzten Mittel, eben die friedlichen zu suchen. Das ist mir sehr wichtig, und die Chance ist da, auch durch die Menschen, die zu uns kommen.
    "Wir haben gar keine andere Wahl, deswegen müssen wir es hinkriegen"
    Barenberg: Die Chance ist da, sagt Elias Bierdel. Renan Demirkan, wir haben nicht mehr so arg viel Zeit vor den Nachrichten, aber das würde ich Sie dann doch gern noch fragen: Sind Sie, was das angeht, was Elias Bierdel gerade gesagt hat, was jetzt nötig wäre, sind Sie da zuversichtlich, dass zum Beispiel Europa das hinbekommt? Bisher hat man ja nicht den Eindruck.
    Demirkan: Wir haben gar keine andere Wahl, deswegen müssen wir es hinkriegen. Im Moment sieht es so aus, also würde Europa das nicht hinkriegen. Aber ich kann nicht anders, als unerschütterlich weiterhin an das Gute zu glauben. Ich bin sicher, dass wir da eine gemeinsame, für die Menschen sinnvolle Form des Zusammenlebens finden werden. Aber ich weiß auch, und das muss ich sagen aus meiner Erfahrung, dass das a) nicht leicht sein wird, und mein großes Bedenken ist, dass es schlichtweg zu lange dauern wird. Wir haben schlichtweg nicht die Zeit, uns ganz lange und ruhig zurückzulehnen und zu sagen, jetzt gucken wir mal. Es brennt um uns herum, und wir müssen ganz schnell Lösungen finden für die Menschen, übrigens, wie Elias auch sagte, sehr richtig: In letzter Konsequenz auch für uns selbst, der Krieg bleibt nicht vor den Türen. Der ist in uns, mit uns. Wir sind ein Teil dieser Kriege. Deswegen müssen wir uns dazu verhalten, und zwar so, dass wir einen respektvollen Umgang miteinander finden.
    Barenberg: Renan Demirkan, die Schauspielerin und Autorin heute hier live im Deutschlandfunk. Vielen Dank! Danke auch an Elias Bierdel von Borderline Europe für das Interview heute Morgen. Danke Ihnen beiden!
    Demirkan: Ich wünsche Ihnen allen ein ganz wunderbares 2016. Bleiben Sie gesund, und Frieden und Liebe für alle!
    Barenberg: Das wünsche ich Ihnen auch, Frau Demirkan, danke schön!
    Demirkan: Alles Liebe!
    Bierdel: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.