Archiv

Bov Bjerg: "Serpentinen"
Bloß kein Scheißvater werden

Ein Vater kehrt mit seinem kleinen Sohn in sein altes, schwäbisches Heimatdorf zurück. Alle Männer aus seiner Familie haben sich umgebracht, auch sein Vater. Kein Wunder, dass auch den Erzähler Selbstmordgedanken umtreiben. Kann er überhaupt ein guter Vater sein, geplagt von solchen Dämonen?

Von Jörg Magenau |
Bov Bjerg
Bov Bjerg hat 2018 mit seiner abgründigen Vater-Sohn-Geschichte den Dlf-Preis gewonnen (ORF / ORF-K / Johannes Puch)
"Um was geht es?"
Diese Frage strukturiert die Geschichte von Bov Bjergs neuem Roman, treibt sie an. Ein Sohn stellt sie seinem Vater. Die beiden verbringen ein paar Urlaubstage zusammen. Da will man schon wissen, was ansteht. Also fragt der siebenjährige Junge seinen Vater immer wieder:
Vater und Sohn reisen auf die Schwäbische Alp
"Um was geht es?"
Für den Jungen auf dem Beifahrersitz geht es ums Vergnügen. Um Serpentinen. Ums Bergauf fahren. Schalten. Gas geben. Und sich immer schön in die Kurven legen. Dann wieder bergrunter und nochmal rauf. Und schon steht der Titel fest, den der Berliner Autor Bov Bjerg seinem zweiten Roman gegeben hat: "Serpentinen". Man könnte auch sagen: Es gibt keinen geraden Weg in dieser Geschichte. Und für den Vater des Sohnes?
"Um was geht es für ihn?"
Für den Vater, der die kurvige Strecke auf die Schwäbische Alb hinauffährt, ist es eine Rückkehr in die Kindheit, ins Dorf und zu dem Haus, in dem er einst geboren wurde und das er seinem Sohn nun zeigen will. Dort, hinter diesem Fenster mit dem aufgeklebten Kürbis, ist er zur Welt gekommen. Seine Eltern aber waren Zugezogene. Der Vater des Vaters stammte aus Brandenburg, die Mutter aus Böhmen; seine Frau, eine Juristin, ist an der Ostsee aufgewachsen, während der gemeinsame Sohn in Berlin geboren wurde.
Familie, auf Herkunft bezogen, ergibt in der Moderne ein disparates Muster oder ein "Krikelkrakel", wie es der Erzähler formuliert. Wer da einen bestimmten Ort aufsucht, um nach seinen Wurzeln zu graben, folgt fast schon einer Illusion. Keiner weiß das besser als der Rückkehrer in Bov Bjergs Roman. Er ist ein angesehener Soziologe, der sich von seiner schwäbischen Provinzkindheit maximal entfernt hat, nun aber merkt, dass die alte Heimat ihn immer noch nicht loslässt verfolgt.
Alle Männer der Familie haben sich umgebracht
"Um was also geht es?"
In der Nacht zuvor, in einem Traum, rannte dieser Vater, der Ich-Erzähler der Geschichte, los, rutschte weg und trat im Fallen mit Wucht gegen einen Ball. Vom Schmerz im Fuß wacht er auf. Der Ball im Traum war die Wand des Hotelzimmers. Der Schmerz hält an. "Warum trittst du gegen die Wand?", fragte der Sohn. Er ist mit sieben Jahren exakt so alt, wie der Vater war, als dessen Vater sich umgebracht hat. Kein tragischer Einzelfall. Denn alle Männer in dieser Familie haben sich umgebracht. Oder, wie der Vater finster lakonisch bemerkt:
"Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere. Ich war noch am Leben. Vor Angst schlief ich ein."
Der siebenjährige Sohn ahnt nichts von dieser Angst seines Vaters. Angst um sich selbst und um ihn, den Jungen, dem er das nicht antun will, was sein Vater ihm angetan hat und was durch Großvater und Urgroßvater als Verhängnis über allen männlichen Familienangehörigen zu liegen scheint. Der große Knall vom Tritt an die Wand und der Schmerz im Fuß sind symptomatisch. Der Schmerz ist ein Lebensschmerz. Er ist immer da.
"Um was also geht es in dieser Vater-Sohn-Geschichte?"
Ums Leben. Oder genauer: Ums Überleben. Warum lebt man? Warum bringt man sich um? Das sind die ständig mitschwingenden Grundsatzfragen dieses existenziellen Romans, auf die es jedoch beunruhigerweise keine klare Antwort gibt. So überlegt der seinerseits suizidgefährdete Erzähler einmal:
"Ich hätte nicht einmal sagen können, warum ich mir selbst das Leben nahm, oder nicht nahm. Es war seltsam, dass es dafür einen Grund geben sollte. Als ob ein Suizid das Ergebnis einer logischen Operation wäre."
Der Erzähler, der seinem Jungen ein guter Vater sein will, leidet an Depressionen. Eine Therapie hat er abgebrochen, weil er es albern fand, einem Unbekannten, der da hinter ihm sitzt, seine Probleme auszubreiten. Aber vielleicht ist ja nun das Schreiben seine Therapie. Er trinkt zu viel, und einmal ist der Junge in die Scherben einer Bierflasche gestürzt und trägt seither eine Narbe auf der Stirn. Ein Zeichen. Zum Glück hat er überlebt. Ja, dieser Vater möchte ein guter Vater sein und nicht so ein "Scheißvater", wie es sein eigener, trinkender Vater einst für ihn war. Aber er weiß, dass auch er, wie alle Väter, nie gut genug ist. Manchmal denkt er darüber nach, den Jungen im Schlaf mit einem Kissen zu ersticken, um ihm all das zu ersparen, was in dieser Familie droht. Oder, wie er für sich selbst bilanziert:
Ist er auch nur ein Scheißvater?
"Diese Scheißwut der Scheißväter, gegen sich, gegen alle. Die Kinder mussten für die Kindheit ihrer Väter büßen. Ich war auch nur ein Scheißvater."
Bov Bjerg schlägt einen melancholischen und doch auch heiteren Ton an, der über dem von der ersten Seite an vorhandenen Schmerz, der Wut und der tiefen Traurigkeit seines Helden liegt. Diese Spannung macht den Reiz der im Grunde einfachen Geschichte aus, die keineswegs so düster ist, wie es sich anhört – auch wenn mit dem einstigen Freund Frieder, an den Bjerg-Leser sich als WG-Genossen aus dem Erfolgsroman "Auerhaus" erinnern, ein weiterer Selbstmörder ins Spiel kommt. Frieders Grab auf dem Friedhof im Heimatdorf besuchen Vater und Sohn jetzt auf ihrer Reise zurück an die Ursprünge.
Oberflächlich betrachtet verhält sich der Erzähler an den geschilderten Tagen durchaus vorbildlich: Er geht geduldig auf seinen eigenwilligen Sohn ein und wirkt dabei grundsympathisch. Doch in der Art und Weise, wie er über sich und die Welt nachdenkt, werden zugleich seine seelische Abgründe sichtbar, die sich nicht nur in den Steinbrüchen der Schwäbischen Alb auftun, wo der Vater zusammen mit dem Kind nach Fossilien aus dem Jura sucht. Die Versteinerungen der eigenen Lebensgeschichte und der "schwarze Gott der Depression" wiegen schwerer.
"Worum geht es also letztendlich in diesem vielschichtigen Roman?"
Tatsächlich lastet nicht nur die suizidale Familiengeschichte auf dem Erzähler. Dessen Blick auf die Gesellschaft ist zudem geprägt von der deutschen Geschichte, die für ihn jeden seiner Schritte untergräbt und andauernd präsent ist. Beim Stichwort "Autobahn" denkt er sofort an Nazis, also an Deportation. Wenn sein Sohn sich freut, wenn er in der Kurve Gas gibt, dann lautet seine Assoziation.
"Gas geben war ein Scheißausdruck"
Und wenn er sich ans Gebrüll seines Vaters erinnert, notiert er:
"In der Ermächtigung zum Brüllen lag die Ermächtigung zum Schlagen. Das war das Ermächtigungsgesetz."
So entsteht allmählich das Bild einer Kindheit der 60er und 70er Jahre in der Bundesrepublik, die von den autoritären Mustern der Vergangenheit bestimmt blieb – und die das Empfinden des Protagonisten bis in die Gegenwart bestimmt. Er gehört nicht zur Generation der 68er, die glaubten, sich in durch den Kampf gegen ihre Nazi-Väter selbst auf die sichere Seite gebracht zu haben. Er ist Teil des Verhängniszusammenhangs, Teil dieses Landes und seiner Geschichte, und auch das ist ein Grund seiner Traurigkeit zum Tode. Denn auch nach vorne, in die Zukunft hinein, gibt es kein Entkommen. Oder doch?
Buchcover: Bov Bjerg: „Serpentinen“
Buchcover: Bov Bjerg: „Serpentinen“ (Buchcover: Claassen Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
Gefangen im deutschen Verhängniszusammenhang
Vielleicht liegt ja gerade in der Rückkehr, in der Erinnerung und in all’ den Serpentinen, die in der Wiederholung der Lebensgeschichte ausgefahren werden müssen, doch so etwas wie eine Erlösungshoffnung. Das Gegenbild zu diesen Kurven ist in Bjergs Roman die neue ICE-Trasse, die derzeit auf die Alb hinauf entsteht, wo gewaltige Mengen Erde ausgehoben, Tunnel und Brücken gebaut werden, damit man in Zukunft ein bisschen schneller von Stuttgart nach Ulm kommt. "Die große Abkürzung" heißt das im Buch. Die Baustelle gerät immer wieder als "große Zerstörung" in den Blick. Sie zerstört Landschaft, Wissen und Tradition. Denn einfach nur geradeaus zu fahren, bedeutet auch, zu vergessen, wo man herkommt. Dem Fortschritt, den er skeptisch betrachtet, und der Geradlinigkeit setzt Bov Bjergs Erzähler die Serpentinen seines Lebensweges entgegen.
Vor allem aber lässt die quirlige Lebendigkeit des Jungen darauf hoffen, dass es vielleicht doch möglich ist, irgendwann mit der Geschichte zu brechen. Deshalb soll er wissen, wo der Vater herkommt, aber nicht dessen Angst übernehmen.
Bov Bjerg ist mit "Serpentinen" ein subtiler, leicht zu lesender Vater-Sohn-Roman gelungen, der von der Macht der Herkunft und der Familie handelt, der aber auch zeigt, dass Veränderung und Befreiung möglich sind. Er tut das angenehm zurückgenommen, ohne groß aufzutrumpfen, ohne Besserwisserei, mit einem zweiflerischen Erzähler, der sich von der Sogkraft seiner Depressionen nicht die Lebensfreude nehmen lassen will. So schafft es der Autor, aus all dem Schweren ein großes Lesevergnügen zu machen.
Bov Bjerg: "Serpentinen"
Claassen Verlag, Berlin. 270 Seiten, 22 Euro.