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Brasilien
Der arme Fußballer-Exportweltmeister

2018 haben brasilianische Fußballclubs so viele Spieler auf den Weltmarkt exportiert, wie kein anderes Land – mal wieder. Damit machten die Clubs zwar einen Rekordgewinn, sind aber dennoch hoch verschuldet. Ein Unglück zeigt nun, unter welch schlechten Bedingungen viele Kinder in den Trainingszentren aufwachsen.

Von Carsten Upadek |
Fuballprojekt in einer Favela im brailianischen Bundesstaat Mato Grosso
Millionen von Kindern in Brasilien träumen davon, Profifußballer zu werden (imago/Westend61)
Um 5:17 Uhr am Morgen des 8. Februars 2019 geht ein Alarm ein bei der Feuerwehr Rio de Janeiro. Es brennt im Trainingszentrum von Brasiliens beliebtestem Fußballclub, Flamengo. Ein provisorischer Schlafcontainer mit sechs durch Schiebetüren verbundenen Räumen steht in Flammen. Die Fenster sind vergittert, es gibt nur einen Ausgang.
26 Jungen zwischen 14 und 16 Jahren werden im Schlaf von dem Feuer überrascht. Zehn von ihnen sterben. Ihre Leichen sind nur durch die Zahnabdrücke zu identifizieren. Uedson Candido und seine Frau haben bei dem Unglück ihren Sohn Pedro verloren, 14 Jahre alt. Er sagt: "Wir sind erschüttert und traurig über diese Tragödie. Wir haben große Sehnsucht nach unserem Jungen. Er war so ein liebevolles Kind."
Keine Kontrollen
Fast so stark wie die Trauer ist Uedsons Wut auf Flamengo, einen der reichsten Fußballclubs Brasiliens. Gerade modernisiert der Verein sein Trainingszentrum für mehrere Millionen. Inspektoren der Feuerwehr ließ der Verein jedoch nie auf das Gelände und ignorierte laut Stadtverwaltung Rio bis zum Unglück 31 Bußgeldbescheide. Die Ermittlungen laufen noch. Eigentlich äußert sich Flamengo nicht zu dem Brand und den Toten.
Dem Deutschlandfunk sagte der Verwaltungsdirektor Bruno Spindel jedoch: "Das war ein Unglück und hat uns sehr traurig gemacht. Wir sind bestürzt für die Familien. Das sind zehn Söhne, die auch Flamengo verloren hat. Aber Flamengo ist einer der Clubs in Brasilien, die am meisten in den Nachwuchs und die Infrastruktur investieren."
Laut Stadtverwaltung haben auch die Trainingszentren zweier anderer Erstligaclubs aus Rio - Vasco und Fluminense - keine gültige Betriebserlaubnis. Das Problem ist ein generelles, sagt der Fußballblogger Rodrigo Mattos vom meistbesuchten Nachrichtenportal Brasiliens, UOL.
"Der Fall enthüllt die Art, wie die Clubs mit ihren Kindern umgehen. Flamengo ist weit davon weg, die schlechtesten Bedingungen zu haben im Vergleich zu anderen Clubs. Das ist ein großes Problem. Es müsste eine Generalüberholung der Nachwuchsarbeit der brasilianischen Clubs geben."
Das Geschäft mit den Talenten
Millionen von Kindern in Brasilien träumen davon, Profifußballer zu werden. Talente sind in Brasilien ein Rohstoff, der nicht auszugehen scheint. Die Ausbeutung dieses Rohstoffs ist zu einem sehr lukrativen Geschäftsmodell geworden. Allein 2018 haben brasilianische Clubs laut FIFA 832 Spieler auf den Weltmarkt "exportiert", so viele wie kein anderes Land. Das spülte umgerechnet knapp 300 Millionen Euro in die Kassen.
"Brasilien hat immer schon viele Spieler ins Ausland verkauft. In letzter Zeit aber sind Clubs wie Flamengo, Palmeiras oder Gremio in einer besseren finanziellen Situation und können den Angeboten der Europäer länger widerstehen. Deshalb ist der Preis deutlich höher."
Tiefes Finanzloch
Die Einnahmen der brasilianischen Clubs beim Spielerverkauf haben sich seit 2015 mehr als verdoppelt. Der Eindruck, der brasilianische Fußball schwimme im Geld, sei aber falsch, sagt der Finanzexperte Amir Somoggi von der Agentur "Sports Value". Er schätzt, dass sich zur gleichen Zeit die Gesamtschulden der Proficlubs auf umgerechnet 1,5 Milliarden Euro summierten:
"Die brasilianischen Clubs leben zu einem wichtigen Anteil vom Verkauf ihrer Spieler. Nach TV-Einnahmen ist das der wichtigste Einnahmeposten. Aber trotz Rekordeinnahmen können die 20 wichtigsten Clubs, auf die sich 81 Prozent aller Einnahmen konzentrieren, ihre Schulden nicht abtragen. Das Finanzloch ist in vielen Jahren des schlechten Managements immer tiefer geworden."
Wenige brasilianische Clubs wie Flamengo haben mit Hilfe externer Berater ihre Strukturen professionalisiert und ihre Schulden in den Griff bekommen. Dem Großteil geht es wie Vasco da Gama, ebenfalls aus Rio de Janeiro: Vasco verkaufte letztes Jahr seinen damals 17-jährigen Nachwuchsstar Paulinho für 20 Millionen Euro an Bayer Leverkusen. Eine Rekordeinnahme für Vasco. Aber auch der einzige Grund, warum der Klub in der vergangenen Saison die Gehälter bezahlen konnte.
Kein Interesse an Professionalisierung
"Das ist die Wirklichkeit der Mehrheit der Clubs. Wie ein Hund, der seinem eigenen Schwanz herrennt", so Fußballblogger Mattos. "Es ist leicht gesagt, die Clubs müssen sich professionalisieren. Es bedarf einer Umstrukturierung der gesamten Verwaltung wie bei einem Unternehmen mit einem Finanzgremium, das über denen steht, die die Ausgaben tätigen."
Fast die Hälfte der enormen Schulden besteht aus Steuerschulden, hat Amir Somoggis Firma "Sports Value" errechnet. Und deren Bezahlung ignorieren die Clubs weitgehend. Versuche aus der Politik, den Clubs Unternehmensstrukturen schmackhaft zu machen, scheitern.
"Clubs müssen lernen, eigene Liga zu gründen"
Auch Brasiliens Fußball-Boss, Verbands-Präsident Rogério Caboclo, gibt sich gegenüber dem Deutschlandfunk machtlos: "Wir können die Clubs nicht zwingen, eine Rechtsform anzunehmen, die sie nicht wollen und die rechtlich nicht verpflichtend ist."
Allerdings hat der brasilianische Fußballverband selbst auch wenig Interesse an professionelleren Strukturen. Dadurch würde er nämlich Einfluss verlieren. Der beste Weg wäre für Finanzexperte Somoggi ein aus Europa bekannter:
"Die brasilianischen Clubs müssen lernen, ihre eigene Liga zu gründen, den politischen Streit zu beenden und angestellte Profi-Manager die Geschäfte führen lassen."
Was sind tote Talente wert?
Doch das ist nicht in Sicht. Und so hängt die Existenz vieler brasilianischer Clubs weiter am Verkauf von Talenten ins Ausland, um über die Saison zu kommen. Teil dieser Nachwuchs-"Industrie" sind nach Schätzungen bis zu 15.000 Talente. Ihre Chance, Profi zu werden, liegt bei unter fünf Prozent.
Dafür nehmen sie vieles in Kauf. Auch Pedro, der im Trainingszentrum von Flamengo verbrannte 14-jährige Junge. Ein Jahr vor dem Feuer ließ ihn sein Vater Uedson allein aus dem Landesinneren ins 500 Kilometer entfernte Rio de Janeiro ziehen und klagt jetzt an.
"Es geht nicht, Kinder in einen Container zu sperren. Kinder, die weit weg sind von ihren Familien, um ihren Traum zu leben, Fußballer zu werden. Und die sperrt Flamengo in einen Container, wie Hunde."
Bis heute hat sich der Club nicht einmal entschuldigt. Es geht auch um eine finanzielle Entschädigung für die Familien der Opfer. In diesem Fall ist die Frage: Was ist ein toter Nachwuchsfußballer im Milliardengeschäft um Fußballtalente wert?