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Jacques Poulin: "Volkswagenblues"
Brav in YMCA-Zimmern

Wenn ein schwarzer Kater, eine junge Frau namens die Große Heuschrecke und ein Schriftsteller in einem alten Bulli zusammen auf Reisen gehen, entsteht ein "Volkswagenblues" - ein literarisches Echo auf das berühmte "On the Road" von Jack Kerouac.

Von Antje Strubel | 10.11.2020
Jacques Poulin: "Volkswagenblues" Zu sehen ist der Autor und das Cover des Buches
Roadtrip auf der Spur des verschwundenen Bruders (Cover: Hanser Verlag / Foto: Pierre Filion)
Eines Morgens erwacht der Schriftsteller Jack Watermann in seinem alten Bulli auf dem Campingplatz von Gaspé vom Miauen einer Katze. Im Rückfenster sieht er eine junge Frau vorbeigehen, die kurz darauf zu seiner Reisegefährtin wird. Watermann, um die 40 und geplagt von einer Schreibkrise, ist auf der Suche nach seinem verschwundenen Bruder Theo. Die junge Frau, von der ein Elternteil zur indigenen Bevölkerung gehört und die wegen ihrer langen dürren Beine die Große Heuschrecke genannt wird, beschließt, ihn zu begleiten.
"Das Mädchen öffnete die Beifahrertür. Ihr Gesicht war knochig und ihre Haut von dunklem Teint, die Augen waren ausgesprochen schwarz und ein wenig mandelförmig. Sie trug ein weißes Baumwollkleid."
Jedem Hinweis folgend
Die letzte Ansichtskarte des Bruders Theo kam aus Gaspé, einem Ort auf einer Halbinsel im Nordosten Kanadas, die als "Wiege französisch Amerikas" gilt, seit der französische Entdecker Jaques Gartier hier landete. Von hier bricht das ungleiche Paar zur amerikanischen Westküste auf, jedem kleinen Hinweis auf den Bruder folgend. Sie wechseln sich am Steuer ab, erzählen einander Geschichten, während der Kater im Handschuhfach liegt.
Sie schlafen in winzigen Zimmern von YMCAs, häufig im Bus, bald auch im selben Bett. Zuerst sind sie noch auf den Pfaden französischer Entdecker unterwegs, später auf den Trails, auf denen die ersten Siedler und die Goldgräber über die Rocky Mountains zur Westküste gelangten, und schließlich auch entlang der wenigen verbliebenen Spuren längst ausgerotteter indigener Völker Amerikas.
"Sie kamen an eine Brücke und sahen vor sich einen breiten Wasserlauf mit gelbem, schwerem Wasser; ohne ein Wort wechseln zu müssen, war ihnen beiden sofort klar, dass es sich um den Mississippi handelte, den Vater der Gewässer, den Fluss, der Amerika in zwei Hälften teilte und den Norden mit dem Süden verband, den großen Fluss von Louis Jolliet und Pater Marquette, den heiligen Fluss der Indianer, den Fluss der schwarzen Sklaven und der Baumwolle, den Fluss Mark Twains und William Faulkners, des Jazz und der Bayous, den mythischen, sagenumwobenen Fluss, von dem es hieß, er verkörpere die Seele von Amerika."
Wie ein Puzzle
Inspirieren ließ sich Jaques Poulin in seinem Roman von einem berühmten Landsmann, dem frankokanadischen Dichter und Beatnik Jack Kerouac. Nicht von ungefähr trägt seine Hauptfigur denselben Vornamen. Nicht von ungefähr führt auch ihre Reise unter anderem nach St. Louis, der Heimat von William Burroughs, einem anderen Beat-Poeten, und endet im City Lights Buchladen von San Francisco.
Das Schicksal des Bruders, das sich den beiden Reisenden wie ein Puzzle zusammensetzt, erinnert in seiner Rastlosigkeit, inklusive Gefängnisaufenthalt, ebenfalls an Kerouac. Der Schlüssel zum Bruder findet sich in einem Foto, auf dem Theo mit einem anderen Beat-Poeten abgebildet ist, Lawrence Ferlinghetti, dem Gründer von City Lights.
Während "On The Road" wegen seiner freizügigen Sexszenen und seines experimentellen Stils zuerst berüchtigt und dann berühmt wurde, wird bei Poulin leserfreundlich konventionell in kurzen Kapiteln, realistischem Stil und braver Harmlosigkeit erzählt. So leserfreundlich, dass auch von dem, worum es Poulin auf seinem Roadtrip noch zu gehen scheint - der amerikanischen Entdecker- und Siedlungsgeschichte auch aus Sicht der indigenen Bevölkerung nachzuspüren - nur in kleinen, verdaulichen Happen zu erfahren ist.
Die Brutalität der US-Armee
Nur manchmal blitzen eindrückliche Momente auf, die zeigen, was aus diesem Stoff hätte werden können. Wenn sich etwa die Große Heuschrecke und der Schriftsteller auf berührende und zugleich witzige Weise auf der kontinentalen Wasserscheide nahekommen, oder wenn es um die Brutalität der US-Armee gegen die Indigenen geht oder um etwas so Praktisches wie das Ausbauen einer Kraftstoffpumpe in der Wüste von Nevada.
"Das Mädchen nahm sich eine Feststellzange, kroch unter den Bus und klemmte den Gummischlauch ab, der vom Tank zum Motor führte. Sie erklärte Jack, wozu das gut war. Dann schraubte sie die Benzinleitung von der Pumpe und machte sich daran, die Pumpe selbst auszubauen. Sie ging systematisch vor, erklärte jeden Handgriff, und der Mann versuchte, ihren jeweils nächsten Schritt vorauszuahnen und das nötige Werkzeug bereitzulegen. Da sie in der Sonne arbeitete, baute er ihr aus der Flanelldecke ein kleines Vorzelt. Damit sie nicht die ganze Zeit vor dem Motor kauern musste, holte er den gelben Hocker aus dem Bus. In eine große Schüssel hatte er kaltes Wasser gefüllt, und von Zeit zu Zeit wischte er ihr die Stirn mit einem feuchten Handtuch ab."
Lahm wie der alte Bulli
Obwohl Poulin ein außergewöhnliches Paar zusammen mit einer kleinen Katze auf eine vielversprechende Reise schickt, wird das Versprechen nicht eingelöst. So lahm wie der alte Bulli trödelt der Text vor sich hin. Mäßig unterhaltsam geraten die Besuche in Bibliotheken und Museen von Toronto, Detroit oder Chicago, wobei der Eindruck entsteht, der verschollene Bruder sei mehr ein Vorwand, um Infos über Neufrankreich am Mississippi oder die Geschichte der Eingeborenen unterzubringen, bis der Präriesand nicht nur ins Getriebe des Bullis, sondern auch in das der Erzählung rieselt und jede Art von Spannung oder Originalität zum Erliegen bringt.
Die überaus korrekte, aber recht blutleere Übersetzung von Jan Schönherr kann das Steuer leider auch nicht herumreißen. Schade. Denn wie gern wäre man der Großen Heuschrecke tiefer in die Geschichte der indigenen Völker gefolgt oder dem Schriftsteller in seine ganz eigene Idee von der Sanftheit. Wer etwas über die ersten Siedler erfahren möchte, sollte besser zu Joan Didions "Woher ich kam" greifen.
Jacques Poulin: "Volkswagenblues"
Aus dem Französischen von Jan Schönherr
Hanser Verlag, München, 254 Seiten, 23 Euro.