Freitag, 19. April 2024

Archiv

Brexit-Abstimmung im Unterhaus
"Idee eines zweiten Referendums gewinnt an Stimmen"

Die liberale britische Abgeordnete Wera Hobhouse will die Hoffnung auf ein zweites Brexit-Referendum nicht aufgeben. Ob weicher oder harter Brexit sei ihr egal - solange die Briten darüber abstimmen dürften, sagte Hobhouse im Dlf. Diese Option war gestern im Unterhaus nur knapp gescheitert.

Wera Hobhouse im Gespräch mit Stefan Heinlein | 28.03.2019
Premierministerin Theresa May spricht im britischen Unterhaus
Premierministerin Theresa May hatte ihren Rücktritt angeboten, sollten die Abgeordneten für ihren Brexit-Deal stimmen (picture alliance/ PA Wire/ House of Commons)
Kein einziger der acht Anträge zum Brexit erhielt bei der Abstimmung im britischen Unterhaus gestern eine Mehrheit. Das Frustierende an der derzeitigen Situation sei, dass immer alle Möglichkeiten zur Wahl stünden, so Hobhouse weiter. Auch der Brexit-Deal, den Premierministerin Theresa May mit der EU ausgehandelt hat und der bereits zweimal abgewählt worden sei, würde immer wieder vorgelegt.
"Wenn mann immer nur mit Ja oder Nein stimmen kann und es keine Präferenzen gibt und immer alles zurückkommt auf den Tisch, dann macht das einen Durchbruch schwierig", erklärte die in Deutschland geborene Abgeordnete der Liberalen im britischen Parlament. Irgendjemand müsse mal auf die Idee kommen, zwei Optionen zusammenzubringen - etwa Mays Deal und ein zweites Referendum dazu, schlug Hobhouse vor.

Das Interview in voller Länge:
Stefan Heinlein: 16 Vorschläge gibt es aus dem House of Commons*, wie es weitergehen soll mit dem Brexit. Über die Hälfte davon wurde im Unterhaus abgestimmt. Doch es gibt keine Mehrheiten. Man steckt offenbar weiter in einer Sackgasse. Daran ändert auch der angekündigte Rücktritt von Theresa May nur wenig. Selbst Kenner der britischen Innenpolitik haben es mittlerweile schwer, den Durchblick zu behalten. Niemand weiß offenbar, wie der Brexit noch mit Anstand und Würde über die Bühne gebracht werden kann.
Am Telefon begrüße ich jetzt Wera Hobhouse, geboren in Deutschland, seit 2007 britische Staatsbürgerin und seit zwei Jahren Abgeordnete der Liberaldemokraten im britischen Unterhaus. Guten Morgen! – Good Morning!
Wera Hobhouse: Guten Tag, Herr Heinlein.
Heinlein: Frau Hobhouse, bevor wir über die Nacht im Parlament und den angekündigten Rücktritt von Theresa May reden. Wie haben Sie die gestrige Sitzung erlebt? War das eine kleine Palastrevolution im House of Commons, eine Art Fest der Demokratie?
Hobhouse: Das war vor zwei Tagen so, als diese Entscheidung getroffen wurde, dass das Parlament diesen Tag bestimmen kann, anstatt immer die Regierung, die ja sonst das Business im House of Commons bestimmt. Insofern war diese kleine Palastrevolution ja schon am Montag beschlossen worden.
Gestern war die Stimmung während der Debatte schon völlig anders, indem man wirklich sah, dass Abgeordnete über die Parteigrenzen hinweg versucht haben, einen Konsens zu schaffen. Dass wir diesen Konsens gestern nach einem Tag Debatte nicht erreicht haben, das hat mich nicht gewundert und das hat auch keiner erwartet.
Entscheidung muss nochmal an das Volk zurück
Heinlein: Warum schafft es auch das Parlament offenbar nicht, einen Weg aus dieser Brexit-Sackgasse zu finden, wenn es jetzt, wie Sie sagen, dieses fraktionsübergreifende Miteinander zumindest in Ansätzen gibt?
Hobhouse: Weil ja im Moment immer noch alle Möglichkeiten auf dem Tisch liegen, und das ist irgendwie das Frustrierende von dem Deal von Theresa May. Der ist schon zweimal abgewählt worden und jedes Mal kommt er dann wieder auf den Tisch. Wenn wir nicht eine oder zwei oder drei Möglichkeiten, die immer die Lieblingsvorschläge von bestimmten Abgeordneten sind, mal vom Tisch nehmen, dann können wir uns ja nie für einen Weg nach vorne entscheiden.
Heinlein: Sie sagen es: Alle Möglichkeiten liegen auf dem Tisch. Aber niemand nimmt eine Möglichkeit in die Hand. Da drängt sich der Eindruck auf, die britische Politik, auch das britische Unterhaus ist überhaupt nicht mehr handlungsfähig.
Hobhouse: Na ja. Wenn man immer nur mit Ja oder Nein stimmen kann und wenn es keine Präferenzen gibt für diese Ja- und Nein-Stimmen, und wie gesagt, wenn immer alles Mögliche, selbst wenn es abgewählt ist, immer wieder auf den Tisch zurückkommt, dann macht es die Sache natürlich schwierig und man findet es wirklich schwierig, einen Durchbruch zu schaffen. Die Liberalen haben ja schon seit über zwei Jahren gefordert, dass diese Entscheidung noch mal an das Volk zurück muss. Wir müssen ein zweites Referendum durchziehen. Diese Entscheidung hat ja immerhin die meisten Stimmen erreicht. Das war vor zwei Jahren ja noch eine völlige Nischenvorstellung. Aber immer mehr gewinnt diese Idee doch an Stimmen und an Momentum. Eine Million Menschen waren am Sonnabend auf der Straße in London. Das hat ja auch einen Einfluss und man muss jetzt dem ein bisschen Zeit geben.
Heinlein: Würden Sie und Ihre Liberaldemokraten denn für den Brexit-Deal von Theresa May stimmen, wenn hinterher in einem zweiten Referendum, das Sie ja fordern, darüber abgestimmt wird?
Hobhouse: Natürlich nicht, wenn hinterher abgestimmt wird. Dann sind wir ja aus der EU raus. Aber wenn diese Entscheidung – das habe ich gestern Abend ganz am Ende der Debatte auch gesagt -, irgendjemand muss mal auf die Idee kommen, zwei Optionen zusammenzubringen. Die Mathematik bestimmt das ja irgendwie. Wenn man sagt, ein Referendum, was ja 268 Stimmen bekommen hat, und Theresa Mays Deal zusammen genommen als Vorschlag, anstatt als zwei Vorschläge, sondern als einen Vorschlag zusammen, wenn das mal vorgelegt wird im Parlament, dann könnte das eine Mehrheit bekommen. Ich persönlich, mir ist egal, welcher Brexit-Vorschlag da auf dem Tisch liegt, ob ein weicherer, ein härterer Brexit, selbst No Deal, solange die Entscheidung zur gleichen Zeit gefällt wird, dass es noch mal den Menschen vorgelegt wird und dass die noch mal abstimmen können.
"Die Krise hat schon 2016 begonnen"
Heinlein: Frau Hobhouse, ich würde gerne noch einmal meine grundsätzliche Frage stellen. Wenn es im Parlament, wie aktuell es der Fall ist, keine Mehrheiten gibt für irgendeinen Plan, und auch die Regierung es trotz der Rücktrittsankündigung von Theresa May offenbar nicht schafft, den Brexit über die Bühne zu bekommen, steckt die britische Demokratie in einer ernsthaften Krise?
Hobhouse: Na ja. Wir stecken schon in einer ernsthaften Krise, nicht nur in den nächsten Tagen, sondern das hat sich ja schon seit Monaten abgezeichnet, weil ein Referendum durchgeführt worden ist in 2016, wo man einen konkreten Vorschlag, nämlich in der EU zu bleiben, wo ja jeder wusste, wie das aussieht, gegen eine Fantasie gestellt hat. Wenn man den Leuten vorgaukelt, dass am Ende dann das Schlaraffenland da ist, wo es keine Nachteile und nur Vorteile gibt, dieses Rosinen aus dem Kuchen picken, wenn man das den Menschen so vorgaukelt – kein Wunder, dass man dann in eine Krise gerät. Die Krise hat ja eigentlich 2016 schon angefangen.
Heinlein: Nun hat ja Theresa May ihren Rücktritt angekündigt. Das kam gestern am Abend, sollte es im Parlament dann bei einer dritten Abstimmung eine Mehrheit für ihren Deal geben. Ist das der letzte Trumpf der Premierministerin?
Hobhouse: Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihren Deal durchbringt. Sie muss ja 75 Abgeordnete umstimmen. Sie nimmt die alle einzeln heraus. Sie hat jetzt angekündigt, sie wird ihren Rücktritt ankündigen. Das hat aber gleichzeitig dann wieder ein paar Labour-Abgeordnete abgeschreckt, die dann fürchten – und das ist ja auch die Intention -, dass ein viel härterer, viel rechtsgerichteter Führer gewählt wird für die Tory-Partei, der dann die nächsten Verhandlungen übernimmt -, das hat wieder einige Leute abgeschreckt in der Labour-Partei und die hätten eventuell für Theresa Mays Deal gewählt. Die würden nun wieder nicht für ihren Deal wählen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie morgen diesen Deal durchbringt. Die irische Unionspartei hat ja schon wieder angekündigt, dass sie dem Deal nicht zustimmen. Damit fallen dann auch einige von der European Research Group wieder ab. Also warten wir mal ab, was morgen passiert.
"Ich kann ja auch kaum nachvollziehen, was hier los ist"
Heinlein: Jetzt wird es kompliziert. Aber Boris Johnson, wenn ich es richtig mitbekommen habe, der sagt jetzt: Ja, ich stimme für den Deal, wenn Theresa May zurücktritt.
Hobhouse: Na ja, gut. Er ist einer von vielen, von 75, die sie umstimmen muss.
Heinlein: Aber eine entscheidende Figur!
Hobhouse: Eine entscheidende Figur. Aber Jacob Rees-Mogg ist auch eine entscheidende Figur, und der hat gesagt, ich stimme nur für den Deal, wenn die irische Unionspartei dafür stimmt. Und die irische Unionspartei hat schon angekündigt: Solange sich am Backstop nichts ändert, solange stimmen sie für diesen Deal nicht.
Heinlein: Können Sie mittlerweile verstehen, Frau Hobhouse, dass wir, die Kontinentaleuropäer, wie wir auf der Insel genannt werden, kaum mehr nachvollziehen können, was da bei Ihnen auf der Insel geschieht?
Hobhouse: Natürlich! Ich kann ja auch kaum nachvollziehen, was hier los ist. Jeder Tag ändert sich. Ich gucke immer nur von einem Tag zum anderen. Die Abstimmung über ein zweites Referendum hat gestern die meisten Stimmen erreicht. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass wir ein zweites Referendum bekommen und dass wir in der EU bleiben, wenn dieses Referendum stattfindet.
Heinlein: Eine persönliche Frage, Frau Hobhouse, wenn Sie gestatten. Sie sind gebürtige Deutsche. Vor vielen Jahren sind Sie nach England ausgewandert, um dort zu leben und zu arbeiten und auch jetzt politisch aktiv zu sein. Sie sind ein Beispiel für die Chancen und Möglichkeiten in einem geeinten Europa. Wie sehr schmerzt Sie in der Seele, dass sich Großbritannien nun so oder so von dieser europäischen Idee, zumindest von der Europäischen Union verabschiedet?
Hobhouse: Das schmerzt mich! Lange Zeit habe ich als Deutsche auch mit einem deutschen Pass in Großbritannien gelebt. Ich war ja auch Lokalabgeordnete, ohne dass ich Britin werden musste. Ich konnte als Europäerin da gut und fröhlich leben. Inzwischen frage ich mich: Meinen die mich, wenn es um europäische Migration geht? Arbeite ich denn nicht? Bezahle ich nicht meine Steuern? Habe ich nicht vier Kinder in Großbritannien aufgezogen, die jetzt Briten sind? Was soll denn dieser Unsinn? – Diese Migrationsfrage hat vieles, vieles wirklich vergiftet.
"Viele Menschen machen sich große Sorgen"
Heinlein: Bedauern Sie vielleicht irgendwann, dass Sie den deutschen Pass abgegeben haben?
Hobhouse: Nein. Ich bin gerne Britin. Ich liebe dieses Land. Hier ist meine Arbeit, meine Familie, meine Freunde. Ich habe bisher keinerlei Pläne, nach Deutschland zurückzuziehen.
Heinlein: Denken Sie, dass viele Ihrer Landsleute, viele Briten erst nach einem Brexit merken werden, was der Abschied von der Europäischen Union für sie im Alltag bedeutet?
Hobhouse: Auf jeden Fall! Viele Menschen machen sich große Sorgen, besonders diejenigen, die keinen britischen Pass haben. Mich kann keiner rausschmeißen. Es ist natürlich auch festgelegt, dass europäische Bürger, die jetzt in Großbritannien leben, nicht rausgeschmissen werden. Aber die Unsicherheit, wie es denn eigentlich so in zehn Jahren aussehen wird, die beschäftigt schon sehr viele Menschen, und das ist wirklich schade.
Heinlein: Die Möglichkeit eines Referendums haben Sie in den Raum gestellt. Wenn abgestimmt wird, was macht Sie so sicher, dass dann ein Brexit vielleicht noch einmal in Frage gestellt wird?
Hobhouse: Sicher machen mich natürlich immer Umfragen. Aber ehrlich gesagt, mich treibt die Hoffnung natürlich auch. Ich kann nichts mit Sicherheit sagen. Aber ich hoffe, dass sich die Stimmung im Land doch wirklich sehr verändert hat. Vor allen Dingen, wenn es jetzt um Migration geht – da gibt es auch wieder Umfragen -, scheint es so zu sein, dass jetzt Großbritannien eines der Länder ist, die Migration aus positiv ansehen. Diese vielen Diskussionen, dieses Soul Searching hat doch dazu geführt, dass Menschen allmählich auch anfangen, sich umstimmen zu lassen. Die Zahlen haben ja auch gezeigt, obwohl europäische Migration jetzt weniger ist, dass die außereuropäische Migration höher geworden ist. Migration ist nach wie vor das gleiche, nämlich weil Migration vom Arbeitsmarkt abhängig ist, nicht von irgendwelchen ideologischen Vorstellungen.
Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen die britische Unterhaus-Abgeordnete Wera Hobhouse von den Liberaldemokraten. Vielen Dank, Frau Hobhouse, noch einmal, dass Sie trotz Zeitverschiebung und einer kurzen Nacht für Sie so früh für unsere Hörer aufgestanden sind. Einen schönen Tag nach London!
Hobhouse: Danke.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
* Anm. d. Red.: In einer vorherigen Version hatte es versehentlich "House of Commence" geheißen. Diesen Fehler haben wir korrigiert.