Beide Seiten seien in einer unglücklichen Ausgangssituation in die Verhandlungen gestartet, so Verheugen. Die Briten seien nach dem Referendum planslos gewesen. Die erzielte Einigkeit in der konservativen Partei sei jedenfalls nicht hergestellt worden. Die EU habe mit Panik auf den anstehenden Austritt reagiert. Sie habe alles dafür getan, um zu verhindern, dass weitere EU-Staaten den Briten folgten. Deswegen hätte man es London so schwer wie möglich gemacht.
Stattdessen hätte man sie eher wie jedes andere Drittland behandeln sollen, mit dem die EU eng verbunden sei, sagte Verheugen. Die jetzige Lösung bleibe in entscheidenden Fragen unklar. Es brauche eine Lösung, die den Schaden - der auf jeden Fall eintreten werde - so gering wie möglich halte. Es dürfe nicht darum gehen, wer Gewinner oder Verlierer sei.
Er rate der EU dazu, sich auf alle Szenarien einzustellen, sagte Verheugen. Denn das jetzige Vertragswerk löse die Probleme, die die harten Brexit-Befürworter lösen wollten, nicht. Dass es zu einem zweiten Referendum in Großbritannien kommt, hält der SPD-Politiker für unwahrscheinlich - auch wenn Viele in der EU darauf hofften. "Wir sollten darauf verzichten, unseren britischen Freunden ungebeten Ratschläge zu erteilen."
Das ganze Interview im Wortlaut:
Jasper Barenberg: Die Gegensätze könnten wohl größer nicht sein. Über Monate blieb unklar, wie sich die entscheidenden Politiker in London den Brexit eigentlich vorstellen, während in Brüssel die Union aus 27 Staaten geschlossen und mit klaren Positionen in die Verhandlungen ging. Mit dem Entwurf für ein Brexit-Abkommen versinkt die Regierung in London jetzt in einer politischen Krise, während die EU-Staats- und Regierungschefs den Sondergipfel Ende der Woche in Ruhe vorbereiten, während EU-Ratspräsident Donald Tusk sagt, man sei für alle Eventualitäten gewappnet.
Am Telefon ist Günter Verheugen. Als SPD-Politiker war er lange Mitglied der EU-Kommission. Heute ist er unter anderem Honorarprofessor an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Schönen guten Morgen, Herr Verheugen.
Günter Verheugen: Guten Morgen, Herr Barenberg.
Theresa May: "geringe Chancen" im Amt zu bleiben
Barenberg: Bei so vielen Gegnern schon in der eigenen Partei und beim Koalitionspartner ja auch, welche Chancen hat Theresa May, politisch die nächsten Tage, die nächsten Wochen zu überleben?
Verheugen: Die sind sehr gering, weil sie keine Chancen hat, dieses Abkommen zustande zu bringen, auf das man sich in Brüssel auf der Arbeitsebene geeinigt hatte. Man konnte das eigentlich von Anfang an sehen. Das löst ja die Probleme, die die harten Austrittsbefürworter in der Konservativen Partei haben, überhaupt nicht. Sie kriegt keine Mehrheit dafür und damit wackelt natürlich auch ihre Machtbasis. Aber es ist eben vollkommen richtig gesagt worden in Ihrem Bericht aus Brüssel: Was daraus entstehen kann, Sie haben das selber gesagt, das weiß kein Mensch. Alle Möglichkeiten sind offen und ich würde der EU dringend raten, sich auch auf alle Möglichkeiten einzustellen.
Barenberg: Nun sagt ja Donald Tusk, da hätte die EU gar kein Problem, das wäre soweit alles vorbereitet. Es gibt ja drei Varianten, die im Moment jedenfalls vorstellbar sind: ein geregelter Brexit auf der Grundlage dieses Abkommens, ein ungeregelter, ein wilder Brexit sozusagen, oder gar kein Brexit. Wie kommt es dazu, dass im Moment der ungeregelte, der chaotische Brexit eigentlich die noch wahrscheinlichste Variante ist?
Verheugen: Ja. Ich glaube, das liegt daran, dass beide Seiten mit einer denkbar unglücklichen Ausgangsposition sich auf diese gefährliche Reise begeben haben. Die Briten haben den Brexit natürlich selber zu verantworten. Das haben sie entschieden. Aber sie hatten gar keinen Plan, was man hinterher machen sollte, und es stellt sich heraus, dass die mit dem Referendum gewünschte Einigkeit innerhalb der Konservativen Partei überhaupt nicht hergestellt worden ist. Wir sehen das ja jetzt in aller Deutlichkeit. Die alten Rivalitäten, Brüche und Konfliktlinien sind unverändert da.
"Panische Reaktionen in Brüssel"
Auf der EU-Seite glaube ich, dass die Reaktionen von einer Art Panik bestimmt waren. Die waren wirklich panisch in Brüssel und die dachten, jetzt müssen wir vor allen Dingen alles tun, um zu verhindern, dass noch jemand auf die Idee kommt, man könne aus der EU so einfach austreten, und deshalb müssen wir den Briten das so schwer machen wie möglich. Auf jeden Fall dürfen sie nicht eine Regelung kriegen, die attraktiv sein könnte für andere. Damit ist die Regelung, die die vernünftigste gewesen wäre und die ich nach wie vor für die vernünftigste halte, nämlich mit Großbritannien so wie mit anderen großen und wichtigen Partnerstaaten auch ein möglichst tiefes und umfassendes Freihandelsabkommen abzuschließen, damit ist diese Möglichkeit von der EU von Anfang an ausgeschlossen worden, weil das als die berühmte Rosinenpickerei betrachtet wird.
Barenberg: Aber hat die EU nicht Recht mit diesem Ansatz? Ist er nicht geradezu überlebenswichtig? Denn schließlich gilt doch oder muss gelten der Vereinsgedanke. Ein Club ist nur so lange ein Club, wie sich kein Mitglied aussuchen darf, welche Rechte und welche Pflichten es übernehmen will.
Verheugen: Ja, das ist vollkommen richtig. Diesem Gedanken wurde ja ganz besonders Rechnung getragen dadurch, dass man Großbritannien nicht eine Teilmitgliedschaft anbietet, wie es jetzt ja praktisch passiert ist, sondern dass man sagt, ihr seid ein Drittland, ein Drittland, das uns besonders wichtig ist, mit dem wir besonders eng verbunden sind, aber eben ein Drittland, und da verhalten wir uns so wie gegenüber anderen wichtigen Drittländern auch. Ein Freihandelsabkommen mit Kanada ist abgeschlossen, mit Japan steht es gerade kurz vor dem Abschluss, mit den USA ist es aus den bekannten Gründen gescheitert, aber es ist derselbe Grundgedanke.
Mit solchen wichtigen Partnern schließen wir umfassende Freihandelsabkommen ab.
Das aber ist nicht gewollt worden. Stattdessen hat man eine Lösung gewählt, die in den entscheidenden Fragen unklar ist, weil sie die Probleme auf die Zukunft verschiebt.
"Schaden für beide Seiten so gering wie möglich halten"
Barenberg: Was hätte das Angebot der EU Ihrer Ansicht nach sein müssen, konkret bei den schwierigen Themen, bei den schwierigen Hürden, die es zu überwinden gibt?
Verheugen: Wenn man eine Freihandelszone schafft zwischen der Europäischen Union und Großbritannien, dann gibt es diese Hürden nicht. Dann entsteht das Problem der Freizügigkeit nicht. Darauf besteht die EU in Freihandelsabkommen nicht, weder in Europa, noch außerhalb Europas. Dann besteht das Problem der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs nicht und entsteht das Problem nicht, dass sich der Partner nach Regeln richten muss, die in Brüssel hergestellt werden, ohne dass er geringsten Einfluss darauf hat.
Barenberg: Aber das ist doch das Angebot, was die EU Großbritannien macht für die künftigen Beziehungen.
Verheugen: Nein, macht sie nicht! – Nein, dieses Angebot ist nicht gemacht worden. Das Angebot lautet, um diese Nordirland-Frage lösen zu können, wir machen eine Zollunion. Dann sehen wir mal, ob wir innerhalb der nächsten zwei Jahre eine Lösung finden. Und wenn wir diese Lösung nicht finden, dann bleibt die Zollunion permanent. Das ist das, was die harten Brexit-Befürworter auf keinen Fall akzeptieren wollen, weil es aus ihrer Sicht die Lage Großbritanniens sogar noch verschlechtert.
Eine gute Verhandlungsstrategie bezieht doch ein, was der Partner kann und was er nicht kann. Es geht doch hier nicht darum, eine Situation herzustellen, in der es Gewinner oder Verlierer gibt. Das ist doch ein vollkommen fatales Denken. Sondern es geht darum, eine Lösung zu finden, die den Schaden, der in jedem Fall eintreten wird – bitte keine Illusionen machen: Schaden wird für beide Seiten auf jeden Fall eintreten –, und dann sollte man ihn so gering wie möglich halten.
"Position der EU wird enorm geschwächt werden"
Barenberg: Bestehen noch Aussichten, den Schaden zu begrenzen?
Verheugen: Ja. Rein von den Instrumenten und der Rechtslage her schon. Aber das ist alles ziemlich blanke Theorie. Man könnte den Zeitrahmen ja verlängern. Der Rat könnte ja einstimmig beschließen, dass noch weiterverhandelt wird. Die Briten könnten, was ich aber für fast noch unwahrscheinlicher halte, zu einem Ergebnis kommen, dass sie es doch wollen. Sie haben es eben selber gesagt: Alles läuft im Augenblick auf einen Crash hinaus, und das wird zunächst mal dazu führen, dass die Position der Europäischen Union in einer extrem schwierigen weltpolitischen Situation, in der Stärke und Handlungsfähigkeit gefragt sind, enorm geschwächt wird.
Barenberg: Wäre ein zweites Referendum mit einem möglicherweise anderen Ausgang in Großbritannien, wäre das so etwas wie die Rettung in letzter Minute? Kann das die Rettung in letzter Minute sein?
Verheugen: In der EU würde man das vielleicht so sehen. Aber nach allem, was ich über die politischen Mechanismen und über die Gefühlslage in Großbritannien weiß, ist das wohl von allen die unwahrscheinlichste Lösung.
Barenberg: Auf was stellen wir uns jetzt ein?
"London ist jetzt am Zug"
Verheugen: Da kann man wirklich nur hoffen: Das einzige, was wir tun können in diesem Falle, ist, darauf zu verzichten, unseren britischen Freunden jeden Tag ungebetene Ratschläge zu erteilen, was sie tun sollen und was sie nicht tun sollen. Wenn wir uns hier stark machen für ein neues Referendum in Großbritannien, wird das die Sache eher nicht befördern.
Barenberg: Aber Sie sagen damit auch, der Ball liegt jetzt tatsächlich in London?
Verheugen: Ja, natürlich!
Barenberg: Die EU-Staaten sind geschlossen, jetzt kommt es auf Theresa May an oder auf die Politik in London?
Verheugen: Ja! Man muss davon ausgehen, dass am kommenden Sonntag die Staats- und Regierungschefs das Verhandlungspaket, so wie es geschnürt worden ist, akzeptieren werden. Dann ist das festgezurrt und dann ist der nächste Spielzug einer, der in London getan werden muss. Natürlich.
Barenberg: … sagt der Sozialdemokrat Günter Verheugen. Vielen Dank für die Zeit und das Gespräch heute Morgen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.