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Brexit
"Im Prinzip liegen die Konzepte seit Jahren vor"

Nach dem Referendum in Großbritannien wachsen die Sorgen vor den wirtschaftlichen Folgen. Neben den Modellen von Norwegen oder der Schweiz, gebe es aber jetzt auch die Chance, neue Freihandelsabkommen zu verhandeln, sagte Gérard Bökenkamp, Direktor der Denkfabrik "Open Europe", im DLF. Das Komplizierte sei allerdings, diese dann mit der EU zu verhandeln.

Gérard Bökenkamp im Gespräch mit Thielko Grieß | 30.06.2016
    Blick auf Londons Finanzdistrikt mit den Bankentürmen von unter anderem HSBC, Citigroup, JPMorgan Chase, Barclays.
    Gérard Bökenkamp zum Brexit: "Es gibt Konzepte, die eigentlich seit Jahren diskutiert werden" (AFP)
    Thielko Grieß: Vor der Sendung haben wir Gérard Bökenkamp angerufen. Er ist Historiker, Publizist, ist stellvertretender Direktor der Denkfabrik "Open Europe" in Berlin. Das ist ein Institut, das für weniger Europa steht, für mehr eigene Entscheidungen der Mitgliedsstaaten. Meine erste Frage an Gérard Bökenkamp war: Ist Boris Johnson ein Feigling?
    Gérard Bökenkamp: Das glaube ich nicht. Ich glaube, er hat einfach gesehen, dass er in dieser Situation nicht der richtige Mann zur richtigen Zeit ist und dass auch ein Großteil der Partei das so sieht.
    "Boris Johnson war mit der Situation ein Stück weit überfordert"
    Grieß: Und das hätte der große Stratege nicht schon früher sehen können?
    Bökenkamp: Ja. Ich glaube, einmal neigen Politiker dazu, Dinge optimistischer zu beurteilen, als sie eigentlich sind. Es ist auch nicht ganz sicher, dass er tatsächlich mit dem Brexit gerechnet hat. Viele Brexit-Anhänger waren ja selber überrascht. Wir haben die Erfahrung auch auf vielen Podiumsdiskussionen gemacht, dass viele Anhänger des Brexit selber nicht daran geglaubt haben. Und man sah ja auch, dass er ein Stück weit mit der Situation überfordert war.
    Grieß: Was wirft das für ein Licht auf die Brexitiers, die Leave Campaign, die Kampagne, die dazu aufgefordert hat, für einen Austritt aus der Europäischen Union zu werben?
    Bökenkamp: Na gut. Nun muss man selbstkritisch sagen: Als ich um ein Uhr ins Bett gegangen bin an dem Donnerstag ging ich auch davon aus, dass Großbritannien bleibt. Das ging ja fast allen Analysten so, das hat uns ja alle überrascht. Und bei den Brexitiers gab es eine gewisse Resignation, weil man es nicht schafft, und das hat auch dazu geführt, dass man sich für die Situation mental nicht vorbereitet hat, was sich aber nun, glaube ich, nach und nach klärt in den nächsten Wochen. Es gibt Konzepte, die eigentlich seit Jahren diskutiert werden. Dazu gehört das norwegische Modell, das heißt, Großbritannien bleibt im europäischen Wirtschaftsraum, das Modell Schweiz, das heißt, man schließt eine Reihe von Freihandelsabkommen, oder man begründet ein neues Freihandelsabkommen so wie das mit Kanada. Im Prinzip liegen die Konzepte alle seit Jahren vor. Das Komplizierte ist, die dann mit der EU zu verhandeln. Da braucht man viel diplomatisches Geschick und dafür war Boris Johnson auch mit seinen Äußerungen über die EU im Vorfeld einfach nicht der Richtige.
    Theresa May könnte Nachfolgerin von Premier Cameron werden
    Grieß: Sprechen wir über den Zustand der Partei, der Tories. Zerrissen, innerlich zerrissen in verschiedene Lager. Wir wissen nicht sehr viel über die Zukunft dieser Partei, außer dass Premier Cameron seinen Rücktritt schon angekündigt hat. Was glauben Sie? Sehen Sie einen Kopf, einen Kandidaten, der diesen Aufgaben, die jetzt gestellt sind, gerecht wird?
    Bökenkamp: Ja, ganz klar. Theresa May, auch ihre Erklärung zu ihrer Kandidatur, das ist sehr überzeugend.
    Grieß: Die Innenministerin.
    Bökenkamp: Die Innenministerin. Sie hat sich eigentlich für Remain ausgesprochen, aber das, was sie jetzt gesagt hat, das hatte sehr viel Substanz. Das zeigt, dass sie tatsächlich so etwas wie ein Konzept zu haben scheint. Das fand ich sehr überzeugend und ich glaube, dass sie auch eine gute Chance hat, Premierministerin zu werden, und ich glaube, sie wäre tatsächlich auch die richtige Frau zur richtigen Zeit.
    Grieß: Aber das ist auch jemand, die sich schnell gewandelt und gewendet hat. Gibt es bei den Tories niemanden, der von Anfang an für den Brexit war, einen Plan in der Tasche hatte und dann auch dazu steht?
    Bökenkamp: Na gut. Ihr Gegenkandidat, das ist Michael Gove, den halte ich auch für einen intelligenten ruhigen Mann. Er hat nicht im selben Maße diesen Bekanntheitsgrat und dieses politische Standing. Er galt bisher als Unterstützer von Boris Johnson, könnte aber auch ein Kandidat sein, ähnlich wie John Major damals. Den kannte man ja vorher auch nicht in einer großen Öffentlichkeit. Er war aber dann, wie ich finde, anders als viele das damals gesagt haben, durchaus ein sehr akzeptabler Premierminister.
    Grieß: Aber Sie sehen Theresa May, die Innenministerin, im Vorteil? So verstehe ich Sie?
    Bökenkamp: Das würde ich schon sagen. Wenn ich jetzt wetten müsste, was ich nicht mehr tue, speziell nach dieser Referendumsnacht, dann würde ich eher auf Theresa May wetten. Aber wenn diese beiden Kandidaten tatsächlich dann den Mitgliedern zur Wahl vorgestellt werden, muss man sagen, das sind aus meiner Sicht beides annehmbare Kandidaten.
    "Ein Aushandeln eines Freihandelsabkommens dauert fünf bis sieben Jahre"
    Grieß: Sie haben, Herr Bökenkamp, in der vergangenen Woche eine Wette verloren?
    Bökenkamp: Ja, ich habe um nichts gewettet. Ich habe, wenn man mich gefragt hat, gesagt, ich glaube, es ist der Remain, und dass die Leute, obwohl ja in den Wochen davor so viel auch über die Risiken durchaus gesprochen worden ist, trotzdem für den Brexit gestimmt haben, zeigt für mich, dass die Frustration über die EU offenbar sehr, sehr groß sein muss.
    Grieß: Wer auch immer es wird, Herr Bökenkamp, es wird die Frage zu klären sein, zu verhandeln sein mit der Europäischen Union, wie man Zugang zum Binnenmarkt bekommt der verbleibenden 27 und trotzdem weniger Einwanderung zulässt. Wie soll das gehen?
    Bökenkamp: Ja man kann sich da unterschiedliche Varianten vorstellen. Eine Variante wäre, dass man ein Freihandelsabkommen aushandelt wie Kanada. Das wäre allerdings zeitlich schwierig, weil durchschnittlich dauert ein Aushandeln eines Freihandelsabkommens fünf bis sieben Jahre. Zwei Jahre sind bisher vorgesehen, das müsste man dann verlängern. Ich glaube, es könnte darauf hinauslaufen, dass Großbritannien im europäischen Wirtschaftsraum bleibt, dass auch die Personenfreizügigkeit erhalten bleibt, dass man sich aber darauf einigt, den Zugang zu den Sozialsystemen, da der begrenzt werden kann für EU-Ausländer, weil das Cameron im Grunde genommen in den Verhandlungen im Februar bereits ausgehandelt hatte.
    Grieß: Eigentlich dasselbe in grün, nur ohne dass man Mitglied der Europäischen Union ist?
    Bökenkamp: Ja. Es gäbe einige Vorteile für Großbritannien. Großbritannien hätte dann die Freiheit, eigene Freihandelsabkommen auszuhandeln. Sie könnten dann sagen, wir handeln auch Freihandelsabkommen mit Japan und Indien und China aus. Das wäre ein Zugewinn an Souveränität. Und sie wären in vielen internationalen Gremien wieder als eigenständiger Staat repräsentiert und würden dort nicht mehr durch die Europäische Union repräsentiert werden. An den zwei Stellen hätte man aus britischer Sicht einen Zugewinn an Souveränität. Ansonsten würde tatsächlich vieles gleich bleiben, was dann allerdings auch, glaube ich, die Wirtschaft weitgehend beruhigen würde.
    Grieß: Gérard Bökenkamp, der stellvertretende Direktor von "Open Europe", einer Denkfabrik in Berlin.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.