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Brexit-Streit
"Aus Sicht der Wirtschaft ist das ein guter Vertrag"

Statt sich um eine Notfall-Klausel im Brexit-Vertrag zu streiten, sollten Großbritannien und EU die Zeit dafür verwenden, ihr künftiges Verhältnis zu gestalten, sagte der BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang im Dlf. Die Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals begrüße den vorliegenden Brexit-Deal.

Joachim Lang im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 14.12.2018
    Zwei Mitarbeiter mit mobilen Geräten zur bargeldlosen Bezahlung und Euro-Symbolen auf ihrem Kopf gehen am 03.03.2017 in Hamburg durch die Hallen der Marketing-Fachmesse "Online Marketing Rockstars" (OMR) in den Messehallen in Richtung Ausgang ( Exit).
    Der Brexit-Vertrag sei gut, auch für Großbritannien, sagt der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Joachim Lang (dpa / picture-aliance / Christian Charisius)
    Dirk-Oliver Heckmann: Immerhin eines hat die britische Premierministerin May erreicht beim EU-Gipfel in Brüssel gestern. Zumindest verbal ist die EU ihr ein wenig entgegengekommen. Der umstrittene Backstop stelle nur eine Regelung für den Notfall dar, der auch nur vorübergehend verwendet werden solle. Dieser Backstop soll ja in Kraft treten, wenn sich beide Seiten nicht auf ein Partnerschaftsabkommen einigen sollten, und die Folge wäre dann, dass ganz Großbritannien in der Zollunion verbleiben würde.
    Doch ob das reicht, dieses verbale Entgegenkommen, um eine Mehrheit im Unterhaus zu erhalten, das ist mehr als fraglich. Kenner der Materie sagen, die Wahrscheinlichkeit eines harten Brexit, eines Brexit ohne Abkommen, die ist erheblich gestiegen. Am Telefon begrüße ich jetzt den Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Joachim Lang. Schönen guten Morgen, Herr Lang.
    Joachim Lang: Schönen guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Alexander Graf Lambsdorff, der FDP-Politiker, stellvertretender Fraktionschef, der hat heute Früh im Deutschlandfunk bei uns hier gesagt: Die Wahrscheinlichkeit eines harten Brexits sei aus seiner Sicht gestiegen. Sehen Sie das auch so?
    Lang: Die Wahrscheinlichkeit ist mit Sicherheit gestiegen, denn das geplante Verfahren wird nicht eingehalten und damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass wir in geordneten Verhältnissen auseinandergehen. Auf der anderen Seite haben wir mit jedem Tag, der verstreicht, auch die Gelegenheit zu sehen, welche negativen Effekte das haben könnte. Und ein bisschen haben alle das Gefühl, dass Frau May auch darauf zielt, dass, wenn es jetzt ans Zudrängen geht, viele sich das doch noch mal genau überlegen und dann vielleicht doch eher zugreifen, als auf diese Chaostage zuzusteuern.
    "Eigentlich nur eine Art Scheidungsvertrag"
    Heckmann: Das heißt, Theresa May ist für die derzeitige Lage verantwortlich?
    Lang: Das ist die britische Politik insgesamt, und für uns Europäer auf dem Kontinent ist das einfach eine dramatische Entwicklung, dabei zuzusehen, wie eines der größten und stärksten Länder sich selbst in eine so schwierige Situation manövriert hat.
    Heckmann: Theresa May wollte ja eine rechtsverbindliche Klarstellung, dass der sogenannte Backstop keine Dauerlösung sein kann. Jetzt gibt es diese rechtlich unverbindliche Klarstellung, dass man das nicht wolle von Seiten der EU, dass man enge Verbindungen haben wolle. Hätte die EU Theresa May nicht stärker entgegenkommen sollen, um dafür zu sorgen, um ihr zu helfen, dass dieser Vertrag durchs Unterhaus geht?
    Lang: Ich denke, dass die Staats- und Regierungschefs, die Kolleginnen und Kollegen von Frau May, alles getan haben, um ihr in dieser Woche eine Hilfestellung zu leisten. Der Wunsch, einen Vertrag noch mal aufzuschnüren, den können sie nicht erfüllen, denn über diesen Vertrag sind anderthalb Jahre jetzt verhandelt worden und das Ergebnis kann sich auch sehen lassen. Die Staats- und Regierungschefs der EU27 haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass das ein guter Vertrag ist, und auch aus Sicht der Wirtschaft ist das ein guter Vertrag.
    Man muss ja auch mal beachten, dass das eigentlich nur eine Art Scheidungsvertrag ist. Es geht in diesem Vertrag erst mal nur darum, wie man sich voneinander trennt, und das ist letztlich ja die Entscheidung der Briten gewesen. Viel wichtiger ist aus unserer Sicht, wie das künftige Verhältnis gestaltet wird, und darauf sollte man jetzt viel mehr Zeit verwenden, als darüber zu reden, wie eine Notfallklausel für das Nichterreichen eines künftigen Vertrages anzuwenden ist.
    Großbritannien kann innenpolitische Probleme nicht abwälzen
    Heckmann: Da sind Sie sich einig mit Günter Verheugen, dem ehemaligen EU-Erweiterungskommissar. Der hat ja in einem Namensartikel geschrieben, das war ein großer Fehler von Seiten der EU, dass das nicht von vornherein eigentlich angepackt wurde, nämlich die Verhandlungen zur Erzielung eines Freihandelsabkommens, was die Briten ja auch wollten.
    Lang: Die Dinge sind ohnehin komplex und man muss sie abschichten. Jetzt ging es ja in diesem Austrittsabkommen zunächst einmal um die Frage, wie man gegenseitig Finanzfragen auflöst. Das zweite war dann, wie man die Bürger behandelt, die auf dem jeweils anderen Gebiet leben. Und das dritte war, wo soll eigentlich künftig die Grenze zwischen uns verlaufen. Es waren eigentlich nur drei Fragen, über die man schon anderthalb Jahre verhandelt hat, und die dritte Frage ist nach wie vor nicht richtig gelöst, jedenfalls nicht aus britischer Sicht. Da muss man jetzt auch mal einen Haken dranmachen.
    Dieser Vertrag ist gut. Die britische Politik hat natürlich viele innenpolitische Probleme mit diesem Vertrag, aber die kann sie nicht auf die EU abwälzen. Insofern wäre es wichtig, jetzt da mal einen Haken dranzumachen und diesen Vertrag zu akzeptieren, anzunehmen, weil er für beide Seiten gut ist. Die Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals begrüßt diesen Vertrag. Nur die Politik hat dort unterschiedliche Auffassungen.
    Auf harten Brexit kann man sich nur begrenzt vorbereiten
    Heckmann: Sie haben gerade selber gesagt, die Wahrscheinlichkeit für einen harten Brexit ist gestiegen. Wie gut sind denn die deutschen Industrieunternehmen auf so einen Fall vorbereitet?
    Lang: Das ist natürlich ein Worst-Case-Szenario, auf das man sich auch nur begrenzt vorbereiten kann, weil es noch niemand erlebt hat und man nicht auf Erfahrungswerte zurückgreifen kann. Aber was im letzten Jahr passiert ist, ist, dass wesentliche Unternehmen, die in Großbritannien engagiert sind, sich Notfallpläne gemacht haben, die sich vor allem mit der Frage befassen, wie kommen die Produkte, die ich für meine Ware in Großbritannien brauche, wie kommen die rechtzeitig zu mir? Wir haben ja ein perfektioniertes "Just in time"-Belieferungssystem in den großen Fabriken und das sicherzustellen, ist eine große Herausforderung. Da reagiert jeder anders.
    Es kommt auch ein bisschen auf die Produkte selbst an. Wenn ich zum Beispiel nicht mehr durch den Tunnel oder mit der Fähre rechnen kann, dass das rechtzeitig ankommt, weil es Chaos geben wird bei Zollabfertigung, muss ich dann vielleicht für einige Wochen auf Luftfracht umstellen? Oder ist es nicht viel besser, wenn ich ein Lager anlege? Und dann ist das die Entscheidung eines jeden einzelnen Unternehmens – für eine Woche oder für einen Monat? Wie lange, schätze ich, wird es Schwierigkeiten geben bei den traditionellen Abfertigungssystemen?
    Es gibt schon erhebliche Investitionen in Lagerhaltung, ob das jetzt in der Pharmazie ist oder aber auch im Automobil- und im Luftfahrtbau. Ich brauche bestimmte Teile, die schwierig zu bekommen sind, oder die ich kurzfristig verfügbar haben muss. Die muss ich jetzt Lagern und da ist viel Geld reingeflossen.
    Briten schaden sich "enorm selbst"
    Heckmann: Haben Sie einen Überblick darüber, wie stark, wie intensiv diese Vorbereitungen angegangen worden sind?
    Lang: Die Rückmeldungen, die wir hören aus unseren Mitgliedsverbänden und den dort organisierten Unternehmen, sind schon so, dass sich viele Unternehmen darauf sehr gewissenhaft vorbereitet haben. Das hat viel Zeit und viel Geld gekostet. Aber natürlich sind trotzdem alle nervös, ob sie diese Pläne auch umsetzen müssen, und je früher man weiß, welches Szenario eintritt, desto besser kann man sich darauf vorbereiten. Deshalb ist das, was Unternehmen auf beiden Seiten des Kanals am wenigsten leiden können, Unsicherheit darüber, wie es weitergeht.
    Heckmann: Ich wollte gerade fragen. Sind denn nur die Unternehmen betroffen, die in Großbritannien produzieren?
    Lang: Es sind Unternehmen betroffen auf beiden Seiten des Ärmelkanals, denn es gibt natürlich auch auf dem Kontinent Unternehmen, die auf Produkte warten, die in Großbritannien hergestellt werden. Das geht in beide Richtungen. Das ist ja gerade der Vorteil, den die Europäische Union hat. Wir sind der am dichtesten verflochtene Wirtschaftsraum der Welt und davon profitieren wir alle. Auch die Briten profitieren davon enorm. 50 Prozent ihrer Exporte gehen in die EU27 und auch 50 Prozent ihrer Einfuhren stammen aus den europäischen Staaten auf dem Kontinent. Das heißt, sie schaden sich damit natürlich auch enorm selbst. Aber die Auswirkungen würde man auch auf dem Kontinent spüren.
    Fokussierung auf Backstop lenkt vom guten Inhalt des Vertrags ab
    Heckmann: Gibt es denn Berechnungen, wie teuer das werden würde für die deutsche Wirtschaft, wenn es denn zu einem harten Brexit kommen sollte?
    Lang: Das sind "was wäre wenn"-Fragen, die natürlich Ökonomen ganz gerne mal beantworten wollen. Aber seriöse Schätzungen gibt es nicht. Es ist auf jeden Fall eine Situation, bei der alle verlieren werden.
    Heckmann: Was muss jetzt passieren aus Ihrer Sicht?
    Lang: Aus meiner Sicht sollte man gewissenhaft prüfen, ob dieser Vertrag nicht für die britische Seite doch sehr viele positive Elemente enthält und es wert ist, angenommen zu werden. Die Fokussierung auf eine einzelne Klausel, die nur im Notfall gezogen werden soll, und dann auch nur zeitlich begrenzt, lenkt eigentlich ab von dem guten Inhalt dieses Vertrages. Er umfasst 585 Seiten. Es wird ihm nicht gerecht, sich auf eine Seite zu konzentrieren. Dieser Vertrag ist gut und er ist auch gut für Großbritannien und man sollte ihn nicht aus innenpolitischen Gründen ablehnen, wenn er doch insgesamt für das Land eigentlich von Vorteil ist und auch den Wunsch erfüllt, den die Briten knapp mehrheitlich geäußert haben, nämlich die Europäische Union zu verlassen. Dieser Vertrag ist die Möglichkeit, sie geordnet zu verlassen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.