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Brexit-Verschiebung
"Von EU-Seite sehe ich keinen Handlungsspielraum mehr"

Der Europa-Politiker Jo Leinen (SPD) sieht keine Möglichkeit für eine weitere Nachbesserung des Brexit-Abkommens. Zudem sei eine Verschiebung des EU-Austritts nur für einen Zeitraum bis zu drei Monaten möglich, sagte er im Dlf. Für eine Verzögerung darüber hinaus brauche es eine neue Begründung.

Jo Leinen im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 15.03.2019
Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen
Die EU brauche eine Außengrenze, so Jo Leinen, SPD-Europapolitiker, im Dlf (imago / Yex Pingfan)
Dirk-Oliver Heckmann: Mittlerweile hat es wohl ein Dutzend Abstimmungen gegeben im britischen Unterhaus zum Thema Brexit. Alle Optionen, die bisher zur Abstimmung standen, sind abgelehnt worden. Die Staats- und Regierungschefs der EU wissen jetzt, was die Abgeordneten in Großbritannien nicht wollen. Sie wissen allerdings nicht, was sie wollen. Und die Briten, sie wissen es ganz offensichtlich auch nicht so ganz. Gestern Abend stimmten die Parlamentarier immerhin dafür, den Brexit zu verschieben.
Am Telefon begrüße ich jetzt Jo Leinen von der SPD, Mitglied des Europaparlaments, dort Mitglied des Ausschusses für konstitutionelle Fragen. Schönen guten Tag, Herr Leinen.
Jo Leinen: Guten Tag, Herr Heckmann.
Heckmann: Herr Leinen, das britische Unterhaus stimmt für eine Verschiebung des Brexit. Sehen wir jetzt klarer?
Leinen: Ja, überhaupt nicht. Wir wissen gar nicht, was die Verschiebung bedeuten soll. Ist das jetzt für wenige Wochen, oder kann das für länger sein? Ich glaube, Sicherheit haben wir überhaupt keine. Im Gegenteil: Es ist auch ziemlich chaotisch, was da in London läuft.
"Wenn das zum dritten Mal durchfällt, sind wir im Limbo"
Heckmann: Das ist ja keine neue Erkenntnis. Mit den Worten haben Sie die Entwicklung sicherlich auch bei uns hier im Deutschlandfunk schon häufiger kommentiert. Die Frage ist aber jetzt: Wenn die Briten jetzt kommen mit der Bitte auf Verschiebung des Brexit, sollte die EU darauf eingehen?
Leinen: Wenn am nächsten Dienstag das Unterhaus dennoch den Deal annimmt, dann braucht Großbritannien einige Wochen, vielleicht zwei, drei Monate, um die nötigen Gesetze für den Austritt durch das Parlament zu bringen. Da, meine ich, gibt es kein Problem. Wir sind ja noch in der alten Legislaturperiode bis Ende Juni. Zwei, drei Monate bei Annahme des Deals mit der EU, da würde ich sagen, stimmt der Europäische Rat, der Gipfel am nächsten Tag in Brüssel wohl auch zu.
Heckmann: Und wenn es nicht dazu kommt, zu einer Annahme? Bisher gibt es ja keine Anzeichen dafür. Sie haben die O-Töne von den Brexitiers im Bericht von Friedbert Meurer gehört. Die sagen, wir haben keine Anzeichen dafür, warum wir zustimmen sollten.
Leinen: Wenn das wirklich zum dritten Mal durchfällt, dann sind wir wirklich im Limbo. Das heißt, dann weiß auch niemand, wie das weitergehen soll. Dann braucht Großbritannien mindestens ein Jahr, wenn nicht länger, um sich neu zu sortieren, und vor allen Dingen kommen wir dann in die neue Legislaturperiode und es ist wohl absolut notwendig, dass Großbritannien dann an den Europawahlen im Mai teilnehmen müsste.
Heckmann: Das ist rechtlich auch so vorgesehen. Da gibt es keine Alternative zu?
Leinen: Jeder Mitgliedsstaat ist rechtlich verpflichtet, Abgeordnete zum Europäischen Parlament zu wählen, und wenn das nicht passieren würde, würden wir die ganzen Europawahlen gefährden. Es könnte geklagt werden gegen die unrechtmäßige Zusammensetzung des Parlaments. Wir könnten den Kommissionspräsidenten nicht wählen und so weiter und so fort. Die EU wäre geradezu gelähmt, wenn Großbritannien bei einer längeren Verschiebung nicht im Mai an den Europawahlen teilnehmen würde.
Neue Begründung für lange Verlängerung notwendig
Heckmann: Was wäre denn, wenn die Briten, das britische Unterhaus den Deal nicht durchwinkt und eine längere Verlängerung des Brexit beantragt, nämlich um ein oder zwei Jahre, wie es ja auch im Raum steht? Sollte die EU dann darauf eingehen? Donald Tusk, der EU-Ratspräsident, hat ja schon dafür geworben.
Leinen: Es gibt ja viele Gefahren bei einer solchen Verlängerung. Wir müssen zum Beispiel nächstes Jahr den Finanzrahmen bis 2027 beschließen. Und wenn ich mir die Augen zumache und mir eine britische Regierung vorstelle, die ein Jahr später austreten will und trotzdem noch mitbeschließen muss, für was wir in der EU das Geld ausgeben, dann sehe ich jede Menge Erpressungsversuche; also den Briten-Rabatt weiterführen für gewisse Politikbereiche, mehr Geld auszugeben, wo Großbritannien drin bleiben will. Ich glaube, die EU müsste Bedingungen stellen. Man müsste wiederum einen Vertrag machen, eine Vereinbarung, was dann gilt, für das Verhalten von Großbritannien in den Beschlussgremien der EU. Es wäre ja wirklich unerträglich, dass ein Land mit einem Bein draußen ist, mit dem anderen drin, und dann nach Lust und Laune Veto einlegt, blockiert. Das darf sich die EU27 nicht bieten lassen.
Prinzipien der EU müssen respektiert werden
Heckmann: Reichen klare Vereinbarungen zum Verhalten Großbritanniens bei diesen Fragen, oder muss London nicht auch das klare Signal geben, was es denn mit dieser gewonnenen Zeit anfangen will? Harter Brexit, weicher Brexit, Neuwahlen, zweites Referendum – muss das Signal klar übermittelt werden?
Leinen: Wir brauchen mit Sicherheit eine neue Begründung, warum diese lange Verlängerung notwendig ist. Es kann ja nicht so weitergehen wie bisher. Wir haben jetzt fast drei Jahre Zeit gehabt. Jetzt wird zum dritten Mal über einen äußerst sorgfältig ausgehandelten Deal abgestimmt. Was soll da passieren bei der langen Zeit, wenn sich die roten Linien nicht verschieben?
Heckmann: Was muss da konkret drinstehen in der Begründung?
Leinen: Es muss drinstehen, dass die Prinzipien der EU, die Integrität des Binnenmarktes respektiert wird und dass man versucht, eine neue Vereinbarung mit der EU zu schließen. Die kann nicht weniger sein, sondern vielleicht kommt ja auch noch etwas Besseres dabei heraus. Großbritannien bleibt im europäischen Wirtschaftsraum, es gibt doch eine Mehrheit für ein Norwegen-plus-Modell, das heißt Zollunion und Binnenmarkt. Wenn solche Begründungen kämen, dann, würde ich meinen, sollte die EU darauf eingehen. Wenn es nur ein Weiter-so ist und die Industrie hängt in der Luft, die Bürger hängen in der Luft, dann, glaube ich, kann die EU das nicht mitmachen.
Heckmann: Herr Leinen, die Wahrnehmungen auf der Insel und auf dem Kontinent sind ja offensichtlich diametral entgegengesetzt. Die Europäer sprechen von einem fairen Deal, der auf dem Tisch liegt. Das sieht man in Großbritannien in weiten Teilen anders. Der konservative Abgeordnete Greg Hands, der sagte hier gestern im Deutschlandfunk, der Deal sei unfair und einseitig zu Gunsten der EU:
"Das Problem mit dem Abkommen ist: Es ist viel zu vorteilhaft für Brüssel. Aber ich denke, doch ist eine Lösung hier möglich. Es braucht noch ein bisschen Bewegung von Brüssel bei dem Backstop. Die Befürchtung ist in Großbritannien, dass Großbritannien immer in dem Backstop sein könnte. Obwohl: Ironisch darf jedes Land die EU verlassen nach dem Lissaboner Vertrag. Aber niemand darf einen Backstop verlassen."
"Der europäische Binnenmarkt braucht eine Außengrenze"
Heckmann: Die Briten fordern ein bisschen Bewegung. Muss da nicht was kommen?
Leinen: Die Brexitiers hatten das Karfreitagsabkommen und die Grenze zwischen Irland und Nordirland überhaupt nicht auf ihrem Schirm, und daran beißen sie sich jetzt die Zähne aus. Und auch die Brexitiers können nicht die Quadratur des Kreises formulieren. Das hat noch niemand geschafft. Mit anderen Worten: Der europäische Binnenmarkt braucht eine Außengrenze. Entweder ist Großbritannien in der Zollunion, dann gibt es keine Kontrollen zwischen Irland und Nordirland; oder sie wollen nicht in der Zollunion sein und dann gibt es eine Grenze. In London will man partout nicht einsehen, dass man nicht beides haben kann. Man kann nur das eine oder das andere haben, und da führt auch kein Weg dran vorbei, wenn man noch ein Jahr darüber palavert. Diese Fakten sind einfach mal da.
Heckmann: Das heißt, es kann keine Bewegung von Seiten der EU geben?
Leinen: Wir sind völlig ausgereizt. Wir haben so viele Male nachgebessert, jetzt mehrfach. Ich glaube, wir sind am Ende der Fahnenstange. Von EU-Seite sehe ich keinen Handlungsspielraum mehr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.