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Briefe an Beethoven
"Lieber Ludwig, ich fürchtete Deine Musik nicht"

Bereits mit 14 Jahren war Vera Nemirova von Beethoven fasziniert, schnitt ein Bild des Komponisten aus dem Schulbuch und fürchtete sich nicht vor seiner Musik. In ihrem Brief an Beethoven erzählt die heutige Opernregisseurin, wie der Meister sie seitdem durch ihr Leben begleitet.

Von Vera Nemirova | 24.02.2020
    Die Regisseurin Vera Nemirova, aufgenommen am 24.05.2016 in Erfurt (Thüringen) während der Proben für die Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" von Richard Wagner am Theater Erfurt
    Opernregisseurin Vera Nemirova (picture alliance/dpa - dpa-Zentralbild/Martin Schutt)
    Liebster Meister.
    Ich bin's. Deine Unbekannte. Ich war 14, da schnitt ich Dein Bild aus dem Musikbuch der 8. Klasse. Ich trug es bei mir, niemand sollte hören, dass ich heimlich mit Dir spreche. Ich mochte Deine wilde Mähne, Deine steinernen Lippen, diese Augen, das Kinn. Ich fürchtete Deine Musik nicht. Als ich sieben war, sang ich Deine "Ode an die Freude" zum ersten Mal. Gemeinsam mit meiner Mutter am Klavier, die den Sopranpart lernte. Da hörte ich sie sagen, Du würdest nicht für Stimmen, sondern für Instrumente schreiben. Erst viel später habe ich begriffen, was sie damit gemeint hat. Sie sang die "Neunte" 1980 in Tokio, ich wartete auf Nachricht von ihr in meinem Kinderzimmer in Sofia.
    "Ja wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund und -"
    Ich hatte Angst, dass sie bei Dir bleibt, am anderen Ende des Planeten. Sie kam wieder. Sie brachte ein rotes Plakat auf Japanisch, mit Deinem Bild drauf. Es hängt noch heute an der Tür zum Kinderzimmer meiner suchenden Seele.
    Dann traf ich Dich 1984 in Deutschland wieder. Jetzt warst Du mir näher, vertrauter. Du sprachst zu uns in den Versen Deiner "Leonore". "Ja gehen wir ihm entgegen, es endet unsere Harm. Dein Wille Gott ist Segen. Ich stürb in seinem Arm!" Diese Textzeile im Duett zwischen Florestan und Leonore mit dem Konjunktiv von "sterben" als Chance habe ich in Deinem späteren "Fidelio" vermisst.
    "Dieses ganze Geschrei um die Freiheit war mir suspekt"
    Das schwarze Plakat des Volkstheaters Rostock mit der aufgehenden Sonne hing an der Tür zum Schlafzimmer bis 1989, als wir die Wohnung räumen mussten. 2004 inszenierte ich zum ersten Mal Deinen "Fidelio" in Graz. Dieses ganze Geschrei um die Freiheit war mir suspekt. Als die jubelnden Massen in den Kerker des Florestan eindrangen, schlug es mir buchstäblich entgegen: der verordnete Frohsinn, das Happy Endlos. Mein Florestan, verstört und nach zwei Jahren Einzelhaft nicht mehr eingliederungsfähig, kaum befreit, wurde erneut, diesmal von Sanitätern, an ein Krankenbett gefesselt. Der Chor umringte das Bett des "Befreiten" wie beim Fahnenappell. Die treue Gattin Leonore wurde zum Denkmal hochstilisiert. Florestan verfiel dem Wahnsinn. Leonore erstarrte. "Retterin – Retterin..." ratterte der Chor mit starrer Miene, kalt, ohne einen Funken der Freude. Etwas bleibt unerfüllt. Zum ersten Mal. Eine gewisse Leere zwischen Dir und mir.
    Ganz anders, obwohl inhaltlich sehr ähnlich, ging ich mit der Utopie Deines "Lieto fine" im Jahre 2018 am Prager Ständetheater um. Im Taumel des Glücks der neu gewonnenen Freiheit fielen sich die singenden Männer und Frauen in die Arme. Sie tanzten, sie sprangen, sie reckten triumphierend die Hände. Ist dies nun die Freiheit? Oder waren die Feiernden nicht schon wieder zu Gefangenen ihres unfassbaren Glücks geworden? Leonore und Florestan in der Mitte starrten regungslos in diesen Trubel. Fassungslos ob der neu gewonnenen Freiheit. Werden es diese beiden schaffen, wenn sie das Trauma des Erlebten erst einmal vergraben haben?
    "Vor dem Probebeginn meines inzwischen dritten 'Fidelio'"
    Die Ketten des Florestan, zwei geknüllte Papierbögen aus dem Haufen vernichteter Akten, durfte Leonore am Ende zwar aus den verkrampften Fäusten ihres Gatten lösen, war jedoch die äußere von der inneren Freiheit nicht zu trennen. Heute stehe ich erneut vor dem Probebeginn meines inzwischen dritten "Fidelio". Das Plakat - der geschorene Hinterkopf einer Frau - hängt diesmal nicht an der Tür, sondern wird per WhatsApp geteilt. Und es umgarnt mich wieder diese "grauenvolle Stille", die Dein Kerker war. Wie frei warst Du, als Du Deinen Florestan in Dunkelhaft und Kälte dieser grauenvollen Stille aussetztest?
    Ist sein Schrei nach GOTT nicht Deine Stimme aus der Stille? Ich glaube, ich habe sie wieder gehört.
    Leb wohl, Unsterblicher!
    In Liebe
    Deine Unbekannte
    Vera Nemirova