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Britische Identitätssuche
"Selbstverständnis der Engländer ist Nachklang des Empire-Denkens"

Der Schlüssel zum Abstimmungschaos rund um den Brexit liege nicht im Unterhaus, sondern bei den vielen Nationen, die zum Vereinigten Königreich gehörten, sagte der Literaturwissenschaftler Nicholas Boyle im Dlf. Während Schotten, Waliser und Nordiren schon lange Teil einer Einheit seien, gelte dies nicht für die Engländer.

Nicholas Boyle im Gespräch mit Kathrin Hondl | 17.03.2019
Der Literaturwissenschaftler Nicholas Boyle (12.2.2006).
Die Engländer hätten zwar die Macht, aber keine eigene Vertretung, sagte der Literaturwissenschaftler Nicholas Boyle im Dlf (imago / xDrama)
Während Wales, Schottland und Nordirland ihre eigenen Parlamente hätten, habe England keins, so Nicholas Boyle, emeritierter Professor für deutsche Literatur und Geistesgeschichte an der Universität Cambridge. Mit Westminster in London hätten die Engländer zwar die Macht, aber keine eigene Vertretung. "Das ist für das Gefühl der eigenen Identität ziemlich zersetzend."
Der Brexit sei ein "collective English mental break-down", also ein kollektiver englischer Nervenzusammenbruch gewesen. Die historischen Wurzeln dieses Nervenzusammenbruchs lägen dabei sehr tief und gingen lange zurück. Den Briten gehe es nicht um ihren Einfluss in der Außenwelt, sondern um die Frage der Identität und wie sie von einem Selbstverständnis loskämen, das über drei Jahrhunderte durch das Empire gebildet worden sei. "Das jetzige Selbstverständnis der meisten Engländer (...) ist ein Nachklang des Empire-Denkens."
Nationale oder europäische Interessen berücksichtigen?
Nun habe sich das Ganze in eine Verfassungskrise umgewandelt. Das sei vor allem in den letzten Tagen deutlich geworden. Die aktuelle Krise bestünde zumindest zum Teil darin, dass das Referendum mit dem Parlamentarismus, wie man ihn bislang in Großbritannien verstanden habe, nicht vereinbar sei. Die Parlamentarier sähen sich mit zwei völlig unterschiedlichen Vorstellungen von ihrer Verantwortung gegenüber dem Volk konfrontiert. "Sollen sie das Referendum berücksichtigen oder ihre eigene Einsicht in das, was für die Nation das Richtige ist?" Letzteres sei früher immer das Verständnis von der Verantwortung eines Parlamentsmitglieds gewesen, so Boyle.
Die Angst mancher, dass mit dem Brexit auch das Vereinigte Königreich auseinanderbrechen könnte, sei für die Nationalisten in den jeweiligen Ländern ihre Hoffnung, so der Literaturwissenschaftler. Das Problem habe bereits mit dem Brexit begonnen, denn die nationalen Unterschiede seien darin nicht berücksichtig worden. Alles sei in einen Topf geworfen worden. Er könne sich vorstellen, dass nach dem Brexit wieder Spannungen zutage treten werden.
Erst wenn sich die ökonomischen Folgen des Brexit in zehn bis 20 Jahre zeigten, werde man wahrscheinlich zu dem Ergebnis kommen, dass es besser wäre, mit anderen gleichberechtigten Nationen zusammenzuarbeiten, "als allein im Atlantik zu sitzen".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.