Sonntag, 28. April 2024

Archiv

Britische Musikerin Anna Calvi
Kämpferische Utopie

Die 38-jährige Engländerin Anna Calvi sieht aus wie ein Model, singt wie ein Engel und spielt Gitarre wie eine Reinkarnation von Ikone Jimi Hendrix. Ihr drittes Album "The Hunter" ist ein regelrechtes Manifest: gegen den Macho-Zeitgeist, gegen Patriarchalismus in Wirtschaft, Politik und Staat, gegen überholtes Geschlechterdenken.

Von Marcel Anders | 21.10.2018
    Anna Calvi bei einem Konzert im Berghain in Berlin
    Anna Calvi bei einem Konzert im Berghain in Berlin (imago / Votos-Roland Owsnitzki)
    Musik "Rider To The Sea"
    Anna Calvi: "Kreativität kennt keine Grenzen. Ein kreativer Mensch kann sich auf unterschiedlichste Weise verwirklichen – selbst, wenn er nur Salat macht."
    Anna Calvi befasst sich am liebsten mit Gender-Fragen.
    "Ich habe nicht das Gefühl, als ob ich transsexuell wäre. Ich habe gelernt, meinen weiblichen Körper zu akzeptieren, ohne mich darin komplett deplatziert zu fühlen."
    Ihr Ziel ist, dass sich Frauen verwirklichen können.
    "Wenn wir Männer und Frauen gleichermaßen respektieren, warum ist es als Mann dann so schlimm, seine Weiblichkeit auszuleben?"
    Diesem Thema widmet sie ihr neues Album "The Hunter".
    "Ich wollte ein elektrifizierendes Album, das die Idee auslotet, was es heißt, sich von seinen Fesseln zu befreien. Von dem, was dich im Leben einschränkt."
    Entfesselt ist auch ihr Gitarrenspiel.
    "Ich muss zugeben, dass ich nie auf der Gitarre übe. Ich spiele seit so vielen Jahren, dass die Technik einfach da ist."
    Musik: "Chain"
    Personifizierte Schüchternheit
    In der Musikwelt gibt es viele introvertierte Künstlerseelen. Aber Anna Calvi übertrifft die meisten. Die 38-jährige Engländerin ist die personifizierte Schüchternheit. Eine zierliche Schönheit mit roten Schmolllippen, hohen Wangenknochen, Reh-Augen, wild toupierter Sturmfrisur und ganz leiser Stimme. Sie trägt Hosenanzug und rote High Heels, die sie allerdings kaum größer machen. Doch was auf den ersten Blick wie Bambi mit Model-Maßen wirkt, ist ein echter Wolf im Schafspelz: Eine leidenschaftliche Feministin und Schwulen & Lesben-Aktivistin.
    "Ich bin sehr leidenschaftlich darin, was es heißt, eine Frau zu sein. Und ich habe es immer als seltsam empfunden, wie bestimmte Teile unseres Körpers auch unseren Charakter bestimmen sollen. Also, dass eine Frau sehr verletzlich ist, immer lächelt und emotional sein muss. Außerdem ein bisschen passiv und sexy, aber nicht zu sehr. Und dass sie keine Achselhaare haben darf und all diese Sachen. Aber auch Männern haben mit Klischees zu kämpfen, die nichts mit der Realität zu tun haben. Insofern frage ich mich: Muss das sein? Warum unterwerfen wir uns diesen unerreichbaren Idealen?"
    Genauso ehrgeizig ist Anna als Singer/Songwriterin und Gitarristin. Da erinnert sie an einen weiblichen Jimi Hendrix – mit schwarzlackierten Fingernägeln. "Rock et cetera" trifft sie in Berlin, wo sie ihr drittes Album "The Hunter" vorstellt – ein Meisterwerk der melodramatischen Rockmusik.
    Musik: "Swimming Pool"
    "Swimming Pool" aus "The Hunter", dem dritten Album von Anna Calvi, das Ende August erschienen ist. Das Werk ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert - und sticht aus dem blutarmen Einheitsbrei der Charts heraus: Mit Leidenschaft, Seele, Feuer. Weil es neue musikalische Maßstäbe setzt und einer Kampfansage gleicht: An den Zeitgeist, der von Homophobie, Geldgier, Sexismus, Rassismus, machohaften Patriarchen und mangelnder Empathie geprägt ist – als hätte es Bürgerrechtsbewegung und Feminismus nie gegeben. Anna Calvi fordert die Gleichheit der Geschlechter. Sie will, dass sich Frauen verwirklichen können und man ihnen Türen und Tore zu den Schaltzentralen der Macht öffnet. Das – sagt sie - würde für eine bessere Welt sorgen.
    "Ich spreche von einem utopischen Ideal"
    "Es gibt Leute, die an diesem Patriarchat und dieser Heteronormativität festhalten wollen. Einige, weil sie davon profitieren. Andere, weil sie Angst vor Veränderungen haben. Die Lösung wäre, ein System zu finden, in dem niemand von der Unterdrückung des anderen profitiert. Was nicht bedeutet, dass wir mehr Frauen zu Politikern oder CEOs machen müssen, die denselben schlechten Job erledigen wie Männer. Ich spreche von einem utopischen Ideal. Darüber müssen wir reden, weil sich sonst nie etwas ändern wird."
    Teil dieser Utopie ist auch, dass Männer ihre weibliche Seite ausleben können. Dass sie nicht auf Chauvinismus und Unterdrückung ihrer Gefühle gedrillt werden, sondern emotional und verletzlich sind.
    Musik: "Don´t Beat The Girl Out Of My Boy"
    Prügelt nicht das Mädchen aus meinem Jungen – fordert Anna Calvi. Und will damit an die Wurzel allen Übels – an die Erziehung von Kindern. Die dürfe nicht so engstirnig und reaktionär sein, sondern müsse auf Freiheit, Fortschritt und mentale Offenheit bauen. "The Hunter" ist ein feministisches, gesellschaftskritisches Stück Rockmusik – aber auch ein betont queeres, auf dem sie erstmals ganz offen ihre eigene Sexualität thematisiert. Nicht, so sagt sie, dass sie je ein Geheimnis daraus gemacht habe, aber sie hat es auch nie groß erörtert – weil es nicht notwendig war.
    "Ich denke, jeder, der die Homosexualität in meiner Musik hören wollte, hat Bescheid gewusst. Also ich kann mir nicht vorstellen, dass jetzt jemand denkt: "Oh mein Gott – sie hat ihr Coming out!" Schon auf meinem ersten Album befanden sich Songs wie "Suzanne And I" oder "I´ll Be Your Man". Von daher war das immer da. Und es ist auch nichts, dass ich verstecken wollte, um mich den Vorstellungen heterosexueller Menschen unterzuordnen. Das Gefühl hatte ich eher als Teenager."
    Die Freundin hat sie selbstbewusst gemacht
    Der Grund, warum sie das Thema nun in den Vordergrund rückt, ist Annas neue Freundin, mit der sie in Straßburg lebt und die sie selbstbewusst gemacht habe – auch als Songwriterin. Der Beweis: Die zehn Stücke, an denen sie fast vier Jahre gebastelt hat. Zusammen mit bewährten Kräften wie Drummer Alex Thomas und Multiinstrumentalistin Mally Harpaz, aber auch Gästen wie Keyboarder Adrian Utley von Portishead und Martyn Cassey, Bassist der Bad Seeds. Als Produzent fungierte Nick Launay, bekannt durch Nick Cave. Die Aufnahmen fanden in den Konk-Studios von Ray Davies statt, dem Mastermind der Kinks.
    "Ich habe es geliebt! Es ist ein wunderbares Studio, das Ray Davies gehört. Es hat einen tollen Vibe - mit Holzverkleidungen und einem richtig guten Live-Raum. Ich habe mal gehört, wie Ray in der ersten Etage ´You Really Got Me´ gespielt hat. Er hat es zur akustischen Gitarre gesungen. Und das war umwerfend."
    Das analoge Vintage-Equipment der Konk-Studios sorgt bei Anna für eine Rückbesinnung auf den Sound ihres Debüt-Albums von 2011: Sie verzichtet auf Streicher, Klavier, Chöre und Beats – und setzt wieder auf Großes mit Ecken und Kanten. Auf Pathos und Theatralik mit grandiosen Gitarrensoli – alles in der Schnittmenge zwischen Ennio Morricone, Scott Walker, Anthony & The Johnsons und St. Vincent.
    Musik: "As A Man"
    Die Eltern? Psychiater, bekennende Nudisten und LSD-Konsumenten
    So spannend wie ihre Musik ist auch Annas Vita: Sie ist die Tochter eines Italieners und einer Engländerin. Beide sind Psychiater, bekennende Nudisten und LSD-Konsumenten. Sprich: Anna wächst in einem freizügigen Haushalt in Twickenham, südwestlich von London, auf – und ist alles, nur kein typisches Mädchen.
    "Als Kind stand ich auf Jungen-Kram – ich bin auf Bäume geklettert, habe mit Schwertern gekämpft, hatte Spielzeugautos – und habe Puppen gehasst. Ich habe lieber Fußball gespielt und elektrische Gitarre. Ich habe also Sachen gemacht, die typisch für Jungs sind. Und ich fand es sehr frustrierend, wenn sie mich beim Fußball nicht mitspielen ließen, nur weil ich ein Mädchen bin. Ich war also schon mit acht Jahren eine Mini-Feministin. Und das war immer in mir. Ich habe immer darüber nachgedacht."
    Mit sechs lernt sie Geige, mit acht Gitarre und entdeckt ihre Liebe für Hendrix, Bowie und Django Reinhardt. Die sind Teil der heimischen Plattensammlung – genau wie Debussy. Anna will eigentlich Kunst studieren, entscheidet sich aber für Musik – und die Geige. Sie besucht die Universität von Southampton und macht einen Abschluss mit Auszeichnung. Trotzdem tendiert sie letztlich zur Gitarre.
    "Das Gute an der Geige ist die Tatsache, dass es nicht nur um eine Note geht, sondern wie du sie spielst – das ist das Entscheidende. Und das trainiert dein Ohr, denn du musst dich quasi selbst stimmen. Ganz abgesehen davon ist Geige spielen wirklich hart. Viel schwieriger als Gitarre. Und was ich noch an der Gitarre mag: Du kannst damit deine eigene Musik machen statt nur fremde Kompositionen nachzuempfinden. Das habe ich bei der Geige als sehr restriktiv empfunden."
    In den 2000ern spielt Anna in erfolglosen Indie-Bands wie Cheap Hotel. Um über die Runden zu kommen, gibt sie Gitarrenunterricht.
    "Wie ich als Gitarrenlehrerin war? Schrecklich! Ich habe mir alles selbst beigebracht – und hatte keine Ahnung, wie man anderen etwas vermittelt. Von daher war ich nie wirklich gut. Aber ich hatte ein paar süße Schüler, die immer noch spielen. Von daher habe ich ihren Spaß an der Gitarre also nicht völlig ruiniert."
    Zum Singen anfangs zu schüchtern
    Die meiste Zeit verwendet sie jedoch auf ihr eigenes Spiel. Zum Singen ist sie anfangs zu schüchtern, setzt stattdessen ihr Instrument wie eine Stimme ein. Doch als Solo-Künstlerin muss sie notgedrungen den Gesang übernehmen. Eine Tortur für die schüchterne Frau, die etliche Auftritte unter Tränen abbricht.
    Bei einem Konzert, bei dem alles glatt läuft, wird sie schließlich entdeckt – von Domino Records, dem Label von Arctic Monkeys und Franz Ferdinand. Ein Glücksgriff: Allein die Veröffentlichung der Single "Jezebel" reicht, um Anna ins Vorprogramm von Interpol und Grinderman zu bugsieren. Und sie zum Liebling berühmter Kollegen zu machen.
    "Brian Eno war die erste berühmte Person, die ich je getroffen habe. Und ich weiß noch, wie ich dachte: "Oh mein Gott, das ist Brian Eno!" Aber dann habe ich gemerkt, dass er ein wunderbarer Mensch ist. So intelligent, dass es geradezu ansteckend ist. Er sorgt dafür, dass du selbst mehr lernen willst – weil er so viel weiß. Und was ich noch daran mag, ältere Künstler zu treffen, ist die Tatsache, dass sie diese Ruhe haben und dir nicht das Gefühl geben, dass sie dir irgendetwas beweisen müssten. Was bestimmt nicht nur daran liegt, dass sie erfolgreich sind. Sondern: Wenn Menschen älter werden, fühlen sie sich wohler in ihrer Haut und haben nicht mehr dieses Ego. Sie machen ihre Arbeit, weil sie sie lieben. Und das war mit das erste, was ich gemerkt habe, als ich Brian Eno, David Byrne oder Marianne Faithfull getroffen habe – diese Stärke, die sie als ältere Menschen haben."
    Musik: "Jezebel"
    Spektrum erweitern
    "Jezebel" von Wayne Shanklin aus dem Jahr 1951 – hier in der Version von Anna Calvi. Ein Vorbote auf ihr Debüt-Album, das im Januar 2011 erscheint – mit einem Gastauftritt von Brian Eno. Die Kritik lobt das Album über den grünen Klee. 2013 beginnt Anna Calvi mit der Arbeit an ihrem zweiten Album "One Breath". Es entsteht in Frankreich und Texas, und zeigt eine Künstlerin, die einen reiferen, erwachseneren Sound sucht. Die damals 32-jährige setzt auf Klavier und elektronische Beats, experimentiert mit Avantgarde und Noise. Sie bemüht sich, ihr Spektrum zu erweitern. Ein löblicher Ansatz, der normale Musikkonsumenten jedoch dezent überfordert.
    Musik "Love My Life"
    Logische Folge: "One Breath" ist nicht so erfolgreich wie sein Vorgänger – beschert Anna aber viel Anerkennung aus dem Art-Pop-Lager und der Modewelt: Sie übernimmt Model-Jobs für große Labels. Zugleich wagt sie sich an erste Film-Soundtracks, die Musik zur Oper "The Sandman" und einen Auftritt beim David Bowie-Tribut-Konzert in New York – bei dem sie Bowies späten Song "Blackstar" interpretiert. Eine Herausforderung.
    "Der Song ist wie eine kleine Oper – er hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende - und er ist schwierig zu singen. Also eine anstrengende Sache. Und mit so viel Text! Ich meine, ich habe ein schlechtes Gedächtnis. Von daher habe ich ein echtes Problem mit: "Ich bin ein Wunder-Stern, ein dunkler Stern, ein schwarzer Stern, ein weißer Stern." Bei der Show in New York habe ich das zum ersten Mal gesungen – und dann gleich in der Radio City Music Hall, beim Konzert zu Ehren von Bowie. Ich habe gebetet, dass die Leute diese unterschiedlichen Sterne nicht auswendig gelernt haben. Und ich hoffe, sie verzeihen mir, wenn ich ein paar durcheinandergebracht habe."
    Musik: "Blackstar" JHEREK BISCHOFF/AMANDA PALMER/CALVI
    Musik: "Wolf Like Me"
    Anna Calvi ist eine wahre Gitarrenvirtuosin. Sie schlägt ihre Saiten mit einer ungewöhnlichen kreisförmigen Rühr-Bewegung an und sorgt für regelrechte Klang-Eruptionen. Dabei ist das eigentlich ihr Zweit-Instrument, auf dem sie angeblich nie übt. Auch ihre Soli intoniert sie ganz spontan.
    "Ich darf dabei nicht zu viel denken"
    "Schließ die Augen und leg los! Hab keine Angst, sondern probiere einfach – egal, was dabei rauskommt. Das entspricht der Art von Musikerin, die ich bin: Ich klinge am besten, wenn ich Risiken eingehe und mich einfach auf den Moment konzentriere – auf das Gefühl. Ich darf dabei nicht zu viel denken."
    Annas favorisierte Gitarre ist eine Fender Telecaster aus den frühen 90ern, die sie mit 14 geschenkt bekommen hat. Im Verbund mit einem Vox AC30-Verstärker erzielt sie einen mächtigen, imposanten Sound - oder imitiert andere Instrumente bzw. Natur-Erscheinungen: Den Klang einer Harfe, das Rauschen eines Bachs oder prasselnder Regen. Da sieht sich Calvi als Künstlerin, die mit ihrer Musik Bilder malt – und etwas ganz anderes macht als die lieben Kollegen. Ihr geht es um Expressivität statt handwerkliche Perfektion. Um interessante Sounds statt endloser Soli. Um unkonventionelle Ideen statt Ansätzen aus dem Lehrbuch. Deshalb wird sie oft mit Jimi Hendrix verglichen. Das schmeichelt ihr, macht sie aber auch verlegen.
    "Dagegen habe ich nichts einzuwenden, denn ich bin mit Hendrix aufgewachsen. Nur: Ich denke nicht, dass jemand auch nur im Entferntesten wie er klingen kann. Einfach, weil sein Spiel unfassbar musikalisch ist. Also sehr emotional. Er war toll."
    Musik: "Suddenly"
    Bislang hat sie noch keine Songs vom Urvater der modernen Rock-Gitarre gespielt. Dafür ist sie zu bescheiden - auch wenn ihr Spiel gerade live sehr expressiv ist. Von ihren Qualitäten kann man sich im Januar 2019 überzeugen, bei vier Konzerten in Deutschland. Ebenso von der Klasse ihres neuen Materials und ihrer neuesten Show-technischen Errungenschaft: Einem Laufsteg, der weit ins Publikum reicht.
    "Es herrscht ja immer diese Trennung zwischen dem Künstler auf der Bühne und dem Publikum. Aber wenn du da rausgehst und die Leute um dich herum sind, bist du ihnen viel näher. Und sie erleben den Augenblick, in dem du alles rauslässt, noch intensiver. Im Sinne von: Das ist wirklich intim. Also aufbauend, aber auch einschüchternd. Für alle Beteiligten."
    Das hat wenig mit dem schüchternen Wesen im Interview zu tun. Aber Anna Calvi mit Gitarre sei halt eine ganz andere Anna Calvi als im normalen Leben – lacht sie. Die eine brüllt einem direkt ins Gesicht, die andere traut sich ihrem Gegenüber nicht einmal in die Augen zu schauen. Eine Frau, zwei Extreme: Beide sind äußerst interessant.