Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok hält es für möglich, dass der Europäische Rat den Antrag Großbritanniens auf eine Fristverlängerung für den Brexit ablehnt. Der britische EU-Gegner Nigel Farage habe erklärt, es gebe bereits Absprachen zwischen ihm und dem italienischen Innenminister Matteo Salvini, einer Verschiebung nicht zuzustimmen.
Für eine Verschiebung des Brexits ist im Europäischen Rat eine einstimmige Entscheidung erforderlich. Sollte es zu einer Verschiebung kommen, plädierte Brok für einen Aufschub bis maximal zum 23. Mai 2019. An diesem Tag fände andernfalls in Großbritannien die Europawahl statt. Eine Teilnahme der Briten an der Wahl halte er für "unerträglich", so Brok.
Elmar Brok zu Victor Orbán: "Nicht nur Plakate abhängen"
Kommende Woche will die Europäische Volkspartei (EVP) über einen Ausschluss der ungarischen Fidesz-Partei von Ministerpräsident Victor Orbán entscheiden. Elmar Brok wollte sich nicht festlegen, wie die Entscheidung ausfallen werde. Die Diskussion sei noch nicht geführt worden. Für ihn sei aber klar, dass sich Orbán inhaltlich zurückhalten müsse. "Das ist nicht nur die Frage, dass man Plakate abbaut, die eine Unverschämtheit sind", so Brok wörtlich. Orban müsse klar machen, dass er zu Demokratie, Wissenschaftsfreiheit und der europäischen Einigung stehe.
In diesem Zusammenhang begrüßte Brok den Vorschlag von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für eine europäische Demokratieagentur, die die Einhaltung des Rechtsstaatsprinzips in allen Mitgliedsländern überwachen soll.
Das Interview in voller Länge:
Kapern: Herr Brok, im Europaparlament in Straßburg gab es in dieser Woche eine Debatte nach der zweiten Brexit-Abstimmung im Londoner Unterhaus. Und bei den Abgeordneten war da zu spüren die Frustration. Es war zu spüren das Entsetzen, Verzweiflung, Fassungslosigkeit und manchmal auch Wut mit Blick auf das, was da in London gerade in Sachen Brexit passiert. Was gibt eigentlich Ihr Gefühlshaushalt her, wenn Sie im Moment das Wort Brexit hören?
Brok: In der Tat auch tiefe Frustration. Ich habe den Brexit insgesamt für schlecht gehalten, auch insbesondere für Großbritannien. Aber die Tatsache, wie dieses gehandhabt wird, mit schlimmen Sprüchen in London, seit dieser Prozess begonnen hat, über Europa, beleidigenden Charakters, Unwahrheit gegenüber der eigenen Bevölkerung und jetzt einer Situation, dass die sich im Unterhaus aus persönlichen oder parteipolitischen Fragen über nichts einigen können. Es gibt dort nur Mehrheiten gegen etwas, nicht für etwas. Und uns belästigen sie damit. Das regt mich am meisten auf. Wir können den anbieten gegenwärtig, was wir wollen, sie würden alles ablehnen, weil niemand für den Antrag des anderen im Unterhaus stimmt.
Kapern: Das britische Unterhaus – ich sagte es eben – hat den Austrittsvertrag, den die EU 27 mit London ausgehandelt haben – daran muss man ja immer mal wieder erinnern, dieser Vertrag wird Großbritannien ja nicht oktroyiert. Diesen Vertrag hat das Unterhaus in dieser Woche zum zweiten Mal abgelehnt. Und in der kommenden Woche wird Theresa May jetzt beantragen, den Austrittstermin, der bislang der 29. März ist, zu verschieben. Und es scheint bei den Regierungen der übrigen Mitgliedsstaaten Konsens zu sein, dass man dieser Bitte auf jeden Fall entsprechen wird. Warum eigentlich?
Brok: Also, ich bin mir nicht sicher, ob das ein Konsens ist, denn ich glaube, sie muss doch begründen für welchen Zweck. Denn einfach nur monatelang so weitermachen wie bisher, hilft nichts. Ich glaube, sie muss deutlich machen, wo eine Mehrheit liegen könnte im Unterhaus. Es ist notwendig, dass bis dahin die Regierungschefin und der Oppositionschef miteinander reden – was sie bisher nicht ernsthaft getan haben, um nach gemeinsamen Lösungen zu suchen, weil bei der gegenwärtigen Besetzung im Unterhaus keine Seite eine wirkliche Mehrheit hat. Und das ist, glaube ich, ein Stück Verpflichtung. Und dann müssen wir wissen: Soll das eine Verlängerung sein noch im Mandat dieses Europäischen Parlaments, damit die nicht an Europawahlen teilnehmen? Oder ist das eine Verlängerung, dass sie an Europawahlen teilnehmen, was ich als unerträglich empfinden würde, wenn das der Fall ist.
"Wenn ich die Politik von Salvini sehe, halte ich das für vorstellbar"
Kapern: Aber noch mal nachgefragt, Sie halten das durchaus für möglich, dass der EU-Gipfel in der kommenden Woche den Wunsch auf Verlängerung ablehnt?
Brok: Das muss einstimmig geschehen. Und da gibt es doch sehr unterschiedliche Auffassungen. Da wird sogar das Szenario aufgebaut, wie Herr Farage das sagt, man habe mit Salvini schon abgesprochen, dem starken Mann der italienischen Regierung, dass er jede Verlängerung ablehnen wird. Und dann ist das Spiel schon beendet.
Kapern: Nigel Farage, das ist der Frontmann der Brexiteers im Zusammenspiel mit Salvini, dem italienischen Innenminister.
Brok: Ja. Er selbst behauptet, das sei der Fall, dass es solche Absprachen gäbe. Ich weiß nicht, ob er da nur jetzt Wirbel macht, oder ob das wahr ist. Aber, wenn ich die Politik von Salvini sehe, halte ich das für vorstellbar. Wie gesagt, die Verlängerung muss einstimmig im Rat, im Europäischen Rat geschehen. Und das ist immer im Unwägbaren.
Kapern: Sie haben das gerade angedeutet, es gibt für eine Verlängerung ja zwei verschiedene Modelle. Das eine Denkmodell besagt, dass man allenfalls bis zum Termin der Europawahlen, vielleicht noch bis zur konstituierenden Sitzung des neuen Europaparlaments Anfang Juli den Austritt verschieben könnte. Das ist ein Modell, das, glaube ich, auch Jean-Claude Juncker, der Kommissionspräsident, präferiert. Donald Tusk hingegen hat diese Woche vorgeschlagen, den Briten doch gleich richtig viel Zeit, zusätzliche Zeit zum Nachdenken zu geben – ein Jahr. Welche Verschiebung würden Sie denn bevorzugen, wenn es denn eine Verschiebung sein soll?
Brok: Ich halte den Vorschlag von Juncker für richtig, das bis zum 23. Mai zu machen. Am 24. Mai sind die Europawahlen. Wären sie in Großbritannien, dann bräuchten sie nicht zu kandidieren. Und ich glaube, wenn hier klar ist, dass sie mit dem Verlängerungsantrag erklären, was in diesem Zeitraum geklärt sein muss, denn "no extension without clarification", das ist, glaube ich, eine Grundbedingung. Das ist auch die Auffassung der großen Mehrheit im Europäischen Parlament, dass das so geschehen kann.
Kapern: In den Verträgen findet sich aber nichts davon, dass eine Begründung mitgeliefert werden muss.
Brok: Aber nach dem Verhalten der Briten bisher halte ich das für einen Fall der politischen Klugheit.
Kapern: Aber was könnte London, was könnte Theresa May in Aussicht stellen, glaubhaft, was bis Ende Mai noch zu erreichen ist an Konsensfindung in London? Das sind ja nur ein paar Wochen. Was soll da gelingen können?
Brok: Das ist ganz einfach. Es müssten Regierung und Opposition miteinander reden – nicht London mit Brüssel reden, London mit London. Das halte ich für die einzige Chance. Wir werden auch in den zwei Monaten nichts Neues verhandeln können, was erfolgreich im Unterhaus sein könnte, weil dort ja prinzipiell jeder gegen den Antrag des anderen stimmt, selbst, wenn er den Antrag für richtig hält. Das ist ein pures parteipolitisches Spiel, das ja auch in der Art und Weise schon zur Lustigkeit führt. Es soll ja in Deutschland inzwischen Leute geben, die sagen: "Gucke ich Champions League oder gehe ich Unterhaus gucken?", weil da viel Freude durch das Theater da besteht. Und hier muss einfach Verantwortlichkeit da sein, dass Opposition und Regierung gemeinsam in einer solchen historischen Frage eine Übereinstimmung finden.
Brok: May kann nicht versuchen, den Deal allein durchzubekommen
Kapern: Gibt es dafür irgendein Anzeichen, dass sich so etwas in den nächsten Wochen bewegen könnte?
Brok: Corbyn hat in dieser Woche eine solche Anmerkung gemacht. Und Frau May muss auch begreifen, sie kann keine Mehrheit machen auf der Grundlage alleine ihrer Partei. Da sind immer die 50, 70 Hard Brexiteers plus die irische DUP, die dagegen stimmen wird. Sie kann nicht versuchen, den Deal durchzubekommen allein auf der Grundlage ihrer Partei, die gespalten ist. Das geht einfach nicht.
Kapern: Noch mal ein Blick auf die andere Variante einer möglichen Verlängerung einer Verschiebung des Brexit über das Datum der Europawahlen hinaus. Das würde bedeuten, die Briten müssten an diesen Wahlen teilnehmen. Mit welchen Konsequenzen? Warum ist Ihnen das inakzeptabel?
Brok: Sehen Sie, die würden dann im Juli schon den Kommissionspräsidenten wählen, im September die Kommission wählen. Wir haben jetzt die Beratung nach der Europawahl bis zum Herbst hin für den siebenjährigen Finanzplan. Das heißt, sowohl im Personal als auch inhaltlich werden die wesentlichen Strukturen der nächsten fünf Jahre festgeschrieben. Und da sollte nicht jemand mitbestimmen, der dann ein paar Monate später sich vom Acker macht. Das halte ich eigentlich nicht für fair und für richtig.
Kapern: Nun ist es ja so, dass Theresa May, bevor sie dann am Donnerstag nach London zum EU-Gipfel kommt, noch einmal über diesen Austrittsvertrag abstimmen lassen will, am Mittwoch. Und zwar gibt es da Bewegung in London, dass angeblich der Rechtsberater der britischen Regierung, Geoffrey Cox – wir müssen da jetzt ein wenig ausholen – ein neues Gutachten hervorzaubert unter Berufung auf internationales Recht, nämlich die Wiener Vertragsrechtskonvention, sagt er: "Eigentlich gibt uns diese Konvention das Recht, den Austrittsvertrag und den Backstop einseitig zu kündigen. Wir können also problemlos unterschreiben." Was halten Sie von dieser Rechtsinterpretation?
Brok: Das ist eine einseitige Erklärung, die ich nicht für richtig halte. Wenn die jetzt einseitige Interpretationen vornehmen, daran kann man sie nicht hindern. Aber das ist nicht vom Vertrag gedeckt. Aber, wenn es der richtigen Entscheidung dient, dann sollen sie es meinetwegen machen. Aber das ist in dieser Konsequenz, dass man automatisch einseitig aufkündigen könnte, nicht der Fall.
Kapern: Welche Verantwortung für das ganze Schlamassel trägt eigentlich der Rest der EU?
Brok: Ich glaube, der entscheidende Punkt mit Großbritannien ist, dass sie nie Frieden gemacht haben, dass die Europäische Union auch ein politisches Konzept ist. Für die war das immer der Common Market. Und deswegen wollen sie nie diese politische Integration. Da ist ein großer Fehler gemacht worden, von der britischen Regierung als auch von uns, dass wir dieses Missverständnis über Jahrzehnte haben bestehen lassen.
Brok: Müssen deutlich machen, dass Viktor Orbán sich zurückhalten muss
Kapern: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Elmar Brok, Europaabgeordneter der CDU, Brexit-Beauftragter der EVP Fraktion im Europäischen Parlament. Wechseln wir das Thema, Herr Brok. Vor dem EU-Gipfel in der kommenden Woche treffen sich noch die Spitzen der Europäischen Volkspartei, also der Parteifamilie der europäischen Christdemokraten in Brüssel. Auf der Tagesordnung steht der Rauswurf Viktor Orbáns und seiner Fidesz-Partei aus der EVP. Ihre Parteivorsitzende, Annegret Kramp-Karrenbauer hat noch nicht wissen lassen, ob sie dafür oder dagegen ist. Was raten Sie ihr?
Brok: Nun, ich glaube, dass wir deutlich machen müssen, dass Viktor Orbán wirklich im Inhaltlichen sich zurückhalten muss. Das ist nicht nur die Frage, dass man Plakate abbaut, die eine Unverschämtheit sind, die auch mit diesem antijüdischen Element … die darin eine Rolle spielen. Das bedeutet aber auch, dass seine Minister sich anders äußern, wenn sich dann der Justizminister äußert, der Spitzenkandidat der Ungarn dieser Wahl ist, dass die EU-Kommission das neue Politbüro nach sowjetischem Stil ist, ist das nicht hinnehmbar. Aber das ist die entscheidende Frage auch, die mit Freiheit der Wissenschaft zu tun hat, deswegen diese Universitätsfrage, die dort … die europäische Universität, die dort verjagt werden soll.
Kapern: Die Central European University, die Stiftungsuniversität, die von George Soros bezahlt wird.
Brok: Ja. Das ist ein Punkt. Das hat mit Freiheit der Wissenschaft zu tun. Orbán muss auch klarmachen, dass er liberale Demokratie akzeptiert. Er muss auch klar machen, dass er dieses Europa akzeptiert und nicht eine alte Vorstellung von nationalstaatlichen Beziehungen hineinbringen kann. Dies halte ich für ein wichtiges inhaltliches Problem.
Kapern: Ja, aber diese Forderungen an Orbán, all dies deutlich zu machen und sozusagen seinen Konsens mit dem Rest der europäischen Christdemokraten zu unterstreichen, diese Forderungen bestehen ja seit langem. Ich würde Sie gerne noch zu einer Festlegung überreden, was Annegret Kramp-Karrenbauer, die CDU-Vorsitzende, tun sollte, wenn sie dann Mitte der Woche in Brüssel ist und gefragt wird: Soll Viktor Orbán ausgeschlossen werden, ja oder nein? Soll sie ja sagen oder soll sie nein sagen?
Brok: Ich halte das für zu früh, weil wir die Diskussion noch nicht geführt haben. Sie sieht diese Punkte auch, ist dort genauso kritisch in diesen Fragen. Und, wenn Viktor Orbán hier nicht Glaubwürdigkeit mit sich bringt, dass er sich daran hält, dann müsste, glaube ich, die Partei ausgeschlossen werden oder zumindest die Mitgliedschaft suspendiert werden.
Kapern: Warum fällt es der EVP so schwer, sich von einer Partei zu trennen, die antisemitische, rassistische, islamophobe Parolen verbreitet, um ihre Wahlziele zu erreichen? Warum diese Schwierigkeit, da einen klaren Trennungsstrich zu ziehen?
Brok: Es ist immer ein Problem, wenn man ein Land verliert in einer Parteienfamilie. Dasselbe Problem haben die Sozialisten mit den rumänischen Sozialisten, die dort Rechtsstaatlichkeit zerstören gegenwärtig. Das muss von allen Parteien gemacht werden. Deswegen halte ich den Vorschlag von Präsident Macron gut, eine Agentur für Demokratie einzuführen und intensiver zu prüfen. Und ich halte es für notwendig, dass die demokratischen Parteien einen Pakt schaffen, dass jeder für sich auch nach gemeinsamen Kriterien gegen solche Mitgliedsparteien vorgeht, damit es dann nicht Wettbewerbsvorteile gibt. Man jagt die EVP gegenwärtig, aber über die Sozialisten in Rumänien redet hier niemand. Ich glaube, hier sollte man das Verständnis der demokratischen Parteien haben, dass wir nur gemeinsam mit gemeinsamen Kriterien gegen solche Parteien vorgehen.
"Ich glaube, dass die Prodemokraten gewinnen können"
Kapern: Viktor Orbáns Fidesz-Partei ist ja bei Weitem nicht die einzige Gruppierung, die in der EU wieder auf Nationalismus und Rassismus setzt. Probleme gibt es auch mit Rumänien – Sie haben es gerade angesprochen – mit Polen, mit Italien. Etliche Mitgliedstaaten stehen mittlerweile mit dem Rechtsstaat, dem europäischen Rechtsstaat auf Kriegsfuß. Was bedeutet das eigentlich für das nächste Europaparlament, das im Mai gewählt wird und sich im Juli konstituiert? Welche Gestaltungsmacht können solche politischen Kräfte im nächsten Europaparlament erlangen?
Brok: Ich glaube, dass die Prodemokraten gewinnen können. Und ich hoffe, dass die junge Generation auch zur Wahl geht, die in England nicht zur Wahl gegangen ist. Wenn die jungen Leute in England zum Referendum gegangen wären, hätte es keinen Brexit gegeben. Und ich glaube, dass hier in dieser Frage wir auch kämpfen müssen mit den Ländern. Ich glaube, dass die Kaczyński-Partei im Herbst verschwinden wird. Die haben bei den Regionalwahlen …
Kapern: Die PiS, die polnische Regierungspartei?
Brok: Die PiS. Die haben alle großen und mittleren Städte verloren. Zwölf der 16 Regionen, oder 17 Regionen, sind nicht mehr in ihrer Hand. Das heißt, Bürger stehen auch auf in diesen Ländern. Auch in Rumänien gibt es Demonstrationen. Wir müssen die Menschen, die an Europa und an Demokratie und Rechtsstaat glauben, in diesen Ländern unterstützen. Wir dürfen nie das Land verurteilen. Man darf nie ein Land mit einer schlimmen Regierung gleichsetzen. Und ich glaube, diese Prozesse müssen deutlich vorangebracht werden. Es bedeutet aber auch … ich glaube, dass man diese Parteien unter 30 Prozent im Parlament halten kann, sodass weiterhin … und die Briten verschwinden. Es gibt keine Tories und kein UKIP mehr im Europäischen Parlament, die antieuropäischen Charakter, die mit hineingebracht werden, sodass man das unter Kontrolle halten kann, wenn gute Wahlbeteiligung da ist und diese Voraussetzungen gesehen werden. Das scheint mir der wichtigste Weg zu sein, Demokratie zu sichern.
Kapern: Wir zeichnen dieses Interview am Rande einer Tagung der evangelischen Akademie in Tutzing auf, wo Sie gleich einen Vortrag halten werden mit dem Titel "Mir ist um die Zukunft Europas nicht bange." Diese Zuversicht teilen ja nicht viele, beispielsweise auch mit Blick auf mutmaßliche Wahlergebnisse von Rechtsextremisten und Rechtspopulisten bei den kommenden Europawahlen. Die Spaltung in Ost und West ist ein großes Problem in der Europäischen Union, die Spaltung in Nord und Süd. Und trotzdem stellen Sie sich in Tutzing an das Mikrofon und halten eine Rede mit dem Titel "Mir ist um die Zukunft Europas nicht bange". Woraus speist sich diese Zuversicht?
Brok: Die speist sich aus den Erfolgen, die wir gehabt haben. Wir haben die Finanzkrise, die aus den USA kam, überwunden. Wir reden bloß nicht darüber. Wir haben Wachstumsraten in allen Ländern. Wir sind in allen Ländern der Eurostaaten, fast allen Ländern, unter den Mastricht-Kriterien – was vor fünf Jahren noch keiner für möglich gehalten hat. Die Europäische Union hat eine geringere Staatsverschuldung als die Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben heute über 90 Prozent weniger Flüchtlinge pro Monat als im Herbst 2015. Über diese positiven Daten redet niemand. Wir haben eine Situation, dass in Deutschland wir am europäischen Binnenmarkt pro Jahr 180 Milliarden Überschuss haben. Die Europäische Union kostet uns zwölf Milliarden Euro netto. Das ist weniger als ein Drittel als die Bundeswehr uns kostet. Und dabei fliegen unsere Flugzeuge im übertragenen Sinne. Es sind positive Ergebnisse. Und darauf muss man aufbauen. Wir sind aber noch nicht gut genug, um die Zukunftsaufgaben zu bewältigen – vom Klimawandel, der Migration, die innere und äußere Sicherheit, Digitalisierung und Globalisierung. Aber das kann doch kein Nationalstaat mehr – gegen die Xis und Putins und Trumps. Und ich glaube, dass die junge Generation das sehr viel intensiver sieht. Ich habe gestern in meiner Heimatstadt zwei Stunden mit Schülern diskutiert. Und, wenn ich sehe, mit welchem Optimismus … kritisch fragend Europa besser machen sollen, mit welchem Optimismus die da rangehen und sagen: "Das ist meine Zukunft, das muss ich gestalten, damit ich über die Grenzen arbeiten kann, dass wir unsere Chance in dieser Welt wahrnehmen." Wenn ich sehe, dass junge Menschen freitags für Umwelt demonstrieren, das kann doch nicht Deutschland allein – am Hambacher Forst das Klima in der Welt zu retten. Das müssen wir doch insgesamt breiter und größer aufstellen. Ich glaube, die jungen Menschen, die Erasmus-Generation versteht das viel besser als wir alten Säcke.
Brok: Müssen dieses Europa in vielen Dingen voranbringen
Kapern: Europa besser machen wollen ja nicht nur die Schüler in Ihrer Heimatstadt, mit denen Sie diskutieren. Europa richtig machen will ja auch Annegret Kramp-Karrenbauer. So hat sie das geschrieben in einem Artikel, der kürzlich in der "Welt am Sonntag" erschienen ist. Ist dieser Aufsatz die Antwort, die Emmanuel Macron, der französische Staatspräsident, auf seine französischen Europaoffensiven verdient?
Brok: Also erstens, ich glaube nicht, dass es den Anspruch der Antwort enthält, sondern die Beschreibung einer eigenen Position. Und ich glaube aber, dass es in die richtige Richtung hineingeht, dass wir dieses Europa in vielen Dingen voranbringen müssen. Aber es macht auch Unterschiede deutlich. Man kann für Macron sein und dessen Initiative, die ich für großartig halte, aber man muss nicht für einen europaweit festgelegten Mindestlohn sein. Ich bin der Auffassung, dass jeder einen Mindestlohn haben soll und das ist in der Europäischen Union inzwischen so, aber jeder sollte das nach seiner Art des Tarifrechts, und was es hat, selbst machen unter bestimmten Bedingungen, aber nicht gemeinsam festzulegen. Darüber kann man streiten. Das ist kein Grundsatzstreit, sondern ein Streit in der Umsetzung. Und diese Unterschiede muss man schon machen. Und daraus sollte man nicht den Streit machen, dass Macron abgelehnt worden ist.
Kapern: In diesem Papier von Annegret Kramp-Karrenbauer findet sich auch die Position – und jetzt müssen wir ein wenig theoretisch werden – dass die intergouvernementale Methode gleichberechtigt sein soll mit der Gemeinschaftsmethode in Europa. Also, das, was die Regierungen miteinander, untereinander besprechen, beschließen im Hinterzimmer, soll gleichberechtigt sein mit den formalisierten, transparenten Prozessen zwischen Kommission und Parlament und Rat. Was sagt ein Europaabgeordneter zu dieser Vorstellung?
Brok: Dazu bin ich in der Diskussion mit meiner Parteivorsitzenden. Die intergouvernementale Methode ist immer genutzt worden.
Kapern: Aber Diskussion heißt, Sie widersprechen ihr in diesem Punkt?
Brok: Ich bin mit der Gleichstellung nicht einverstanden. Ich halte die intergouvernementale Methode manchmal als ersten Schritt für richtig. Das hat man bei Schengen so gemacht und in ein Gemeinschaftsrecht überführt. Das ist immer wieder gemacht worden. Aber das Gemeinschaftsrecht muss immer der Punkt sein. Das ist schon ein Effizienzpunkt, nämlich bei Gemeinschaftsmethode kann ich mit Mehrheit abstimmen. Intergouvernemental ist immer einstimmig. Und das ist einer der Hauptfehler, die wir bei uns haben. Und die Transparenzfrage mit Legitimation gehört auch dazu. Ich würde viel lieber fordern, dass der Ministerrat in Zukunft bei Gesetzgebungen öffentlich tagt, wie bei uns der Bundesrat, damit die Regierungen sich nicht mehr verstecken können hinter Beschlüssen in Brüssel, die sie selbst gefasst haben. Und das scheint mir ein wichtiger Punkt zu sein. Die Gemeinschaftsmethode ist diejenige, die voranbringt. Europa funktioniert überall da, wo es die Gemeinschaftsmethode ist. Der Binnenmarkt ist das beste Beispiel dafür.
Kapern: Nun hat es immer unterschiedliche Auffassungen unter den einzelnen Mitgliedsstaaten gegeben, welcher Methode man den Vorzug gibt. In Frankreich hat es immer wieder größere Sympathien für die intergouvernementale Methode gegeben. Deutschland stand grundsätzlich im anderen Lager und hat auf die Gemeinschaftsmethode gesetzt. Wenn jetzt eine möglicherweise künftige Kanzlerin einen solchen Satz schreibt, ist das nicht ein wahnsinniger Bruch mit der Tradition der Europapolitik der Bundesrepublik?
Brok: Ich glaube, die Union ist darüber noch in Diskussion. Und wir werden sicherlich feststellen in dieser Diskussion, dass das Ziel am Ende das Gemeinschaftseuropa sein muss. Nur das Gemeinschaftseuropa ist demokratisch kontrolliert. Bei der intergouvernementalen Methode gibt es kein europäisches Parlament, denn dafür braucht man das nicht. Da hat es kein Eingriffsrecht. Und ich glaube, dass der Punkt vielleicht auch ein Stück überbewertet wird und falsch eingeschätzt worden ist aus der früheren praktischen Arbeit einer Ministerpräsidentin heraus, dass wir in dieser Frage auch vorankommen und die Gemeinschaftsmethode immer als Ziel und Methode betrachten.
"In dieser globalen Ordnung ist jeder europäische Staat ein Kleinstaat"
Kapern: Herr Brok, Sie gehören dem Europaparlament seit 1980 an, seit fast 40 Jahren. Bei der nächsten Europawahl treten Sie nicht noch einmal an. Noch zwei Plenarwochen, wenn ich richtig gezählt habe, dann war es das für Sie. Dass es Ihnen um Europa nicht bange ist, das haben Sie uns ja eben schon erklärt und warum das so ist. Aber mit welchem Gefühl gehen Sie?
Brok: Also, ich gehe einmal mit einem hohen Gefühl der Zufriedenheit, was erreicht worden ist. Als ich vor 39 Jahren Mitglied wurde, waren wir neun Länder und hatten eine lose Zollunion. Man redete von Eurosklerose und hatte noch keine Währungsunion, keinen Binnenmarkt, kein Schengen, nicht die Anfänge in der Außen- und Sicherheitspolitik. Wir sind heute ein wiedervereinigtes Europa mit nämlich 27 Ländern. Das ist ja eine ungeheure Revolution des europäischen Zusammenwachsens, was uns in diesen Jahren gelungen ist. Aber auch mal ein Stückchen Sorge. Begreifen wir aufgrund der öffentlichen Diskussion, dass die Zukunftsaufgaben nur gemeinsam bewältigt werden können? Und, wenn ich den Zulauf zu den Populisten sehe, die wieder "Deutschland Erster", "Frankreich Erster" sagen, dann sind das wieder die Methoden, die den Wettbewerb in der Weise bringt, dass man den anderen dafür schlechter macht, dass man die Grenzen dicht macht. Wenn ich dann die Diskussion zwischen Frankreich und den Italienern vor ein paar Wochen gesehen habe, stelle ich plötzlich fest, dass Vokabulare zwischen Ländern möglich werden, die früher zu Kriegen geführt haben. Und hier müssen wir, glaube ich, deutlich machen, dass diese Methoden, wieder das Nationale hervorzuheben, um zu erklären, dass man selbst der Schönste und Größte ist und auch der Wertvollere, weil man ein Stückchen eine andere Kultur hat, dass das genau der Ansatz ist, der uns früher in die Kriege geführt hat, und dass wir deswegen zu diesem Gedanken "nie wieder Krieg, nie wieder Diktatur" zusammenarbeiten, um in dieser Welt bestehen zu können. Und der letzte Punkt, den wir begreifen müssen, ist: In dieser globalen Ordnung ist jeder europäische Staat ein Kleinstaat, auch Deutschland. Also, von Washington und Peking aus betrachtet sind das alles Kleinstaaten. Da sollten wir uns nicht Honig um den Mund schmieren lassen. Wir gehen alle unter als Europäer, wenn wir nicht gemeinsam als Europäer auftreten. Nur gemeinsam können wir Trump in Handelsfragen widerstehen. Nur gemeinsam können wir eine Außenpolitik betreiben, die uns auf der Landkarte belässt. Und sonst zerfallen wir wie die alten griechischen Städte vor weit mehr als 2.000 Jahren und die Römer das übernommen haben. Wir sind in dieser Situation, die Situation, die es historisch oft gegeben hat, dass früher die Konstellationen, die die Welt beherrscht haben, in der jeweils kleinen, bekannten Welt, dass sie nicht mehr ausreichen, weil die Welt sich verändert. Und hier ist eine globale Ordnung. China macht mit der Seidenstraße eine Politik, die 65 Länder lang ist bis Europa. Das ist Machtanspruch. Und, wenn wir das nicht begreifen im wirtschaftlichen Bereich, wenn wir das nicht begreifen zum Schutz unserer Technologie, dann werden wir Opfer, werden wir Objekte und sind nicht mehr handelnde Subjekte, um die Interessen unserer Bürger zurückzugewinnen. Nur mit Europa können wir die Souveränität unserer Völker zurückgewinnen.
Kapern: Wie oft in diesen 39 Jahren im Straßburger Parlament haben Sie eigentlich gewünscht, Sie wären Bundestagsabgeordneter und nicht Europaabgeordneter?
Brok: Kein einziges Mal.
Kapern: Ich bedanke mich für das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.