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Buch eines Missbrauchsopfers
"Pater, ich vergebe Euch!"

Geschätzt rund 200 Mal wurde der Schweizer Daniel Pittet als Jugendlicher von einem katholischen Priester vergewaltigt. Aber er hat seine Erlebnisse nicht nur in einem Buch aufgearbeitet und dem Täter inzwischen vergeben - er hat hat ihn auch noch einmal besucht: Eine für beide Seiten überraschende Begegnung.

Von Jan-Christoph Kitzler | 20.09.2017
    Der Schweizer Daniel Pittet, der als Kind vier Jahre lang von einem Priester vergewaltigt wurde und darüber ein Buch geschrieben hat. Das Vorwort schrieb Papst Franziskus.
    Missbrauchsopfer Daniel Pittet hat über seine Erlebnisse ein Buch geschrieben, Papst Franziskus das Vorwort. (dpa / Lena Klimkeit)
    "Pater, ich vergebe Euch!" heißt dieses Buch. Es berichtet von einem, der durch die Hölle gegangen ist. Aber wenn man den Schweizer Daniel Pittet heute trifft, dann trifft man einen aufrechten Mann: Ende 50, zwei Meter groß, Glatze, voller Kraft und nicht zerbrochen. Das liegt daran, dass er dem Täter vergeben hat. Genauer gesagt: dem Kapuzinerpater Joël Allaz. Geschätzt rund 200 Mal hatte der Daniel Pittet vergewaltigt, Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre. Vier Jahre lang, da war Pittet zwischen neun und 13 Jahre alt. Und dennoch konnte er ihm vergeben, auch wegen seines Glaubens:
    "Zum Glück ist das sehr früh gekommen. Während eines Gottesdienstes: Ich habe den Pater gesehen, er hat so schön von der Mutter Gottes gesprochen. Und ich habe sofort gedacht: Der ist ein guter Priester. Ich war neun, zehn. Das ist ein guter Priester, aber er hat zwei Gesichter und das zweite ist sehr, sehr schlimm."
    Papst Franziskus hat zu dem Buch ein Vorwort geschrieben
    Für die katholische Kirche wäre Daniel Pittet ein Glücksfall, wenn das bei dem, was ihm angetan wurde, möglich wäre. Er macht seiner Kirche keinen Vorwurf, in deren Schoß der Täter, der mehr als 20 weitere Kinder vergewaltigt hat, lange gedeckt wurde. Noch bis zum Juni, bis vor zwei Monaten, war Allaz die kranke Bestie, Priester, Ordensmann. Erst im Juni hat ihn der Vatikan in den Laienstand versetzt. Pittet will über den Missbrauch sprechen, damit sich auch in der katholischen Kirche etwas ändert. Seine Geschichte hat den Papst angerührt - er hat zu dem Buch ein Vorwort geschrieben. Auch Hans Zollner, Jesuit, Psychologe, Priester und Experte für Missbrauch in Rom, findet es gut, dass Pittet seinen harten Fall in die Öffentlichkeit bringt:
    "Wir werden es niemals ganz ausrotten können, weder in der Kirche, noch in der Gesellschaft. Das Böse ist da, aber wir können sehr viel tun. Und da müssen wir auch in die kirchliche DNA hinein, in die Schulen, in die Kindergärten, in die Pfarreien, in die Diözesen, in die Ordensinstitutionen, sodass klar ist: Menschen, die verwundet worden sind durch uns, in unseren Institutionen, müssen Platz finden. Und wir müssen alles tun, damit Kinder und Jugendliche und andere, die verwundbar sind, so sicher wie irgend möglich leben können."
    Für die katholische Kirche sind die Missbrauchsfälle ein Problem – auch weil sie vielerorts jahrzehntelang unter der Decke gehalten wurden. Aber tatsächlich ist das Problem noch viel größer:
    "Wenn die Europäische Union sagt in einer Kampagne, one in five, eines unter fünf Kindern in Europa wird sexuell missbraucht. 20 Prozent aller Kinder werden sexuell missbraucht, sagt die Europäische Union. Dann reden wir von Dimensionen, von Zahlen, die wir nicht auf dem Bildschirm haben, im wörtlichen Sinn. Darüber redet niemand in den Medien."
    Den Peiniger noch einmal besucht
    Schonungslos beschreibt Daniel Pittet, was ihm angetan wurde. Und wie er das in Jahren der Therapie aufgearbeitet hat. Dazu gehört auch, dass er seinen Peiniger noch einmal besucht hat. Er war im Kapuzinerkloster, in dem der Täter bis heute unbehelligt lebt:
    "Ich habe gedacht: Wer ist der Mann? Ich kannte sein Gesicht nicht mehr, hatte alles vergessen, und plötzlich war da ein Mann, das war Joel Allaz, und ich habe ihn nicht gekannt. Das war ein Mann, ganz klein, er wog mal mehr als 120-140 Kilo, und jetzt ist das ein ganz Kleiner. Ich bin mit meinen fast zwei Metern gekommen, und er hat mich gesehen und hat Angst gehabt. Ich habe gesagt: Nein, nein, ich bin der Daniel, das ist nicht schlimm. Du musst keine Angst haben. Das ist ein so armer Mann. Ich bin auch ein Armer, aber nicht so arm wie er."
    Daniel Pittet sagt: Dadurch, dass er dem Täter vergeben konnte, ist er frei geworden. Aber es war ein langer Weg, mit Rückschlägen, Selbstmordgedanken.