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Bürgerjournalismus in der Türkei
Engagement für unabhängige Nachrichten

Nach dem Putschversuch in der Türkei wurden zahlreiche Journalisten verhaftet und Medienhäuser wegen angeblicher Nähe zur Gülen-Bewegung geschlossen. Eine Istanbuler Nachrichtenagentur setzt deswegen auf Bürgerjournalismus. Freiwillige Korrespondenten aus dem ganzen Land liefern Nachrichten, die in den Mainstream-Medien nicht mehr vorkommen.

Luisa Sammann | 23.08.2016
    Türkische Zeitung Cumhuriyet
    Die türkische Zeitung Cumhuriyet. Chefredakteur Can Dündar erklärte jüngst, er werde seinen Posten abgeben. (dpa/pitcture-alliance/Robert B. Fishman ecomedia)
    Gökhan Bicici wirft einen Blick auf seinen Computerbildschirm. 39 neue E-Mails in den letzten 15 Minuten. Der junge Istanbuler Chefredakteur nickt zufrieden. Die ehrenamtlichen Korrespondenten seiner Bürgernachrichtenagentur "Dokuzsekishaber" machen gute Arbeit heute.
    "Bürgernachrichtenagentur heißt, dass bei uns Laien Journalismus machen. Wir haben mehr als 200 freiwillige Korrespondenten überall im Land, die uns ständig Nachrichten schicken. Wir überprüfen sie hier und veröffentlichen sie dann gegebenenfalls unter unserem Namen."
    In dem kleinen Büro im asiatischen Teil Istanbuls herrscht Hochspannung. Ein Ereignis jagt in der Türkei in diesen Tagen das andere. Alle paar Minuten veröffentlichen Bicici und sein Team per Twitter ihre neuesten News. Oft solche, die in den türkischen Mainstreammedien nicht vorkommen – zum Beispiel der Aufruf zur so genannten "Freiheitswache" für die vergangene Woche verhaftete Autorin Asli Erdogan. Vor allem regierungskritische Türken, auch zahlreiche Journalisten und Aktivisten teilen und kommentieren die Themen der 2015 gegründeten Bürgernachrichtenagentur vielfach. Geld verdienen lässt sich mit seiner Arbeit dennoch kaum. Bicici zuckt mit den Schultern. Ihm geht es um mehr.
    Kein Vertrauen in die türkischen Medien
    "Die Leute engagieren sich für Menschenrechte oder Umweltschutz. Was immer in ihrer Gesellschaft fehlt, das fordern sie durch Aktivismus ein. Und wenn man nun mal wie wir über das professionelle Mediensystem keine unabhängigen Nachrichten mehr bekommt, dann fängt man an, Bürgerjournalismus zu betreiben."
    53.000 Follower hat Dokuzsekizhaber inzwischen bei Twitter. Jeden Tag werden es mehr. Gökhan Bicici ist längst nicht der einzige Türke, der den zunehmend gleichgeschaltet wirkenden Mainstreammedien in seinem Land nicht mehr traut.
    "Wir haben eine große Zahl an Zeitungen, Fernsehsendern usw. Aber das bedeutet nicht, dass es auch eine Vielfalt in der Berichterstattung gibt", so Kommunikationswissenschaftlerin Suncem Kocer, die auf der anderen Seite des Bosporus an der privaten Kadir-Has-Universität zur türkischen Medienlandschaft forscht.
    "Was unsere Mainstreammedien heute ausmacht, ist, dass sie nichts hinterfragen, nichts gegen die Regierungslinie sagen und oppositionellen Stimmen keinen Platz einräumen."
    Programm ist, was Erdogan sagt
    Tatsächlich reicht ein Blick ins Fernsehprogramm, um zu sehen, dass Kritik an der AKP-Politik in den großen türkischen Medien praktisch nicht mehr vorkommt. Oppositionelle oder auch nur nachdenkliche Sichtweisen auf den Umgang mit angeblichen Gülen-Sympathisanten in den vergangenen Wochen zum Beispiel gibt es kaum. Programm ist, was Erdogan sagt.
    Das war nicht immer so. Noch im vergangenen Jahr galt zum Beispiel die Dogan-Mediengruppe mit ihrem Flaggschiff der Hürriyet-Zeitung als Erdogan-kritisch. Auch während der Gezi-Proteste im Sommer 2013 wurden die Demonstranten hier offen unterstützt. Doch ständig wachsender politischer Druck, Angriffe durch aufgehetzte AKP-Anhänger, Klagen gegen einzelne Journalisten – und nicht zuletzt eine Steuerstrafe von einer halben Milliarde Euro gegen die Dogan-Gruppe erzielten Wirkung: Hürriyet und Co sind heute frei von jeder Kritik.
    "Die großen Medienbosse in der Türkei sind fast immer gleichzeitig auch die größten Wirtschaftsunternehmer der Türkei", erklärt TV-Redakteur Eyüp Burc die Einstimmigkeit der türkischen Massenmedien. Wer heute Kritik im hauseigenen Medium zulasse, sei schon morgen von staatlichen Großaufträgen ausgeschlossen, wenn zum Beispiel der nächste Flughafenbau oder das erste Atomkraftwerk anstehe.
    "Ein anderes Problem ist, dass jeder Kritiker sofort wegen Terrorpropaganda angeklagt wird. Etwas wie "eine andere Meinung haben" gibt es nicht mehr. Wer nicht die Regierungslinie vertritt, betreibt automatisch Terrorpropaganda."
    Kaum noch Jobs für kritische Journalisten
    Solche Risiken aber will kein türkischer Unternehmer eingehen. Die größte Bedrohung für kritischen Journalismus, so glauben Insider, ist deswegen nicht unbedingt die direkte Zensur aus Ankara, sondern die Selbstzensur durch Medienbosse und hörige Chefredakteure: Kritische Journalisten finden heute kaum noch Jobs am Bosporus. Gestern noch als "Silberfedern" gefeierte Kommentatoren sind vielfach arbeitslos. Andere schreiben in kleinen Internetportalen oder im Selbstverlag gedruckten Minizeitungen, um überhaupt noch zu Wort zu kommen. Auch mehrere Low-Budget-Sender, deren technische Ausstattung an Studentenfernsehen erinnert, wurden zum Auffangbecken für geschasste Starjournalisten.
    "Nur bei uns finden Sie noch Stimmen und Themen, die Sie sonst nirgendwo mehr hören", so Faruk Eren vom prokurdischen Nischensender IMC-TV. 25 Jahre lang arbeitete der Nachrichten-Chef zuvor für Mainstreammedien, von Hürriyet bis Milliyet. Nicht nur direkte Erdogan-Kritik, schimpft er, sei dort tabu.
    "Auch die Umweltprobleme in Anatolien, das Thema Frauengewalt, die Probleme von Homosexuellen, Aleviten oder Kurden. All das kommt bei anderen Sendern einfach nicht mehr vor."
    Drohungen in den sozialen Medien
    Die wenigen Redaktionen, in denen das heute noch anders ist, müssen ihr Engagement entsprechend teuer bezahlen. Das Ausbleiben von lukrativen Werbeverträgen sorgt für ständige Budgetknappheit, dem prokurdischen Sender IMC-TV wurde zuletzt gar kurzerhand die Satellitenfrequenz entzogen. Mindestens die Hälfte seiner Zuschauer kann ihn seitdem nicht mehr empfangen. Kritische Journalisten werden in den Mainstreammedien außerdem als "Stimme des Terrors" beschimpft, auf Twitter und Facebook offen bedroht…
    "Ja, als Journalisten haben wir manchmal Angst in diesem Land", gesteht der kritische TV-Redakteur Eyüp Burc.
    "Aber wir machen unser Programm für eine demokratischere Türkei. Und unser Kampf dafür wird weitergehen."
    Doch längst nicht jeder hat so viel Mut. Der wegen Terrorpropaganda, Erdogan-Beleidigung und Geheimnisverrats angezeigte Starjournalist Can Dündar erklärte jüngst, seinen Posten als Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet abgeben und vorerst nicht in die Türkei zurückkehren zu wollen. Wieder eine kritische Stimme weniger am Bosporus.