Donnerstag, 02. Mai 2024

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Bund-Länder-Gespräche zu Corona-Ausbrüchen
"Generelle Ausreisesperren für Landkreise sind nicht akzeptabel"

Bei Corona-Ausbrüchen Ausreisesperren für ganze Landkreise zu verhängen sei nicht verhältnismäßig, sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) im Dlf. Die Menschen sollten mit Debatten über solche Regelungen nicht verunsichert werden. Vielmehr solle man dem bisherigen Krisenmanagement vertrauen.

Michael Kretschmer im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 16.07.2020
Michael Kretschmer, Ministerpräident von Sachsen, gibt ein Interview
Michael Kretschmer wirbt für Vertrauen in die Arbeit der Gesundheitsämter und konsequentes lokales Handeln (imago/photothek/Florian Gärtner)
Was tun, wenn in einem Kreis oder einer Region wieder ein Corona-Hotspot entsteht? Die Bundesregierung will, dass bei regionalen Corona-Ausbrüchen zielgenauer reagiert wird. Daher plädiert Bundeskanzlerin Angela Merkel Ausreisebeschränkungen für Regionen mit massiven Corona-Ausbrüchen. In einigen Bundesländern stößt das nicht auf Gegenliebe, sie verweisen unter anderem auf die schwierige Umsetzung solcher Maßnahmen und auch auf rechtliche Bedenken. Heute wollen Bund und Länder erneut versuchen, in der strittigen Frage einen Kompromiss zu finden.
Ein Bundeswehroffizier mit Mund-Nasenschutz steht schräg hinter einem großen roten "Einfahrt verboten"-Schild.
Thorsten Frei (CDU): Akzeptanz ist maßgebliche Voraussetzung
Regionale Reisebeschränkungen seien eine gute Möglichkeit, um auf steigende Corona-Neuinfektionen zu reagieren, sagte Thorsten Frei, stellvertretender Vorsitzender der Unions-Bundestagsfraktion. Es brauche aber eine bundesweite Regelungen.
Der Ministerpräsident von Sachsen, Michael Kretschmer, machte im Interview mit dem Dlf deutlich, dass er generelle Ausreisebeschränkungen für ganze Landkreise nicht zustimmen wird. Die Menschen dürften durch Diskussionen über solche Regelungen nicht wieder verunsichert werden. Vielmehr müsse es darum gehen, Corona-Ausbrüche zu lokalisieren und dann vor Ort zielgerichtet zu handeln. In den kommenden Wochen müsse zudem der Fokus auf Urlaubern liegen, die aus Corona-Krisenregionen zurückkehrten.
Jörg Münchenberg: Herr Kretschmer, wie sehen Sie Ausreisesperren? Ein gutes, ein sinnvolles Instrument, oder eher schwierig umzusetzen?
Michael Kretschmer: Ja, der Staat muss verhältnismäßig handeln, und eine generelle Ausreisesperre für einen ganzen Landkreis ist es wahrscheinlich nicht. Deswegen stimmt auch der Vorbeitrag nicht. Die sächsische Staatsregierung ist überhaupt nicht der Meinung, dass man für ganze Landkreise per se Ausreisesperren verhängen kann. Und ich finde auch: Das Beispiel Gütersloh zeigt uns etwas anderes, dass nämlich durch verantwortungsvolles und zügiges Handeln der Gesundheitsämter vor Ort die Sache eingegrenzt bleiben kann und dann die Maßnahmen, die man ergreift, wirklich punktuell und zielgenau wirken müssen.
Auf der so genannten Bierstraße auf Mallorca ist viel los, Sicherheitsabstände werden offenkundig nicht durchgängig eingehalten, Masken als Mund-Nase-Schutz werden kaum getragen
Weltärztepräsident: Nicht davor zurückschrecken, Quarantäne anzuordnen
Die Sorglosigkeit vieler Mallorca-Urlauber sei ein "ganz großer Fehler", sagte der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, im Dlf.
Vieles, was diskutiert wird in Berlin, ist aus meiner Sicht viel zu holzschnittartig, sorgt dann auch für Verärgerung und Verwirrung in der Bevölkerung. Wir sollten mehr auf die Menschen hören, die wirklich diejenigen sind, die die Arbeit vor Ort machen, die Experten, und dann kommen wir auch zu vernünftigen Lösungen. Die Menschen können sicher sein: Wir werden keine generellen Ausreisesperren für Landkreise bekommen. Das ist aus meiner Sicht überhaupt nicht akzeptabel.
Fokus auf Urlaubsheimkehrer
Münchenberg: Herr Kretschmer, Sie haben Gütersloh gerade angesprochen, haben gesagt, das war ein gutes Krisenmanagement. Auf der anderen Seite durften die Menschen ja weiter verreisen und das führte ja dann dazu, dass zum Beispiel Hoteliers Menschen aus Gütersloh abgewiesen haben. Insofern hat das ja auch nur mäßig funktioniert.
Kretschmer: Ja, es ist eine Hysterie entstanden in Gütersloh, die so auch nicht akzeptabel ist. Und das ist ja genau das, was ich vermute, was passieren würde, neben dem Grundrechtseingriff, der per se vor Gericht nicht halten würde, wenn wir jetzt Menschen stigmatisieren aus einem Landkreis. In Sachsen sind die Landkreise bis zu 300.000 Einwohner groß. Wenn es einen Ausbruch gibt an einer Stelle, hat das überhaupt nichts mit dem gesamten Landkreis zu tun. Wir haben in Gütersloh gesehen, es war diese Fleischfabrik, und dort gab es die Fälle. Dort ist dann auch gehandelt worden. Die Tests in der Region, in der Stadt Gütersloh haben ja ganz deutlich gezeigt, dass es auf diesen Betrieb begrenzt war. Und das ist doch die Erfahrung, die wir haben, dass, wenn es an einer Stelle einen Ausbruch gibt, man ihn lokalisieren muss und dann ganz zielgerichtet handeln muss.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Übrigens die Erfahrung der letzten Tage zeigt: Bei den geringen Fällen, die wir jetzt noch in Deutschland haben, sind sie zumindest in meinem Bundesland in aller Regel von Menschen, die aus Krisenregionen zurückkommen. Der Fokus muss in den nächsten Wochen auf jeden Fall darauf liegen, dass die Menschen, die aus dem Urlaub zurückkommen und aus einer Krisenregion kommen, sich an die Quarantäneregeln halten und dass wir dort testen. Das haben wir auch als Staatsregierung jetzt beschlossen, dass wir da Sicherheit schaffen.
Menschen nicht wieder verunsichern
Münchenberg: Herr Kretschmer, Sie haben gesagt, Sie sehen nicht, dass man einen ganzen Landkreis abriegeln kann. Wenn es aber zum Beispiel um die Abriegelung eines Dorfes geht oder eines Viertels, das könnten Sie sich durchaus vorstellen?
Kretschmer: Ja. Aber dieses Wenn und Ob ist doch schon etwas, was wieder ganz viel Verwirrung und auch Missstimmung in Deutschland bringen wird. Wenn wir tatsächlich in einem Dorf - wir hatten das jetzt im März beispielsweise in Sachsen-Anhalt - einen unkontrollierten Ausbruch haben, dann wird man dort sicherlich auch zu solch einer Maßnahme greifen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering und diese Sandkastenspiele bringen aus meiner Sicht überhaupt nichts. Wir haben sehr verantwortungsvoll arbeitende Gesundheitsämter. Wir haben in den vergangenen Monaten gesehen, wie professionell dort gearbeitet wird. Wir wissen jetzt auch mehr über diese Krankheit.
Deswegen denke ich: Bevor wir jetzt Menschen wieder verunsichern, muss es darum gehen, dass wir miteinander durch diese Zeit durchkommen. 1,50 Meter Abstand, Mund- und Nasenschutz - damit ist ein gesellschaftliches Leben möglich. Damit ist ein wirtschaftliches Leben möglich. Darauf muss jetzt der Fokus liegen, nicht weitere Verängstigung, sondern Ermutigung, Hoffnung, auch wirklich, dass die Menschen auf die Straße gehen, dass sie die Angebote der Kultur, der Gastronomie nutzen, um den wirtschaftlichen Schaden, der uns entstanden ist, möglichst gering zu halten.
"Es geht um die Eigenverantwortung jedes Einzelnen"
Münchenberg: Im Kanzleramt, Herr Kretschmer, sieht man das bekanntlich anders. Von dort stammt ja dieser Vorschlag von Ausreisesperren. Es wird ja heute wieder darüber geredet auf Bund-Länder-Ebene. Sie haben Ihre Kritik gerade deutlich formuliert. Ist da ein Kompromiss dann überhaupt vorstellbar?
Kretschmer: Ich glaube, dass die Interpretation dessen, was jetzt als Papier vorliegt, in der Presse etwas anders ist als der Text, den ich gelesen habe. Dort ist es wesentlich differenzierter formuliert. Da geht es in der Tat darum, wenn in Regionen im kleinen lokalen Kontext etwas passiert, dass dort zu solchen Maßnahmen gegriffen werden kann. Aber Sie können sich sicher sein: Einer grundsätzlichen Regelung für ganze Landkreise werden die Bundesländer nicht zustimmen.
Münchenberg: Das heißt, es wird weiter auch einen bundesweiten Flickenteppich geben? Jeder handelt dann vor Ort, wie er es für richtig hält?
Kretschmer: Und das ist genau das, was wir auch brauchen. Wir müssen den Kolleginnen und Kollegen bei den Gesundheitsämtern die Möglichkeiten geben zu handeln. Das ist der Erfolg, warum Deutschland auch so gut dasteht, der Grund, warum wir so gut dastehen, weil wir nicht einfach nur einer App vertrauen oder die Augen zumachen, sondern wir haben Menschen vor Ort, die handeln, und das haben sie in den vergangenen Wochen sehr konsequent getan und immer mit Maß und Mitte.
Es muss darum gehen, noch einmal, den Kollegen die Möglichkeiten zu geben, die sich auskennen, die unmittelbar die Verantwortung tragen. Das ist sehr stark auf der kommunalen Ebene, gemeinsam mit den Ländern. Und dann geht es um die Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Wir müssen in der Tat jetzt ein Bewusstsein dafür schaffen, dass wir gut durch diese Zeit gekommen sind. Aber die Gefahr besteht, wenn wir die Bilder aus Mallorca sehen, dass wir in Größenordnungen diese Krankheit wieder neu einschleppen, und das darf auf keinen Fall passieren.
"Müssen möglichst viel gesellschaftliches Leben ermöglichen"
Münchenberg: Da wollte ich gerade anknüpfen. Die Corona-Zahlen sind für Deutschland ja inzwischen relativ gering. Aber es gibt überall neue Hotspots. Luxemburg jetzt etwa, Sie haben den Ballermann erwähnt. Wird die Gefährlichkeit von Corona inzwischen vielleicht doch wieder von vielen Menschen verdrängt, oder nicht mehr so richtig ernst genommen?
Kretschmer: Mit Sicherheit gibt es einen Teil der Bevölkerung, der diese Gefahr nicht sieht, und wir müssen auf der einen Seite dieses Bewusstsein schaffen, auch klare Regeln. Wer aus einer Krisenregion zurückkommt, hat in Quarantäne zu gehen, hat einen Corona-Test zu absolvieren, um die Gesellschaft zu schützen. Auf der anderen Seite: Diese Eigenverantwortung, die wir jetzt auch erlebt haben – und Sie merken ja in der Bevölkerung, wie auch trotz der Einschränkung von Mund- und Nasenschutz, das ist ja nichts Angenehmes, es in weiten Teilen der Bevölkerung getragen wird -, das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass der überwiegende Teil der Deutschen schon sieht: Hier ist eine Gefahr. Die aber aus meiner Sicht kalkulierbar ist, wenn man vernünftig miteinander umgeht, und das muss jetzt für die nächsten Wochen auch das Ziel sein. Damit wir möglichst viel gesellschaftliches, wirtschaftliches Leben ermöglichen und damit auch die Kosten begrenzt halten.
"Wir brauchen jetzt Zuversicht"
Münchenberg: Ihr Amtskollege Markus Söder, der Ministerpräsident von Bayern, hat sich ja für Ausreisesperren ausgesprochen. Er lobt ohnehin ja sein Krisenmanagement ein bisschen über den Klee und sagt, der harte Kurs, der sei richtig gewesen, und daran müsse man eigentlich auch festhalten.
Kretschmer: Ja, ich sehe auch keinen Widerspruch. Man muss konsequent vorgehen, wenn in einem Ort eine Erkrankung auftritt, und muss ganz klar lokalisieren, wo kommt das her. Ist das ein Unternehmen, in dem die Krankheit ausgebrochen ist? Wer hatte welchen Kontakt miteinander? Und wenn die Zahlen weiter steigen, muss man auch die Maßnahmen nachsteuern. Aber bis jetzt ist uns das wirklich sehr gut gelungen und deswegen: Ich rate davon ab, immer wieder neue Kriterien zu erfinden, wann welche Maßnahmen zurückgenommen werden, oder jetzt immer weiter die Bevölkerung zu verunsichern. Wir brauchen jetzt Zuversicht. Wir merken in vielen Bereichen die Zurückhaltung. Das hat sicherlich auch etwas mit den wirtschaftlichen Problemen zu tun. Die Kurzarbeit ist sehr, sehr hoch und das muss man alles mit einbeziehen.
Aber es gibt auch insgesamt eine Zurückhaltung in der Bevölkerung und die sorgt dafür, dass die Kosten dieser Krisenbewältigung höher sind möglicherweise, als sie sein müssen. Wir bereiten wissenschaftliche Studien vor. Deswegen wird auch der Unterricht in Sachsen nach den Ferien wieder im Normalbetrieb beginnen. Wir arbeiten daran, dass Kultureinrichtungen, dass Tagungen möglicherweise auch mit einem geringeren Mindestabstand stattfinden können. Das werden wir jetzt in den nächsten Wochen wissen, ob das möglich ist. Das sind die Aufgaben, die wir jetzt haben.
Union hat mehrere Persönlichkeiten, die für den Kanzler taugen
Münchenberg: Herr Kretschmer, lassen Sie mich noch ganz kurz bei Herrn Söder bleiben. Die harte Politik in Bayern, die kommt ja auch bei den Bürgern offenbar ganz gut an. Markus Söder hat enorme Beliebtheitswerte bei den Bürgern. Er wird von vielen inzwischen auch als kanzlertauglich bewertet. Von Ihnen auch?
Kretschmer: Markus Söder hat das sehr, sehr gut gemacht und er ist ja auch unglaublich gefordert gewesen. Die Zahl der Erkrankungen einfach durch die regionale Nähe zu Österreich, zu Südtirol war sehr, sehr hoch. Er hat uns auch am Anfang - das sage ich auch immer wieder - auf diese Schwierigkeiten hingewiesen. Wir sind hier in den neuen Ländern davon zu einem größeren Teil verschont geblieben, einfach auch wegen dieser regionalen Nähe und wegen dem Ferienende, was in Sachsen etwas früher war. Das waren wichtige Hinweise und das Krisenmanagement in Bayern war außerordentlich erfolgreich, professionell. Es war es aber auch in allen anderen Bundesländern und deswegen ist ja auch mein Rat, jetzt ganz klar auf die Menschen sich zu stützen, die diese Arbeit gemacht haben, und das wird auch passieren. Wir werden heute zu einem vernünftigen Ergebnis kommen, was Maß und Mitte hält und was einem Rechtsstaat und einer Demokratie auch entspricht.
Münchenberg: Noch mal die Nachfrage: Sie würden keine Verbindung herstellen zwischen dem bayerischen Krisenmanagement und der Kanzlertauglichkeit von Markus Söder?
Kretschmer: Beides ist richtig! Auf der einen Seite die Kanzlertauglichkeit, das erfolgreiche Krisenmanagement. Man braucht darum gar nicht herumreden: Die Union ist in der glücklichen Situation, dass sie mehrere Persönlichkeiten hat, die für den Kanzler taugen, und das ist doch eine sehr erfreuliche Entwicklung. Wir werden Ende des Jahres einen Parteivorsitzenden der CDU wählen. Wir werden danach über die Kanzlerschaft diskutieren. Das ist, glaube ich, auch klar und das weiß auch jeder, dass die CDU als größerer Teil dieser Schwesterfamilie den Anspruch hat, den Kanzler zu stellen, und das werden wir gemeinsam besprechen, so wie wir das in den letzten über 40 Jahren immer wieder geschafft haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.