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Bundeskongress
Musikunterricht zwischen Vision und Schulalltag

Über 1.500 Lehrer, Studierende und Wissenschaftler kamen an vier Tagen zum Bundeskongress Musikunterricht in Hannover zusammen. Neben dem Dauerthema Musiklehrermangel wurden auch bildungspolitischen Streitthemen wie Integration, Inklusion und Digitalisierung debattiert.

Von Thilo Braun | 01.10.2018
    Alexander Saier (r) von der Kreismusikschule im Landkreis Märkisch-Oderland gibt am 16.01.2018 den Schülern (l-r) Luca Lämmerhardt (11), Lilly Lippert (11), Jakob Roggenbuck (12) und Nele Zabel (16) in einem Raum des Theodor-Fontane-Gymnasiums in Strausberg (Brandenburg) Dirigentenunterricht.
    Musikunterricht (picture-alliance / dpa / Patrick Pleul)
    Es wimmelt von Klängen in der Niedersachsenhalle. Besucher schlendern zwischen Infoständen umher, es werden Instrumente getestet, Noten und Fachliteratur studiert. Die Ausstellung ist ein Teil des Bundeskongresses Musikunterricht, dem deutschlandweit größten Treffen für Musiklehrer. Manche Teilnehmer sind sogar aus dem Ausland angereist.
    "Ich bin Referent, komme aus Salzburg, Österreich, und finde es einfach enorm wichtig, dass dieser Austausch auch da ist. Was gibt’s an neuen Methoden, Materialien, didaktischen Konzeptionen. Und ich hab auch ganz viele freundschaftliche Beziehungen zu dieser Community und daher muss man zum BMU."
    Omnipräsent: Integration, Inklusion und Digitalisierung
    Das Angebot reicht von praktischen Workshops wie Ensemblecoaching über didaktische Infoseminare bis zu Präsentationen außergewöhnlicher Projektarbeiten. Omnipräsent sind die aktuellen schulpolitischen Themen Integration, Inklusion und Digitalisierung.
    In einem Klassenzimmer der Sophienschulen in Hannover hat der Arbeitskreis Digitalisierung getagt. Nach eineinhalb Stunden Sitzung wird der Diskurs intensiv in Einzelgesprächen fortgeführt – und später via Google Docs im Internet. Der Arbeitskreis ist ein Zusammenschluss aus Musiklehrern aller Bundesländer und Schularten sowie Spezialisten aus Universitäten und der Musikszene.
    Leiter des Arbeitskreises ist Philipp Ahner, Professor für Musikpädagogik im Kontext Digitaler Medien an der Musikhochschule in Trossingen. Den Stand der Digitalisierung an deutschen Schulen erlebt er als extrem unterschiedlich:
    "Es gibt Schulgebäude, die eine gute Infrastruktur bieten: Active-Boards, WLan, mobile Endgeräte für Schüler, die gut gewartet werden mit guten Apps drauf bis dahin gehend, dass der Lichtschalter und die Deckenbeleuchtung die einzige elektrische Einrichtung sind."
    Es geht im Arbeitskreis also einerseits darum, eine Grundausstattung wie flächendeckendes WLan oder moderne Abspielgeräte in Klassenzimmern zu fordern. Gleichzeitig sollen auch Lehrkräfte stärker unterstützt werden durch Fortbildungen und Hilfeleistungen im Schulalltag. Denn hier fühlen sich bislang viele allein gelassen. Immer wieder fällt im Arbeitskreis der Satz "Wir sind keine Experten!", eine Frau fordert gesondertes Fachpersonal für digitale Medien in den Schulen.
    Viele Ideen wurden beim Bundeskongress für Musikunterricht vorgestellt
    Ideen gibt es viele, sowohl auf inhaltlicher als auch auf technischer Seite: Komponieren auf Midi-Keyboards, Multimedia-Projekte im Internet, Experimente in Audioschnittprogrammen. Konkrete Lösungen der Probleme dagegen müssen vorerst ausbleiben. Das Treffen dient eher dem Austausch unter Kollegen und dem Suchen nach vereinten Positionen.
    Zwischen Vision und Schulalltag klafft oft eine riesige Lücke. Und das nicht nur beim Thema Digitalisierung. Der Musik-Sonderpädagoge Björn Tischler beobachtet ähnliche Probleme auch, wenn es um Inklusion geht:
    "Von der Idee her kann keiner gegen Inklusion sein, das ist ein humanistisches Ziel. Aber wenn man dann näher hinguckt oder vor Ort nachfragt ist es eigentlich überall eine Herausforderung. Ich kenne nur sehr wenige Fälle, die positiv bewertet werden, in der Grundschule meistens, aber ich kenne auch sehr viele Fälle, die völlig daneben sind. Wo nur Überforderung ist und es nur nach außen hin noch stimmt."
    Auch der Arbeitskreis Inklusion unter der Leitung von Björn Tischler dient zuallererst dazu, die Vision mit dem Alltag abzugleichen. Es geht viel um Differenzierung: Ein hörgeschädigtes Kind brauche andere Hilfestellungen als eines mit geistiger Behinderung, wieder anders müsse bei Kindern mit emotional-sozialen Störungen vorgegangen werden. Björn Tischler glaubt, dass Inklusion im Musikunterricht sogar oft besser funktioniere als in anderen Fächern. Die Zugänge zu Musik könnten je nach Kompetenzen variiert werden: Vom Musik-Erleben beim Hören über das Instrumentalspiel bis zur Reflexion in der Analyse.
    Und doch bleiben die Herausforderungen kräftezehrend. Um gute Konzepte zu entwickeln, nehme der Erfahrungsaustausch der Lehrer untereinander eine entscheidende Rolle ein. Auf dem Kongress einerseits, aber auch im Schulalltag, glaubt Björn Tischler:
    "Ich denk an meine erste Zeit, ich wollte den Beruf schon aufgeben. Allein schon mit Kollegen zu reden, das hat so geholfen, allein wenn mir schon ein Ausbilder gesagt hat: ‚Herr Tischler, wenn Sie mit zwei Stunden in der Woche zufrieden sind, dann sind Sie ein guter Lehrer‘. Das tut einfach gut! Aber für Sonderpädagogen ist das selbstverständlicher, weil da keiner dem anderen vormachen kann: ‚Ich hab keine Probleme‘. Wir haben alle Probleme, wir haben alle Schwierigkeiten und wir wissen auch, was für eine Schülerschaft wir haben. Da ist es viel selbstverständlicher und durch die Inklusion gerät dieses Denken auch in die Regelschule hinein. Und das kann auch eine Chance sein."
    Dauerthema Lehrermangel im Fach Musik
    Ein Dauerthema auf dem Kongress ist der Lehrermangel im Fach Musik. Oft sind Musiklehrer an ihren Schulen Einzelkämpfer, sofern es überhaupt Fachkräfte gibt. Vor allem an der Grundschule wird Musik immer häufiger von Lehrern ohne Musikausbildung unterrichtet. Gabriele Schellberg, Professorin für Musikpädagogik an der Universität Passau, bietet daher einen Workshop speziell für fachfremde Lehrer an:
    "In der Grundschule haben wir leider das Problem, dass wir etwa 75 Prozent der LehrerInnen haben, die fachfremd unterrichten. Viele machen das sehr gut, aber es gibt einen Großteil, die sich unmusikalisch fühlen. Und für diese LehrerInnen möchte ich gerne diesen Workshop anbieten, damit sie sehen: Es ist gar nicht so schwer. Dass es ganz einfach ist, ein Lied mit nur zwei Tönen zu begleiten. Und vor allen Dingen, dass sie dann den Schülern ermöglichen können, auch Freude an der Musik zu haben."
    Die knapp 20 Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer wirken zu Beginn noch etwas skeptisch, als Gabriele Schellberg sie auf einen "Ausflug nach Tirol" entführt. Er entpuppt sich als eine Einsingübung, getarnt als Klangreise:
    Gabriele Schellberg will zeigen: Auch ohne Fachwissen ist ein gelebtes Musizieren mit Kindern im Grundschulunterricht möglich. Das ersetzt natürlich noch keine Fachkraft, ist aber besser als nichts. Wie gut Singen für Körper und Seele ist, zeigt sich im Seminar auch an der immer gelöster werdenden Stimmung der Teilnehmer.
    Das Programm beim Bundeskongress ist extrem vielseitig. Das ist schön, zeigt es doch, wie unterschiedlich das Fach Musik angewandt werden kann – und dass es auch bei der Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen wie Integration, Inklusion oder Komplexitätstoleranz wichtige Impulse setzen kann.
    Man verlässt den Kongress mit gemischten Gefühlen. Viele Probleme wurden zwar intensiv debattiert: Lösungen stehen aber meist noch aus.
    Und doch tragen die Teilnehmer nach diesen vier Tagen jede Menge neuer Impulse und Ideen nach Hause. Vielerorts ist ein neues Wir-Gefühl entstanden. Wenn diese Power des kollegialen Miteinanders im Alltag überlebt, wäre schon viel gewonnen.