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Bundestagsreform
"Wichtig ist, dass der Wählerwille abgebildet ist“

630 Abgeordnete sitzen zurzeit im Bundestag, 700 könnten es in einem Jahr werden. Die Große Koalition sucht deswegen Lösungen, um die Anzahl der Mandate zu begrenzen. Dazu müssten alle Möglichkeiten ausgelotet werden, sagte Christine Lambrecht, erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, im DLF. Allerdings dürfe man nicht willkürlich Sitze kappen.

Christine Lambrecht im Gespräch mit Christoph Heinemann | 02.12.2016
    Die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, Christine Lambrecht
    Die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, Christine Lambrecht (picture alliance/ dpa/ Patrick Seeger)
    Bundestagspräsident Norbert Lammert will die Zahl der Abgeordneten mit einer sogenannten Kappungsgrenze reduzieren. Doch aus den Parteien gibt es Widerstand. Als möglichen Kompromiss diskutieren SPD und Union zurzeit über ein Verfahren zur Errechnung der Länderkontingente.
    Dieser Vorschlag müsse jetzt durchgerechnet werden, sagte Christine Lambrecht im Deutschlandfunk. Man sei jedoch bemüht, alle Möglichkeiten auszuloten. Zunächst müssten verlässliche Daten über die mögliche Größe des nächsten Bundestages eingeholt werden. Hier lasse man sich vom Bundesinnenministerium beraten.
    Das BMI gehe auf der Grundlage der aktuellen Umfragewerte von einem Bundestag mit 667 Abgeordneten in der nächsten Legislaturperiode aus. "Das wäre eine Zahl, die deutlich unter den angesprochenen 700 liegen würde."
    Parlament muss arbeiten können
    Eine Schmerzgrenze bei der Zahl der Abgeordneten gibt es für Lambrecht allerdings nicht. Wichtig sei, dass der Wille der Wähler berücksichtigt werde. Bei einer Zahl von 700 wäre das Parlament allerdings schon "sehr eingeschränkt handlungsfähig", gab die SPD-Politikerin zu. "Uns allen muss daran gelegen sein, dass das Parlament arbeiten kann." Bei einer Zahl um die 680 Abgeordnete könnte es bedenklich werden.
    Dass es in dieser Legislaturperiode och zu einer Einigung über eine Reform komme, bezweifelt Lambrecht. Man suche nach einer Lösung, die nicht allein zu Gunsten einer Fraktion gehe. Die Opposition habe man bei den Gesprächen bisher noch nicht eingebunden. Es gebe auch keine Verpflichtung, Wahlrechtsreformen im Konsens mit den Oppositionsfraktionen zu verabschieden.
    Den Vorwurf, man habe zu spät auf das bekannte Problem reagiert, wies Lambrecht zurück. Es habe sich erst in den vergangenen Monaten abgezeichnet, dass es mit der AfD oder der FDP wahrscheinlich ein bis zwei Parteien mehr im Parlament geben werde.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: 630 Abgeordnete sitzen zurzeit im Deutschen Bundestag. 700 Volksvertreter könnten es in einem Jahr sein. Zu viel, meint nicht zuletzt und unter vielen anderen die Kanzlerin. Deshalb steckt die Große Koalition zurzeit (zum Beispiel gestern) die Köpfe zusammen, um eine Lösung zu finden: Die Anzahl der Mandate soll begrenzt werden.
    Am Telefon ist Christine Lambrecht, die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion und in ihrer Partei mit der Sache betraut. Guten Morgen.
    Christine Lambrecht: Guten Morgen, Herr Heinemann.
    "Wir sind natürlich darum bemüht, alle Möglichkeiten auszuloten"
    Heinemann: Können Sie Frank Capellans Informationen bestätigen? Wird es ein Kompromiss auf der Ebene Länderkontingente/Bevölkerungszahl geben?
    Lambrecht: Wir hatten gestern das erste Treffen in dieser Konstellation und wir sind natürlich darum bemüht, alle Möglichkeiten, die jetzt zu diesem Zeitpunkt noch möglich sind, auszuloten. Der Vorschlag, den Herr Capellan vorgestellt hat, der ist an uns herangetragen worden und wir haben uns darauf verständigt, dass dieser Vorschlag jetzt gerechnet wird. Meiner Kenntnis nach hätte dieses Berechnungsmodell zur Folge gehabt, dass der aktuelle Bundestag nicht 630, sondern dann 614, also schon mal 16 Mandate weniger, 16 Abgeordnete weniger zur Folge gehabt hätte. Eine Möglichkeit, aber wie gesagt: Darüber wird jetzt gerechnet. Ob das eine Möglichkeit ist, werden wir sehen. Wir werden ebenfalls in der nächsten Sitzung auch das Innenministerium mit dabei haben, denn es geht ja auch mal um verlässliche Daten, über was reden wir denn überhaupt beim nächsten Bundestag, was ist denn da jetzt wahrscheinlich. Bisher ist alles, ich sage es mal so, mehr oder weniger Kaffeesatzleserei. Das BMI geht von einem Bundestag aus in einer Größe von 667 aufgrund der aktuellen Umfragewerte. Das wäre natürlich eine Zahl, die deutlich unter den angesprochenen 700 liegen würde. Deswegen stellt sich die Frage, welche Zahl ist denn verlässlich belastbar. Das wird ebenfalls Gegenstand sein in der nächsten Sitzungswoche.
    Heinemann: Bei welcher Zahl liegt denn für Sie die Schmerzgrenze?
    Lambrecht: Ich glaube, das kann man nicht so an einer absoluten Zahl festmachen. Wichtig ist doch, dass in diesem Parlament - und das muss uns alle als erste Forderung begleiten - der Wählerwille abgebildet ist, dass ich also nicht sage, ich kappe willkürlich irgendwo. Das ist ja auch das, was das Bundesverfassungsgericht uns ins Stammbuch geschrieben hat. Die Zweitstimme muss ebenfalls berücksichtigt werden. Der Wählerwille muss abgebildet werden. Deswegen will ich da jetzt gar nicht sagen, 670, 680. Aber ich denke mir, 700 ist natürlich schon eine Zahl. Wenn wir die erreichen würden, dann wäre das Parlament schon nur noch sehr eingeschränkt handlungsfähig, und uns allen muss ja daran gelegen sein, dass das Parlament arbeiten kann, dass wir unsere Aufgabe, die uns der Bürger übertragen hat, auch wahrnehmen können. Deswegen 680 würde ich jetzt mal so sagen, um den Dreh herum ist schon so eine Zahl, wo es schon bedenklich wird.
    Heinemann: Bei aller Vorsicht: Sie haben gesagt, wir müssen noch rechnen. Wäre eine solche Lösung, Länderkontingente/Bevölkerungszahl, wäre das verfassungskonform?
    Lambrecht: Das wäre verfassungskonform. Da haben wir die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Wir müssen ja jetzt auch aufpassen auf diesem Weg, wenn wir etwas noch für den nächsten Bundestag entscheiden - es ist ja auch noch die Frage, ob es für den nächsten oder gegebenenfalls auch erst für den übernächsten Bundestag wäre -, wo denn die Grenzen liegen, wo Verfassung geändert werden müsste. Es ist auch vom Zeitablauf alles jetzt sehr gedrängt. Es wäre quasi in den ersten acht Wochen oder, sagen wir, zwölf Wochen des neuen Jahres dann alles zu verabschieden. Da sind schon viele Fragezeichen noch, wo die Fragen beantwortet werden müssen. Ich bin da noch nicht so optimistisch, dass es noch in dieser Legislaturperiode tatsächlich zu einer Reform kommen kann.
    Heinemann: Frau Lambrecht, haben Sie die Opposition schon eingebunden?
    Lambrecht: Nein, es ist jetzt erst mal ein koalitionsinternes Gespräch. Es gibt auch keine Verpflichtung darauf, Wahlrechtsreformen, Wahlrechtsveränderungen im Konsens mit den Oppositionsfraktionen zu verabschieden.
    "Vorschlag muss von Fraktionen mitgetragen werden"
    Heinemann: Entschuldigung! Eine Verpflichtung vielleicht nicht, aber das wäre doch guter demokratischer Brauch.
    Lambrecht: Das wäre wünschenswert, genau. Das ist auch mein Ansatz. Deswegen ist es ja auch unser Ansatz, nach einer Lösung zu suchen, die nicht alleine zu Gunsten einer Fraktion geht. Das ist ja das, was Herr Lammert auf den Tisch gelegt hat. Hört sich so charmant an: Wir kappen bei 630. Wer durchrechnet merkt dann relativ schnell, dass es alleine zu Lasten von Grünen, Linken und auch SPD geht und alleine die Union davon profitiert. Wie gesagt, so charmant das sich auch anhört, da bitte ich dann schon um Verständnis. Das muss schon ein Vorschlag sein, der auch von den anderen, auch in den Fraktionen mitgetragen werden kann, und auch den Wählerwillen abbildet. Das ist das Allerwichtigste.
    Heinemann: Würde alles leichter gehen, wenn es nicht so unter Zeitdruck passierte. Das Problem ist seit ewigen Zeiten bekannt. Warum erst jetzt?
    Lambrecht: Es hat sich erst in den letzten, sage ich mal, Monaten auch abgezeichnet, dass wir wahrscheinlich sechs Parteien im Parlament haben, sechs Fraktionen dann im Parlament haben werden. Das war ja so vor anderthalb Jahren noch nicht absehbar, dass es tatsächlich dazu kommt, dass die AfD einziehen wird. Wir hatten mal Anfang 2015 eine ganz andere Situation. Wenn man jetzt natürlich die aktuellen Umfragewerte zugrunde legt, dann lässt das schon darauf schließen, dass es so kommen wird, und das stellt natürlich schon die Frage: Sind wir unter dieser Voraussetzung dann handlungsfähig. Deswegen muss ich sagen, hat sich das erst in den letzten Monaten so deutlich abgezeichnet. Aber ich sage es noch mal: Das BMI geht bisher von einer Zahl von 667 Abgeordneten aus und keineswegs diese 700, die angesprochen wurden. Deswegen ist es wichtig, dass man sich noch mal eine verlässliche Grundlage jetzt erst mal beschafft, über was reden wir denn tatsächlich.
    "Es geht nicht darum, Rechte einer Partei in irgendeiner Weise einzugrenzen"
    Heinemann: Das Ganze klingt so ein bisschen nach Lex AfD. Sie haben gesagt, das zeichnet sich jetzt erst seit einigen Monaten ab, das mit dem Aufstieg der AfD in den Umfragen.
    Lambrecht: Mit der AfD als Partei, mit ihren Inhalten hat das definitiv nichts zu tun, sondern es geht einfach darum, dass wir eine Vergrößerung des Parlaments durch eine neue Partei, egal wie die denn jetzt hieße, bekommen. Es geht nicht darum, Rechte einer Partei in irgendeiner Weise einzugrenzen, sondern sich auf die Situation einzustellen, dass eine zusätzliche Partei, in dem Fall sogar zwei, die FDP ja auch wieder, den Einzug voraussichtlich schaffen wird, sich darauf einzustellen. Es hat weder was mit Inhalten, noch mit Personen zu tun, sondern es geht um die Situation, dass wir mehr werden.
    Heinemann: Christine Lambrecht, die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Lambrecht: Einen schönen Tag noch. - Tschüss!
    Heinemann: Ihnen auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.