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Bundestagswahlkampf
Europa-Expertin: Parteien beschränken sich auf nationale Themen

Im Bundestagswahlkampf spielt Europa kaum eine Rolle, kritisierte Linn Selle, Präsidentin der Europäischen Bewegung in Deutschland, im Dlf. Dabei müssten viele Themen, wie etwa Sicherheitspolitik und Klimaschutz, auf europäischer Ebene angegangen und bearbeitet werden.

Linn Selle im Gespräch mit Frederik Rother | 08.09.2021
Eine Europafahne vor dem Reichstag in Berlin im Wind, im Dezember 2011
Europafahne vor dem Reichstag (dpa/ Kay Nietfeld)
Auf den überall in Deutschland hängenden Plakaten zur Bundestagswahl geht es oft um Themen wie höhere Renten, bessere Löhne, Bildung, Digitalisierung, Wohnen. Eher selten ist von europapolitischen Themen oder von der Europäischen Union die Rede. Dabei fallen in Brüssel und Straßburg viele Entscheidungen, die die Menschen in Deutschland betreffen. Die Mehrheit der deutschen Gesetze wird durch Vorgaben aus Brüssel bestimmt. Dennoch spielt Europapolitik im Wahlkampf eher eine Nischenrolle.
Der Reichstag spiegelt sich am 07.02.2016 in Berlin am frühen Abend bei der Langzeitbelichtung im Wasser der Spree.
Bundestagswahl 2021 - Alles auf einen Blick  Bei der Bundestagswahl gibt es mehr als die sonst gewohnten zwei Hauptkandidaten. Aber wofür stehen Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet? Was versprechen die Parteien – und welche Koalitionen erscheinen möglich?
Dabei seien die europapolitischen Positionen in den Wahlprogrammen der Parteien sehr dezidiert und auch unterschiedlich, sagte Linn Selle, Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland, im Dlf. Es sei notwendig, dass Europapolitik in Deutschland mehr Sichtbarkeit bekomme. Dass Europa bislang nur so eine geringe Rolle im Wahlkampf spiele, habe auch damit zu tun, dass es keine wirklichen Gesichter gebe, "die sozusagen für die Europapolitik der Bundesregierung stehen".
Dem Verein Europäische Bewegung Deutschland gehören unter anderem Firmen, Parteien, Gewerkschaften und Stiftungen an, ihr gemeinsames Ziel ist die Förderung der europäischen Integration.

Das Interview im Wortlaut
Frederik Rother: Frau Selle, es gibt kaum europapolitische Slogans auf den Wahlplakaten. Ist es unattraktiv, mit der EU Wahlkampf zu machen?
Linn Selle: Ja, ich glaube, das ist eher so ein Problem in der Logik des Systems, dass wir natürlich auf der einen Seite sehen, dass die ganzen großen Themen, die wir jetzt gerade im Wahlkampf diskutieren, also wie gehen wir mit der Coronapandemie und der wirtschaftlichen Erholung um, Klimafragen, auch die Krise in Afghanistan, dass das letztlich genuin europäische Themen sind, aber dass es oft natürlich einfacher ist, auf nationaler Ebene eine Handlungsfähigkeit darzustellen. Wobei da natürlich auch immer fraglich ist, wie weit diese Handlungsfähigkeit angesichts dieser internationalen Vernetzung überhaupt noch gegeben ist.

"Wie können wir die Rolle Europas in der Welt stärken?"

Rother: Warum glauben Sie denn, sollte es anders laufen, warum sollte man aus Ihrer Sicht die europapolitischen Themen mehr in den Vordergrund stellen?
Selle: Na ja, lassen Sie mich vielleicht das Beispiel Afghanistan noch mal nehmen. Hier sieht man zumindest in meiner Wahrnehmung, dass sich die politische Debatte in Deutschland sehr stark um Fehler in der Bundeswehr, um nationale Handlungsfähigkeit dreht. Was aber eigentlich die relevante Frage ist, die dahinterstehen müsste, ist, wie wir die immer gerne in Sonntagsreden diskutierte europäische Souveränität, also die Rolle Europas in der Welt, stärken können.
Das ist eigentlich der zentrale Punkt, der auch letztlich so ein Weckruf sein müsste, dass wir als Europäer nicht in der Lage sind, einen Flughafen in Afghanistan zu sichern zum Beispiel, wie wir auch stärker handlungsfähig sein können – über schöne Sonntagsreden hinaus.

"Die Parteien haben dezidierte Vorstellungen von Europa"

Rother: Sie haben ja auch im Rahmen Ihrer Tätigkeit für die Europäische Bewegung in die Wahlprogramme geschaut der Parteien, die zur Bundestagswahl antreten. Wie konkret werden denn die Parteien, wenn es um Europapolitik geht?
Selle: Die Parteien, das ist eigentlich sehr erfreulich und dann auch wieder ein bisschen seltsam, dass das Thema im Wahlkampf im Grunde keine Rolle spielt, weil die Parteien schon sehr dezidiert sind, was sie sich vorstellen, und sich auch durchaus unterscheiden in ihren Wahlprogrammen. Es ist auch jetzt nicht unbedingt so, dass Europapolitik sozusagen nur ein Einheitsbrei wäre unter den pro-europäischen Parteien, sondern man hat auch durchaus Unterschiede, die man auch mal thematisieren könnte. Wie soll eine europäische Wirtschaftspolitik aussehen? Wie können wir auch europaweit … oder wollen wir eine europäische Sozialpolitik? Da gibt es durchaus Unterschiede, und die Parteien sind zum Teil auch sehr detailliert in ihren Antworten.
Allerdings habe ich den Eindruck, dass man sich letztlich auf diese nationalen Themen beschränkt, was natürlich bedauerlich ist, weil am Ende des Tages ist Deutschland der größte EU-Mitgliedsstaat. Und die Rolle, die letztlich die Bundestagswahl haben wird, wird natürlich auch über die Ausrichtung der Europapolitik und der Europäischen Union in den nächsten Jahren entscheiden.

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"Keine Gesichter, die für Europapolitik stehen"

Rother: Parteiprogramme sind ja das eine, das andere ist ja dann die Frage, was setzt eine neue Regierung um. Welche Schwerpunkte erwarten Sie, welche Schwerpunkte würden Sie setzen?
Selle: Ich glaube, ein ganz wichtiges Thema, was sich so ein Stück weit durch alle Politikfelder ziehen wird oder ziehen muss, ist letztlich die Frage, wie wir auch insgesamt der Europapolitik mehr Sichtbarkeit in Deutschland geben. Und das sieht man ja momentan auch ganz gut, dass auch gesagt wird, warum spielt Europa nur so eine geringe Rolle bislang im Wahlkampf, dass wir auch keine wirklichen Gesichter haben, die sozusagen für die Europapolitik der Bundesregierung stehen.
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Da wünschen wir uns schon durchaus eine Aufwertung, dass sozusagen Europapolitik vielleicht mit einem Europaminister oder -ministerin mit am Kabinettstisch sitzt und dass man da einfach auch mehr öffentliche Debatte hinbekommt. Und wenn wir jetzt konkret über die Themen sprechen, da gibt es eine Reihe von Dingen, die natürlich auf der Hand liegen. Wir haben auf EU-Ebene mit den "Fit for 55"-Paketen…
Rother: Da geht es um den Klimaschutz.
Selle: … den Klimaschutz, genau, ganz hoch auf der Agenda. Aber ich glaube, auch das Thema Außen- und Sicherheitspolitik, gerade nach den letzten Wochen, wird schon noch mal eine große Rolle spielen müssen. Und da kommt man dann auch schnell zu so strukturellen und institutionellen Fragen, wie kann man auch Europa handlungsfähiger machen – sowohl im Blick nach außen, aber auch nach innen. Wie können wir auch europäische Institutionen besser aufstellen. Das wird sicherlich auch eine wichtige Debatte sein in der Konferenz zur Zukunft Europas. Noch so ein europapolitisches Thema, das derzeit leider nicht die Sichtbarkeit hat, die es eigentlich haben müsste.
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"Die Bundesregierung bleibt hinter ihrem Koalitionsvertrag zurück"

Rother: Europa war dennoch groß Thema im letzten Koalitionsvertrag – oder im aktuell bestehenden Koalitionsvertrag – zwischen Union und SPD. Deutschland und Frankreich sind auch näher zusammengerückt, reicht Ihnen das nicht, sind Sie nicht zufrieden mit der europapolitischen Bilanz der Bundesregierung?
Selle: Wir haben uns schon gemeinsam mit unseren Mitgliedern sehr gefreut über den Koalitionsvertrag oder über das Europa-Kapitel ganz zu Beginn des Koalitionsvertrags, aber leider bleibt die Bilanz der Bundesregierung weit hinter diesem sehr ambitionierten Koalitionsvertrag zurück. Und natürlich, man hat wichtige Initiativen gemacht, etwa mit dem Wiederaufbauplan im Zuge der Coronapandemie, aber das waren doch alles eher Reaktionen. Was wir vermissen, ist einfach eine proaktive Initiative der Bundesregierung, dass man wirklich mal wieder nach vorne denkt und eine Strategie auch verfolgt, welche Themen man europapolitisch setzen will. Ich glaube, da ist für die nächste Bundesregierung noch sehr viel Luft nach oben, aber da hören wir auch durchaus ermutigende Signale aus den Parteien.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.