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Bundesteilhabegesetz
Mehr Möglichkeiten für Behinderte

Im Dezember haben Bundestag und Bundesrat das Bundesteilhabegesetz auf den Weg gebracht. Dadurch werden viele Dinge verbessert. So ist es behinderten Menschen z.B. möglich, mehr Geld anzusparen. Auch die Arbeitsaufnahme soll erleichtert werden. Interessenverbände sehen aber nicht alle Entwicklungen positiv.

Von Susanne Kuhlmann | 30.12.2016
    Tausende Menschen mit Behinderung demonstrieren im September 2016 in Hannover. Zu sehen ist ein Plakat mit der Aufschrift "Behinderte nicht ignorieren".
    Demonstranten beim Aktionstag "Für ihr Recht auf Teilhabe" in Hannover. (picture alliance / dpa / Holger Hollemann)
    Seit 2009 gilt das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auch für Deutschland. Doch die praktische Umsetzung im Alltag ließ auf sich warten. Das soll sich ab 2017 in einem ersten Schritt mit dem Bundesteilhabegesetz endlich ändern. Manche Regelungen treten sofort zum Jahresanfang in Kraft, beschreibt Gabriele Lösekrug-Möller. Sie ist Parlamentarische Staatssekretärin im Bundessozialministerium.
    "Ganz viel bessere Rechte gibt es im Schwerbehindertenrecht. Das betrifft die Schwerbehindertenvertretung in den Unternehmen. Sie werden deutlich besser gestellt. Wir werden bei den Werkstätten für Behinderte Frauenbeauftragte haben. Und auch die Werkstatträte bekommen mehr Rechte und werden gestärkt in ihrer Arbeit."
    Wer als Behinderter bislang staatliche Unterstützung zur Bewältigung des Alltags erhielt, wurde nach dem alten System unabhängig von seinen eigenen Verdienstmöglichkeiten grundsätzlich als Sozialhilfeempfänger behandelt. Behindertenvertreter kritisieren unter anderem, dass bisher Einkommen und Vermögen der Leistungsberechtigten, ihrer Angehörigen und Partner angerechnet werden. Unter anderem bei der sogenannten Eingliederungshilfe sind behinderte Menschen zurzeit aber etwas bessergestellt als Sozialhilfeempfänger. Dazu gehören zum einen Sachleistungen wie medizinische Hilfsmittel. Zum anderen können zum Beispiel Fahrtkosten übernommen werden oder auch die Aufwendungen für eine Begleitperson. Für Leistungen aus der Eingliederungshilfe, die fast vollständig auf behinderte Menschen zugeschnitten ist, gilt eine besondere Einkommensgrenze.
    Mehr Erspartes ist möglich
    Bisher dürfen behinderte Menschen nicht mehr als 2.600 Euro ansparen. Ab 2017 sind es zunächst 27.600 Euro Vermögen. Von dem, was über diese Grenze hinausgeht, müssen sie allerdings weiterhin Assistenzleistungen für Hilfen im Alltag mitfinanzieren. Eine deutliche Verbesserung gegenüber der jetzigen Situation, findet Ulla Schmidt. Sie ist Vorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe.
    "Sie können in Zukunft mehr von ihrem Einkommen behalten. Und sie dürfen ab 2020 bis 50.000 Euro Vermögen aufbauen. Und was wichtig ist, ist, dass Partnereinkommen nicht mehr angerechnet werden."
    Auch, wer nicht berufstätig sein kann, darf künftig mehr Geld auf die hohe Kante legen.
    "Auf der anderen Seite gibt es aber auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen, die sogenannten geistig behinderten Menschen. Auch die, obwohl sie in der Grundsicherung sind, dürfen mehr Vermögen ansparen."
    Sagt Ulla Schmidt von der Lebenshilfe. Die Grundsicherung ist eine Sozialleistung zum Lebensunterhalt für Menschen, deren Altersrente nicht ausreicht, um das Existenzminimum zu finanzieren oder die wegen einer Krankheit oder Behinderung nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können.
    Behinderte Menschen in dieser Situation dürfen künftig 5.000 Euro besitzen, statt wie bisher 2.600. Arbeitgeber, die sie einstellen, bekommen in Zukunft einen Lohnkostenzuschuss bis zu 75 Prozent. Für beide Seiten soll es zusätzlich professionelle Beratung und Unterstützung geben. Budget für Arbeit, heißt das.
    "Aber was besonders wichtig ist, dass mit dem Budget für Arbeit neue Angebote entwickelt werden, damit Menschen auch mit geistiger Behinderung oder psychischen Beeinträchtigungen im ersten Arbeitsmarkt eine Möglichkeit der Arbeitsaufnahme finden. Und dass trotzdem für sie, auch wenn es nötig ist, der geschützte Bereich erhalten bleibt."
    Zwangspoolen wird kritisch gesehen
    Dass sich damit Alternativen zu Werkstätten für behinderte Menschen bieten und dass sich insgesamt das Beratungsangebot für diesen Personenkreis verbessern soll, sei gut, urteilt Dr. Sigrid Arnade. Sie ist Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland. Vehement kritisieren sie und Vertreter anderer Behindertenverbände allerdings das sogenannte Zwangspoolen. Das heißt:
    "Dass Menschen gezwungen werden können, gemeinschaftlich mit anderen Unterstützung, Assistenz in Anspruch zu nehmen. Das ist etwas abgemildert durch die vielen Proteste, aber es ist immer noch möglich, dass im Freizeit- oder kulturellen Bereich man gezwungen wird, zu mehreren eine Assistenz in Anspruch zu nehmen."
    Denn wenn mehrere Behinderte gemeinsam und gleichzeitig auf einen oder mehrere professionelle Alltagshelfer zurückgreifen müssen, kann folgende Situation entstehen:
    "Wenn die Mehrheit dafür stimmt: Wir wollen uns heute ein Fußballspiel angucken, dann hat derjenige, der ins Theater wollte oder ins Kino eben Pech gehabt. Das ist im Moment nicht so. Das ist eine klare Verschlechterung."
    Womöglich Wohnheimzwang
    Das neue Gesetz beschneide auch die Wahlfreiheit, ob ein behinderter Mensch in der eigenen Wohnung versorgt werden möchte oder ob er in ein Wohnheim umziehen sollte.
    "Außerdem ist der Grundsatz "ambulant vor stationär" weggefallen, sodass es leichter vermutlich in Zukunft wird, Leute gegen ihren Willen in ein Heim abzuschieben, aus Kostengründen."
    Weil zahlreiche Grundgedanken des Rechts zur Eingliederungshilfe in das neue Teilhabegesetz eingeflossen sind, gehen Behindertenvertreter davon aus, dass auch künftig die Träger der Sozialhilfe für sie zuständig sein werden. Sachbearbeiter des Sozialamts werden dann auch in Zukunft darüber entscheiden, wer in der eigenen Wohnung bleiben kann und wer ins Heim kommt.
    Sie werden in den nächsten Jahren auf diese Aufgabe vorbereitet, sagt die Parlamentarische Staatssekretärin Lösekrug-Möller. Behindertenverbände befürchten, dass in der Folge vor allem Menschen, die zu Hause rund um die Uhr persönliche Assistenz benötigen, gegen ihren Willen im Heim untergebracht werden könnten.