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Castorf in Lausanne
Politik, Machtgier und Eros

Frank Castorf ist in seiner klassischen Phase angekommen: Am Théâtre de Vidy in Lausanne inszeniert er Jean Racines "Bajanet". Anders als in Racines anderen Tragödien geht es hier in vielerlei Hinsicht zur Sache - und das Publikum muss zittern, was den Figuren in der nächsten Szene zustoßen könnte.

Von Eberhard Spreng | 31.10.2019
Auf einer Theaterbühne sind ein blaues Zelt und mehrere Videoleinwände mit Aufnahmen sowie eine Schauspielerin zu sehen.
Blaues Zelt und Videoleinwand: Frank Castorfs Inszenierung von "Bajazet" am Théâtre de Vidy in Lausanne. (Mathilda Olmi - Théâtre Vidy-Lausanne)
Bajazet soll auf den Thron gehoben werden und den kriegsbedingt abwesenden Sultan ersetzen. So will es die Politik, die der Großwesir Acomat betreibt. Bajazet soll aber gleichzeitig auch der neue Mann der Sultanin werden, so will es Roxane, erste Dame im Serail und Interimsherrscherin. Und er soll sterben, so will es ein Befehl des abwesenden grausamen Sultans Amurat. Und verliebt ist Bajazet in Atalide, aber wenn das rauskommt, ist sowieso alles verloren.
Anders als in den drei bekannten Tragödien, in denen Racine Frauenfiguren zu Titelheldinnen machte, gemeint sind natürlich Phèdre, Bérénice und Andromaque, muss das französische Publikum den Alexandrinern dieses Stücks nicht mit der heiligen Langeweile lauschen, die Racines Theatergottesdienste normalerweise begleitet. Hier geht es zur Sache und was den zaudernden Figuren in der Folgeszene zustoßen wird, weiß man nicht im Voraus.
Ironische Tausend-und-eine-Nacht-Ästhetik
Racine hat hier diese spezielle Mischung aus Politik, Machtgier und Eros, wie sie am Hofe Ludwig des 14. herrschte, ins orientalisierende Gewand des osmanischen Serails gekleidet. Castorf macht sich zu Beginn einer mit vier Stunden geradezu schlanken Inszenierung eine Freude daraus, ironisch eine Tausend-und-eine-Nacht-Ästhetik vorzuführen, in der die beiden Protagonistinnen für jede Szene in einem anderen Glitzerkleidchen auftreten.
Das Dekor auf ansonsten leerer, schwarzer Bühne besteht aus einem blauen Zelt mit kuriosem, an den Kopfteil einer Burka erinnerndem Design. Darinnen ein buntbesticktes Haremsinterieur. Hinter einem großen Prospekt mit osmanischem Herrscherporträt verbirgt sich eine schäbige Küche. Beide Innenräume erschließt die grandiose Kamera des Andreas Deinert. Wie sich hier Theaterbühne und Videobild ineinander verschränken, wie sich Spielrhythmus, Alexandriner, Atem, Schreie und Musik zu einem opernhaften Klanggeschehen verdichten, ist atemberaubend. Der erste zweieinhalbstündige Teil vor der Pause lädt ein zu einer meditativen Versenkung in ein hoch-suggestives Theater mit exzellenten Akteuren.
Aufgescheuchte Prinzessin, hinterlistige Sultanin
Jeanne Balibar als Sultanin Roxane, zunächst hinterlistiger Machtmensch, dann Abbild eines Verfalls in gnadenlosem Wahn. Claire Sermonne spielt eine aufgescheuchte Prinzessin aus dem Morgenland, Jean-Damien Barbin manchmal etwas chargierend in der Verkörperung eines philosophisch-verstörten Bajazet.
Wie Atalide in Großaufnahme vor einem Spiegel ihren Liebeskummer performt und sich in ihrer Verzweiflung narzisstisch selbst bewundert, und wie sie dabei dem Glas so nahe kommt, dass sich ihr Lippenstift am Spiegel abreibt, ist ein grandioses Bild für eines der Themen des Abends: Der Racine-Mensch kann nie sicher sein, ob seine Verzweiflung über den Andern nicht einfach nur Begeisterung ist am eigenen emotionalen Wahn.
Überdrehte Gefühle in Alexandrinern
Frank Castorf montiert Racine mit Texten vor allem von Antonin Artaud. Das leuchtet ein: Denn wo Racine die überdrehte Gefühlswelt seiner Figuren so eben noch in der Sprachordnung des Alexandriners bändigt, entlässt Artaud seine Theaterfiguren in die physische Erfahrung von Entgrenzung, Wahn und Krankheit. Ihn interessiert die physiologische Wirklichkeit hinter der Emotion, das Somatische am Bühnengeschehen. Racine und Artaud als Brüder im Geiste und Gegner in der Form und Castorf, der diese Spannung im Wechsel von Groteskem und Sublimen ausagieren lässt. Das funktioniert mit französischen Akteuren besonders gut, weil sie, ihr Theater und die Kultur in Frankreich noch eine stabileres Verhältnis zu Anmut, Charme, Grazie und Schönheit haben.
Die Fallhöhe in Castorfsche Abgründe ist da viel größer als in Deutschland, wo das Groteske und Hässliche schon längst den Mainstream erobert haben. Am Ende aber lässt Castorf in seiner Ideenreise noch eine ganz andere französische Stimme hören: Barockphilosoph Blaise Pascal geißelt da die Unterhaltungssucht des Menschen, seine Begeisterung fürs Tumultuöse, seine Unfähigkeit zur Seelenruhe. Racine Liebesrasende müssen sich das stumm und reglos anhören. Frank Castorf ist nun definitiv in seiner klassischen Phase angekommen: Die Dekonstruktion führt in die Schöpfung neuer Ordnungssysteme.