Tobias Armbrüster: Von der Spielgruppe für Zweijährige bis zum Jugendsozialarbeiter – Deutschland steckt eine ganze Menge an Ressourcen in die Arbeit mit und für Kinder und Jugendliche. Mehr als 41 Milliarden Euro sind dafür jedes Jahr vorgesehen in den verschiedenen Haushalten von Bund, Ländern und Kommunen. Aber reicht dieses Geld aus und wird es richtig eingesetzt? Ist Deutschland auf dem richtigen Weg, wenn es zum Beispiel um Dinge geht wie Ganztagsschulen oder um Inklusion? Darüber gehen die Meinungen oft weit auseinander.
In Düsseldorf beginnt nun heute der Kinder- und Jugendhilfetag. Wenn man so will ist das das Branchentreffen all derer, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Am Telefon ist jetzt die Chefin dieser Veranstaltung, Karin Böllert, Professorin für Kinder- und Jugendhilfe an der Uni Münster. Schönen guten Morgen, Frau Böllert.
Karin Böllert: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Frau Böllert, kann man das so sagen? Geht es Kindern und Jugendlichen in Deutschland heute besser als, sagen wir, vor zehn Jahren?
"Wir brauchen eine Qualitätsoffensive in der Kita"
Böllert: Ja, Kindern und Jugendlichen geht es heute besser als vor zehn Jahren. Wir können sagen, dass die Chancen-Ampel für junge Menschen heute auf hellgrün steht. Wir wünschen uns natürlich dunkelgrün.
Armbrüster: Was muss dafür passieren, dass es auf dunkelgrün geht?
Böllert: Wir brauchen zum Beispiel eine Qualitätsoffensive in der Kita. Die meisten Kinder gehen heute, zumindest vom dritten Lebensjahr an, in eine Kita. Aber der quantitative Ausbau kann nicht alles gewesen sein. Wir brauchen mehr Personal in den Kitas. Wir brauchen auch mehr Zeit für Leitungsaufgaben, für Elterngespräche. Und wir brauchen vor allen Dingen auch kleinere Gruppen, damit eine Erzieherin sich nicht um zu viele Kinder kümmern muss, um allen gerecht werden zu können.
Armbrüster: Jetzt kann ich mir vorstellen, dass sich viele Leute denken, wir hören seit Jahren darüber, wieviel zusätzliches Geld in Kitas gesteckt wird. Da gibt es steigende Gehälter für Kita-Mitarbeiterinnen, da gibt es Offensiven, dass die Eltern immer weniger dafür zahlen müssen. Viele Leute denken sich da doch wahrscheinlich, irgendwann muss auch mal Schluss sein mit dieser ganzen Kita-Förderung.
"Kinder sind länger in einer Kita als in der Grundschule"
Böllert: Ja, aber Kitas sind die Startchance für alle Kinder in unserer Gesellschaft, wenn sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Familie verlassen. Und wenn man sich die Zeit anguckt, dann sieht man, dass Kinder heute länger in einer Kita sind, als sie beispielsweise hinterher in eine Grundschule gehen, und das ist wirklich sehr gut investiertes Geld, weil sie lernen spielerisch von anderen Kindern unsere Werte, unsere sozialen Regeln. Sie haben selber eine Menge beizutragen. Und für viele ist es auch eine großartige Integrationschance, wenn sie in eine Kita gehen können. Gerade für Kinder, die aus Familienverhältnissen stammen, wo materielle Armut vorherrscht, wo Eltern zwar große Mühe sich geben, ihre Kinder auch glücklich werden zu lassen, aber selber nicht die eigenen Ressourcen haben, ist die Kita ein hervorragender Ausgleich.
Armbrüster: Wenn wir über Chancengleichheit sprechen, dann können wir mal direkt über die Lage an Schulen reden. Da hat sich ja auch in den vergangenen Jahren einiges getan. Immer mehr Kinder besuchen heute eine Ganztagsschule, sind von morgens bis nachmittags dort in Betreuung, entweder im Unterricht oder in weiteren Aktivitäten. Dahinter war mal die große Idee, wenn alle Kinder wirklich von morgens bis zum späten Nachmittag gemeinsam zusammen sitzen, dann werden auch die sozialen Unterschiede ausgeglichen. Kann man sagen, da sind wir in Deutschland auf dem richtigen Weg?
"Der Ganztagsschule laufen ihre Schüler davon"
Böllert: Sind wir leider nicht, weil die Ganztagsschule dieses großartige Versprechen, für mehr Chancengleichheit zu sorgen, bislang nicht einlösen konnte. Die Ganztagsschule ist eine Schule, die bislang ihren Erwartungen nicht gerecht wird. Wir brauchen auch hier eine andere Schule. Wir brauchen ganz andere Angebote an der Ganztagsschule. Es ist so, dass gerade Schüler und Schülerinnen, die älter werden, die Ganztagsschule meiden. Man könnte auch sagen, der Ganztagsschule laufen ihre Schüler davon, weil sie die Angebote gerade am Nachmittag nicht jugendgerecht finden, sie langweilen sich, und auch die Eltern hätten gerne andere Angebote. Die wünschen sich so was wie einen Internet-Führerschein oder eine fundierte Berufsberatung an Schulen.
Armbrüster: Und stattdessen? Können Sie uns ein Beispiel nennen? Was wird stattdessen angeboten? Was läuft da falsch?
Böllert: Es werden AGs angeboten. Es ist eine Ganztagsschule am Nachmittag auch nach Stundenplan. Und im Grunde genommen ist es eine Verlängerung des Unterrichts mit einem anderen Etikett. Das ist nicht das, was die Schüler und Schülerinnen sich wünschen.
Armbrüster: Wie sieht es denn dann aus mit der Chancengleichheit? Ist Deutschland da auf einem Weg, dass man Schüler aus, ich sage mal, benachteiligten Haushalten und bevorzugten Haushalten, dass sich da die Schere irgendwie schließt? Oder geht die weiter auseinander?
"Wir haben 3,7 Millionen junge Menschen, die schlechtere Chancen haben"
Böllert: Wenn man sich die Gesamtzahl der Benachteiligten anguckt, dann muss man wirklich sagen, wir haben immer noch 3,7 Millionen junge Menschen, die schlechtere Chancen haben als andere. Das ist weniger geworden in den letzten Jahren, aber bei weitem nicht genug. Es ist noch viel Luft nach oben und wir müssen feststellen, dass in Deutschland die Chancen, die man hat, immer noch vererbt werden, die guten wie aber auch die schlechten.
Armbrüster: Und jetzt kommt noch das Thema Inklusion dazu. Damit sind ja viele Schulen völlig überfordert. Ist das möglicherweise auch ein Grund dafür, dass vieles an Ganztagsschulen falsch läuft?
Böllert: Nein, das ist nicht die Ganztagsschule; das ist an allen Schulen so. Wenn man einer Schule das Etikett verleiht, inklusive Schule zu sein, ohne die Struktur an der Schule zu verändern, dann wird das auch kein Erfolg sein. Wir haben im Grunde genommen keine Schule, die sich so verändert, dass alle Schüler, auch behinderte dort hingehen können, sondern wir erwarten von den behinderten Schülern, dass sie sich der Schule so anpassen, dass sie möglichst wenig auffallen, und das ist genau die falsche Richtung, in die wir da gehen. Jeder beantragt seinen eigenen Inklusionshelfer. Wir haben Schulklassen, da sitzen sechs, sieben Inklusionshelfer. Der Unterricht vorne findet mehr oder weniger unverändert statt. So werden weder die behinderten Kinder Teil der Schule, noch ändert die Schule sich.
Armbrüster: Läuft da möglicherweise irgendwas grundsätzlich an der Planung falsch, dass wir versuchen, alle Schulen nach dem gleichen Muster zu behandeln?
"So wird es nie eine inklusive Schule geben können"
Böllert: Wir können gar nicht alle Schulen nach dem gleichen Muster behandeln, weil das würde auch bedeuten, dass wir alle Schüler und Schülerinnen gleich behandeln und deren Individualität und ihren besonderen Bedarfen auch nicht mehr gerecht werden. Wir brauchen an den Schulen multidisziplinäre Teams. Wir brauchen natürlich die Lehrer. Wir brauchen Sonderpädagogen, aber auch Sozialpädagoginnen, und die sollten alle gemeinsam arbeiten und nicht der Lehrer vorne alleine vor der Klasse stehen und der Inklusionshelfer hinten in der letzten Reihe. So wird es nie eine inklusive Schule geben können.
Armbrüster: Frau Böllert, jetzt schreiben Sie selbst in der Pressemitteilung zu diesem Kinder- und Jugendhilfetag, der da heute in Düsseldorf beginnt, dass das Ganze eine Branche ist, in der inzwischen fast so viele Menschen arbeiten wie in der deutschen Autoindustrie. Da kann ich mir vorstellen, dass sich jetzt viele Leute sagen, ist ja klar, dass sich die Frau Böllert da jetzt hinstellt und mehr Mittel verlangt, mehr Geld und mehr Aufmerksamkeit für ihre Branche, genauso wie das die Autoindustrie tun würde.
Böllert: Ja! Wir sind 750.000 Beschäftigte mittlerweile in der Kinder- und Jugendhilfe. Und ich fordere dieses Geld ja nicht für uns, sondern ich fordere es für die Chancen der jungen Generation, die diese Gesellschaft braucht. Aber auch die jungen Menschen haben das Recht darauf, von dieser Gesellschaft diese Chancen zu bekommen.
Armbrüster: Wo liegt denn der politische Grund dafür, dass sie das nicht bekommen? Sehen Sie da irgendwie einen grundsätzlichen politischen Fehler?
"Der Bund wird sich stärker an den Ausgaben beteiligen müssen"
Böllert: Nein, da sehe ich erst mal keinen grundsätzlichen politischen Fehler. Ich meine, 41 Milliarden Euro sind ja schon mal eine Menge Geld. Da kann man sich nun wirklich nicht beschweren. Der Punkt ist der, dass die Finanzierung der Kinder- und Jugendhilfe weitgehend über die Kommunen geleistet wird. Über zwei Drittel der 41 Milliarden werden von den Gemeinden und den Städten finanziert. Die Länder sind mit einem knappen Drittel dabei und der Bund ist marginal mit etwas über drei Prozent dabei. Wir brauchen andere Finanzierungsstrukturen. Der Bund wird sich stärker an den Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe beteiligen müssen, weil auf Dauer die Kommunen das alleine nicht schaffen können.
Armbrüster: In Düsseldorf beginnt heute der Deutsche Kinder- und Jugendhilfetag. Wir sprachen mit der Chefin dieser Veranstaltung, mit Karin Böllert von der Uni Münster. Vielen Dank, Frau Böllert, für Ihre Zeit heute Morgen.
Böllert: Danke gleichfalls!
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