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China Miéville: "Die letzten Tage von Neu-Paris"
Surrealistische Kunstwerke gegen satanistische Nazis

Der Brite China Miéville gilt als einer der wichtigsten Fantastik-Autoren derzeit. Im nun übersetzten Roman "Die letzten Tage von Neu-Paris" haben die Nazis den Weltkrieg gewonnen und Paris mit einer "S-Bombe" in einen surrealistischen Alptraum verwandelt. Mittendrin: ein junger Widerstandskämpfer.

Von Thorsten Krämer | 04.07.2019
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Die Ruhe ist trügerisch (Buchcover Golkonda Verlag / Hintergrund: picture alliance / dpa / Kevin Kurek)
Wir schreiben das Jahr 1950. Frankreich ist immer noch von den Deutschen besetzt, Paris vom Rest des Landes abgeriegelt. Denn in der Hauptstadt gehen seit der Explosion einer ominösen "S-Bombe" erschreckende Dinge vor sich. Kunstwerke werden lebendig, die Naturgesetze sind ausgehebelt, die kühnsten Traume der Surrealisten werden Wirklichkeit. Und mittendrin der junge Franzose Thibaut, der sich einer surrealistischen Widerstandsgruppe angeschlossen hat – und doch am liebsten einfach nur raus will aus diesem verrückten, tödlichen Neu-Paris.
Paris im Jahr 1950: Surrealistische Kunstwerke werden lebendig
Das ist die Ausgangslage des neuen Romans von China Miéville, einem der wichtigsten Vertreter der sogenannten "Speculative Fiction", einer Literatur, die das Feld des Fantastischen nicht allein den Orks und Elfen überlassen will und zu deren Vorläufern etwa E.T.A Hoffmann, Edgar Allan Poe und eben die Surrealisten zählen. Daher ist es mehr als stimmig, dass sich Miéville nun dieser Kunstbewegung widmet, die sich die Befreiung des Unbewussten auf die Fahne geschrieben hatte. Die Grundidee des Buches nimmt diese Forderung wörtlich: Sogenannte "Manifestationen", real gewordene Gemälde oder Gedichte, bevölkern Neu-Paris, und selbst der Himmel über der Stadt ist nicht mehr sicher, wie der Pilot einer deutschen Messerschmitt erfahren muss, dessen Aufklärungsflug ein jähes Ende findet.
"Etwas erhebt sich aus dem Inneren von Paris. Eine baumhohe Ranke mit zottigem hellglänzendem Blattwerk. Sie richtet sich in der Luft auf. Zuckende Knospen oder Früchtetrauben, jede einzelne so groß wie ein menschlicher Kopf, erblühen riesenhaft über den Dächern. Der deutsche Pilot fliegt direkt auf die lebendigen Blumen zu, wie ein Verliebter, wie im Rausch. Er senkt die Nase seines Flugzeugs in die Pflanze. Sie breitet zitternd ihre Blätter aus. Die riesige Rebe rankt noch einmal haushoch auf und umschlingt das Flugzeug. Reißt es hinab, hinter die Dächer, in die Straßen, außer Sicht."
Eine flugzeugfressende Pflanze
Die Flugzeuge fressende Pflanze ist einer Werkreihe von Max Ernst entsprungen, wie der umfangreiche Anhang des Buches aufzeigt, der die zahlreichen kunsthistorischen Bezüge freundlicherweise aufschlüsselt. So liest sich der Roman bisweilen wie eine Alptraumversion der populären "Nachts im Museum"-Filme mit Ben Stiller; Miéville betreibt hier Kunstgeschichte als B-Movie. Und: Als wären lebendige Kunstwerke noch nicht fantastisch genug, wirft der Autor auch noch einen beliebten Topos der Trash-Kultur in die Manege: die okkulten Machenschaften der Nazis.

So findet Mievilles Held Thibaut heraus, dass ein geheimes Experiment der Deutschen offenbar kurz vor dem Erfolg steht, der "Fall Rot". Zusammen mit der Fotografin Sam versucht er, die höllischen Pläne der Nazis zu durchkreuzen und das Schlimmste zu verhindern.
Okkulte Machenschaften der Nazis
In einem zweiten Handlungsstrang erzählt Miéville, wie es zur Explosion der sogenannten "S-Bombe" kommen konnte: 1941 ist der amerikanischer Satanist Jack Parsons, ein Schüler Aleister Crowleys, auf dem Weg nach Prag, um dort die Geschichte des Golems zu erforschen. In Marseille trifft er auf eine Gruppe von Surrealisten, die auf der Flucht vor den Nazis sind. Eine bloße Zufallsbekanntschaft, wenn es denn so etwas wie Zufall gäbe. Doch sie führt schließlich dazu, dass der eifrige Adept eine von ihm entwickelte okkulte Maschine mit der Energie der surrealistischen Fantasien auflädt.

"Vielleicht, so dachte Parsons, in den Vororten dieser unterdrückten Stadt, diesem Randgebiet eines Randgebiets, vielleicht könnte in diesem Moment, in einem Zimmer voller Staatenloser, in einem Land, aus dem sie fliehen wollten, vielleicht könnte hier, wo sie alberne Spiele spielten, um den Massenmördern eine lange Nase zu drehen, vielleicht könnte jene Maschine, die er gebaut hatte, um einen Mann aus Lehm mithilfe der Mathematik wandeln zu lassen, um Worte und Zahlen lebendig zu machen, in das Geschehen eingreifen zu lassen, vielleicht könnte jene Maschine hier aus anderen Quellen schöpfen."
Lebendige Kunstwerke gegen satanistische Nazis: An der Oberfläche bedient diese Konfrontation den gängigen Trend zu absurden Genre-Mash-ups à la "Cowboys und Aliens". Doch dahinter liegt ein tieferer Konflikt, der mit einer besonderen Eigenschaft der Kunst zu tun hat – sie lässt sich nicht berechnen oder beherrschen. Denn während selbst noch die Teufel, die von den Nazis im Roman aus der Hölle beschworen werden, die Regeln und Verträge der okkulten Wissenschaft einhalten müssen, sind die Schöpfungen der Surrealisten an keine Gesetzmäßigkeiten gebunden. Die Manifestationen, die in Neu-Paris entstehen und vergehen, folgen ihrer eigenen Spur, das macht ihre Fremdartigkeit aus. Umso größer das Erstaunen bei Thibaut und Sam, als sie einen unwahrscheinlichen Verbündeten finden, einen wandelnden "köstlichen Leichnam". So bezeichneteten die Surrealisten eine ihrer bekanntesten Techniken, bei der eine Zeichnung aus verschiedenen Teilen entsteht, deren Schöpfer und Schöpferinnen jeweils nicht sehen, was die anderen bereits gezeichnet haben.
Begegnung mit einem "köstlichen Leichnam"
"Ein hoch aufragendes, schwankendes Ding. Es steht da wie jemand, der eine schwere Last trägt, schwankend auf zwei dünnen Beinen. Der Rumpf besteht aus umrisshaft sichtbaren Metallstücken, industrieller Ausschuss. Darüber eine schräggestellte Werkbank, die wie ein Amboss aussieht, und Maschinenteile, die Thibauts Kopf überragen. Er blickt auf und starrt auf eine Säule aus Fetischobjekten. Ein Schraubstock auf Motorteilen auf geduldigen Menschenfüßen. Ganz oben das übergroße bärtige Gesicht, das ihn mit finsterer Neugier anblickt. In seinem Bart ein Dampfzug von der Größe eines Knüppels, der Schornstein der Lokomotive bläst Rauch in das Haargestrüpp. Ein absichtsloses Ganzes, vom Zufall vernähte Teile."
Im letzten Satz dieser Beschreibung hat China Miéville auch ein Selbstporträt seines Romans versteckt: Die programmatische Ästhetik der vom Zufall vernähten Teile liefert einen Schlüssel zum wüsten Mix der Versatzstücke in diesem Buch. Leider tut sich der deutsche Literaturbetrieb immer noch schwer mit solchen vielschichtig fantasievollen "köstlichen Leichnamen" der Literatur. Daher erscheint "Die letzten Tage von Neu-Paris" hierzulande auch nur in einem Nischenverlag, der sich auf Fantastik spezialisiert hat.
Im Innern der Fantasien liegt ein revolutionärer Kern
Der Trash-Appeal dieses Romans kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bei Miéville immer auch um ernste Fragen geht. Denn für den bekennenden Sozialisten ist Literatur keine l‘art pour l‘art, ganz im Gegenteil. Im Innern seiner ausufernden Fantasien liegt ein revolutionärer Kern verborgen, um den es auch den Surrealisten ging. In diesem Kosmos der Unwahrscheinlichkeiten ist vielleicht die Literatur das Unwahrscheinlichste von allem.
China Miéville: Die letzten Tage von Neu-Paris.
aus dem Englischen von Andreas Fliedner
Golkonda Verlag, München. 252 Seiten, 18 Euro.