Die staatlichen Strom- und Gaspreisbremsen werden nicht mehr bis März 2024 verlängert, sondern zum Jahresende auslaufen. Das bestätigte Bundesfinanzminister Christian Linder (FDP) im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Denn der Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds, aus dem die Energiehilfen bisher finanziert werden, steht nicht mehr zur Verfügung.
„Zum 31.12. dieses Jahres wird der Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds geschlossen. Es werden daraus keine Auszahlungen mehr erfolgen", so Lindner. Auch die Strom- und Gaspreisbremse müssten zum Jahresende auslaufen. Als Begründung nannte der Bundesfinanzminister die neue Rechtslage, die durch das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts am 15. November entstanden ist.
Ob damit auch die Absenkung der Netzentgelte für kommendes Jahr wegfällt, ließ Lindner offen. In jedem Fall sei eine Finanzierung aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds nicht mehr möglich, alles weitere müsse nun im Haushaltsverfahren für 2024 geklärt werden.
Haushaltsberatungen 2024 werden sehr schwierig
Ob der Haushalt 2024 noch in diesem Jahr beschlossen werden kann, ist laut Lindner offen. Der Finanzminister sprach von einem sehr „ambitionierten Fahrplan“, bei dem einiges auf die Ampelkoalition zukomme. Beispielsweise müssten Zinsausgaben, die bislang durch den Wirtschaftsstabilisierungsfonds gezahlt wurden, künftig aus dem Bundeshaushalt geleistet werden. Lindner sprach in diesem Zusammenhang von einem zweistelligen Milliarden-Euro-Betrag.
Gleichzeitig stellte der Finanzminister aber klar, dass die Verdopplung der Hilfen für die Ukraine von vier auf acht Milliarden Euro kommen werde. „Die Unterstützung der Ukraine steht nicht infrage“, betonte der Finanzminister. Gleichzeitig kündigte Lindner strukturelle Entscheidungen an. Finanzhilfen an Industrieunternehmen müssten durch eine Reduzierung von Ausgaben an anderer Stelle kompensiert werden. Ausdrücklich nannte Lindner an dieser Stelle die Sozialausgaben.
Keine Reform der Schuldenbremse
Eine neuerliche Aussetzung der Schuldenbremse auch 2024 wollte Lindner zwar nicht kategorisch ausschließen, formulierte aber deutlich seine Vorbehalte: Das sei sehr begründungspflichtig. Zumal das Bundesverfassungsgericht die Begründungspflicht für Notlagen inzwischen präzisiert habe.
Eine Reform der Schuldenbremse wie von SPD und Grünen gefordert lehnte Lindner erneut ab: Der Staat habe kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem. "Wir haben ein Problem damit, Prioritäten zu setzen und effektiver mit den Staatseinnahmen umzugehen", führte Linder aus. "Und aus dem Grund geht es aus meiner Sicht darum, nicht immer mehr Geld auszugeben, sondern intelligenter, smarter, mit den bestehenden Mitteln umzugehen."
Das Interview im Wortlaut
Jörg Münchenberg: Das historische Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den Corona-Hilfen in der letzten Woche hat ein politisches Erdbeben ausgelöst und fast täglich, muss man sagen, gibt es neue Erschütterungen. Ein Ende ist nicht absehbar. Und im Mittelpunkt dieses Bebens, politisch gesehen, steht nicht zuletzt Finanzminister Christian Lindner, FDP, der mir jetzt an diesem Freitagnachmittag, an dem wir dieses Interview im Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks aufzeichnen, gegenübersitzt.
Herr Lindner, der laufende Haushalt 2023 muss korrigiert werden. Zwei zentrale Schuldentöpfe, der Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds und der Klimatransformationsfonds, haben – ich sage es mal salopp – massive Probleme. Die Verabschiedung des Haushalts 2024 steht auf der Kippe. Hatten Sie eigentlich, persönlich gefragt, in diesen Tagen nicht manchmal auch ein bisschen die Sorge, das ganze Verfahren könnte Ihnen sozusagen entgleiten?
Lindner: Wir haben es mit einer ganz besonders herausfordernden Situation zu tun. Das Verfassungsgericht hat sich ja erstmals umfassend mit der Schuldenbremse auch im Zusammenhang mit sogenannten Sondervermögen beschäftigt. Es ging mithin nicht nur um den Klima- und Transformationsfonds und den zweiten Nachtragshaushalt für 2021. Dagegen hatte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion geklagt.
Das Urteil hat aber einen viel grundsätzlicheren Charakter und deshalb sind die Konsequenzen ebenfalls grundsätzlicherer Natur. Das musste sorgfältig geprüft werden, und wir ziehen jetzt die Konsequenzen. Mein Anliegen ist: reinen Tisch machen.
Historisches Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Münchenberg: Trotzdem hatte man den Eindruck, die Ampel hat erst mal gar nicht die Dimension dieses Urteils erfasst, denn es hat ja schon eine Weile gedauert und dann wurde immer was hinterhergeschoben an Maßnahmen, wie man jetzt reagieren muss.
Lindner: Es musste sorgfältig geprüft werden. Es ist – wie Sie selbst gesagt haben – ein in dem Sinne historisches Urteil, dass die Staatspraxis angepasst wird. Das sieht man daran, dass nicht nur die Fonds, die von der Union angegriffen worden sind, korrekturbedürftig sind. Sondern auch von der Vorgängerregierung politisch völlig unstrittig eingeführte Fonds müssen jetzt rechtssicher aufgestellt werden. Ich nenne als ein Beispiel den Aufbauhilfefonds, der 2021 von der Vorgängerregierung für die Unterstützung der Opfer des Ahr-Hochwassers eingerichtet worden ist. Der ist mit diesem Urteil auch rechtlich infrage gestellt. Und daraus ziehen wir Konsequenzen.
Münchenberg: Nun wird der Haushalt 2023, wird die Schuldenbremse ausgesetzt faktisch. Man wird die Notlage feststellen. Ist das nicht auch für Sie als Finanzminister, dessen Markenkern ja auch eben die Bewahrung der Schuldenbremse ist, ist das nicht beruflich Ihre größte Niederlage?
Lindner: Das würde ich nicht so sagen. Wir haben jetzt ja erst Rechtsklarheit. Mit dem Wissen von heute wäre der Wirtschaftsstabilisierungsfonds für die Strom- und Gaspreisbremse anders konzipiert worden. Die Idee war ja, wir stellen einen Abwehrschirm auf mit bis zu 200 Milliarden Euro Kreditermächtigung. Dieser Abwehrschirm hat eine Laufzeit von Ende 2022 bis zur Jahresmitte 2024. Und hinter diesem Abwehrschirm schützen wir die Strukturen der deutschen Wirtschaft und den Bundeshaushalt.
Jetzt hat Karlsruhe geurteilt, dass man einen solchen Fonds für eine Notlage in jedem Jahr neu begründen muss. Das holen wir jetzt nach. Man muss noch mal klar sagen, damit sind keine zusätzlichen Schulden verbunden, sondern wir – vereinfacht gesagt – verändern einen Buchungsvorgang, um einen verfassungsmäßigen Zustand herzustellen, um der neuen Rechtslage, der neuen Auslegung der Schuldenbremse – so will ich besser sagen – durch das Verfassungsgericht Rechnung zu tragen.
„Die deutsche Schuldenquote sinkt seit 2021 stetig“
Münchenberg: Trotzdem, das ist jetzt alles sehr technisch, natürlich sachlich auch vollkommen richtig, aber meine Frage zielte auch mehr auf die politische Dimension. Also da bleibt auch was an Ihnen als Finanzminister hängen.
Lindner: Wir haben jetzt eine neue Rechtsklarheit. Die bestand vorher nicht. Und deshalb lasse ich mich daran messen, wie wir mit dieser neuen Situation umgehen, und zwar in doppelter Hinsicht. Wie wir das, was ich auch vorgefunden habe von Vorgängerregierungen und was diese Regierung für Entscheidungen getroffen hat, wie wir das auf eine verfassungssichere, neue Grundlage stellen. Das ist das Erste. Und das Zweite wird dann sein, ob wir den Konsolidierungskurs in den Staatsfinanzen fortsetzen können. Da haben wir ja große Fortschritte erzielt. Die deutsche Schuldenquote sinkt seit 2021 stetig. Daran, an dem, was also jetzt mit der Lage gemacht wird, daran wird die Regierung zu messen sein.
Münchenberg: Haben Sie nicht trotzdem auch die Sorge, dann eben in der nächsten Woche wird das Kabinett das beschließen, diesen Nachtragshaushalt und die Aussetzung der Schuldenbremse … wobei interessanterweise Sie ja das Wort nicht in den Mund nehmen wollen. Das habe ich von Ihnen jetzt auch nicht gehört, dass Sie sagen, wir haben einen neuen Notstand, Aussetzung der Schuldenbremse.
Lindner: Na, wir haben keinen neuen Notstand in dem Sinne, dass wir jetzt Ende November die Situation haben. Nur, damit habe ich kein Problem, zu sagen, wir machen einen Nachtragshaushalt mit einem Notlagenbeschluss für dieses Jahr. Wir holen das nach, was wir Anfang 2023 gemacht hätten, wenn wir die Rechtslage, wenn wir die neue Rechtsklarheit gehabt hätten.
Münchenberg: Aus der Union heißt es aber jetzt schon, das ist trotzdem ein gewagtes rechtliches Manöver, dass man jetzt sozusagen feststellt, was man aber eben Ende 2022, Anfang 2023 nicht feststellen wollte.
Lindner: Wir haben Ende 2022 die Notlage festgestellt. Wir haben sie deshalb 2023 nicht noch einmal erneut festgestellt, weil wir davon ausgehen konnten zum damaligen Zeitpunkt, dass der getroffene Notlagenbeschluss und die damit geschaffenen Kreditermächtigungen in diesem Jahr genutzt werden können. Das ist nicht der Fall. Und jetzt müssen wir auf die neue Rechtsklarheit reagieren. Dass dies eine Möglichkeit ist, hat der von der CDU/CSU selbst ernannte Sachverständige in der Anhörung zum Haushalt ja neulich auch dargetan.
„Wir reagieren jetzt auf die neue Staatspraxis“
Münchenberg: Also, Sie haben jetzt nicht die Sorge, dass noch mal gegen diesen Beschluss geklagt wird?
Lindner: Die CDU/CSU ist ja frei. Aber was ist denn die Alternative, um einen verfassungsgemäßen Zustand herzustellen? Sollen wir die Strom- und Gaspreisbremse rückabwickeln und alle Stromrechnungen dieses Jahres wieder neu aufnehmen mit den Problemen für die privaten Haushalte und die Betriebe?
Münchenberg: Das wäre ja nicht das Problem der Union. Das ist ja Ihr Problem.
Lindner: Nein, aber ich will ja nur zum Ausdruck bringen, dass wir jetzt wissen, nach dem Urteil, Dinge müssen anders gemacht werden. Also, wir reagieren jetzt auf die neue Staatspraxis, denn man kann nicht einen verfassungswidrigen Zustand bestehen lassen. Es gehört gewissermaßen auch zu meinem Amtseid, wenn man weiß, hier ist etwas nicht in Ordnung, das zu beseitigen. So, die Alternative, man holt die gut 40 Milliarden Euro wieder zurück von den Bürgerinnen und Bürgern, aus den Betrieben. Ja, aber wir erinnern uns doch die Situation. Das war ja nicht eine fixe Idee, sondern es gab ja die Probleme Anfang dieses Jahres bei Strom und Gas.
Zweite Variante könnte sein, man akzeptiert es einfach, wie es jetzt ist und sagt, ja, hier der Zustand ist nicht verfassungsgemäß, wir tun nichts. Nein, das kann nicht sinnvoll sein. Die Regierung tut jetzt alles, um – wie man im öffentlichen Recht sagt – um den Zustand zu heilen durch neue Beschlüsse, durch Konsequenzen, von denen wir der Überzeugung sind nach intensiver Arbeit der Fachebenen, dass damit der Zustand überwunden wird.
„Strom- und Gaspreisbremse laufen aus“
Münchenberg: Was heißt das denn eigentlich für den Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds? Der kann ja eigentlich nicht mehr genutzt werden. Es gibt eine Ausgabensperre. Also, was passiert mit diesem Sondertopf?
Lindner: Zum 31.12. dieses Jahres wird dieser Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds geschlossen. Es werden also im nächsten Jahr keine Auszahlungen mehr daraus erfolgen.
Münchenberg: Das heißt, auch keine staatlichen Hilfen für Strom- und Gaspreisbremsen, weil die ja noch bis März des nächsten Jahres eigentlich aus diesem Topf finanziert werden sollten?
Lindner: Strom- und Gaspreisbremse laufen aus. Die werden ebenfalls zum 31.12. beendet werden müssen.
Münchenberg: Heißt der Staat wird nicht beispringen, wenn jetzt die Energiepreise durch die Decke gehen sollten, was wir alle nicht wissen, weil wir nicht wissen, wie der Winter wird?
Lindner: Davon ist nicht auszugehen. Solche Fragen sind dann zu beantworten, wenn sie sich in der Realität stellen. Deshalb will ich darüber gar nicht spekulieren. Aber Sie sprechen genau ja den Kern des Urteils an. Es ist nicht davon auszugehen, dass wir Anfang des nächsten Jahres eine Notlage bei Strom, Gas und der ökonomischen Tragfähigkeit haben. Also ist davon auszugehen, dass es keine Begründung für eine Notlage gibt. Wäre es anders, sind dann Entscheidungen zu treffen.
Aber was wir wissen, ist, dass es Ende letzten Jahres und in diesem Jahr diese ominösen Preisspitzen gab. Und deshalb vollziehen wir das nach. Aber für die Zukunft können wir nur sagen, die jetzige Situation, wie wir sie im nächsten Jahr erwarten, erlaubt aus Gründen der Strom- und der Energiepreise keinen Notlagenbeschluss.
Münchenberg: Das heißt aber auch, um diesen Punkt noch zu schließen, denn daraus sollte ja auch die Absenkung der Netzentgelte bezahlt werden, aus diesem Topf. Auch diese Absenkung fällt nächstes Jahr flach?
Lindner: Jedenfalls wird eine Finanzierung aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds dafür nicht möglich sein. Über alles Weitere muss im Zusammenhang mit dem Haushalt 2024 dann regulär beraten werden.
Haushalt 2024 bis Ende 2023 beschließen: „sehr ambitionierter Fahrplan“
Münchenberg: Eigentlich sollte der Haushalt 2024 ja in der nächsten Woche im Bundestag beraten werden, beschlossen werden. Das liegt jetzt erst mal auf Eis. Ist es realistisch, dass dieser Haushalt noch in diesem Jahr abschließend auf den Weg gebracht werden kann?
Lindner: Das ist der Wunsch der Koalitionsfraktionen.
Münchenberg: Auch Ihrer?
Lindner: Ich will das gerne mit meinen Möglichkeiten auch realisierbar machen. Dazu ist aber sehr viel Arbeit zu leisten. Politische Entscheidungen müssen getroffen werden. Es müssen auch technische Umsetzungen erfolgen. Das ist ein sehr ambitionierter Fahrplan. Wenn es gewünscht ist, werden wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das auch so realisiert wird. Aber da kommt einiges auf uns zu, denn der Konsolidierungsbedarf ist größer.
Dieses Reinen-Tisch-Machen, ich sagte es schon, betrifft ja auch lange in der Vergangenheit liegende Entscheidungen, Entscheidungen der Vorgängerregierungen, die jetzt korrigiert und in den Haushalt eingearbeitet werden müssen. Teilweise mit Kostenfolgen. Der Wirtschaftsstabilisierungsfonds, im nächsten Jahr wäre er noch zur Verfügung gestanden, der hat beispielsweise Zinsausgaben, die jetzt in den Bundeshaushalt eingearbeitet werden müssen.
Münchenberg: Um wie viel Geld geht es da?
Lindner: Um zweistellige Milliarden-Euro-Beträge.
Münchenberg: Das heißt, das sind Beträge, die sind eben noch gar nicht berücksichtigt jetzt im Etat-Entwurf 2024?
Lindner: Der muss nun überarbeitet werden.
„Unterstützung der Ukraine steht politisch nicht infrage“
Münchenberg: Was ist denn zum Beispiel auch jetzt mit der geplanten Anhebung der Hilfen für die Ukraine? Das war ja ursprünglich geplant von vier auf acht Milliarden das anzuheben. Ist das trotzdem noch weiter auf dem Tableau oder wird auch darüber jetzt nachgedacht, weil der Konsolidierungsdruck so groß ist?
Lindner: Ich habe mir eigentlich vorgenommen, jetzt noch nicht öffentlich über den Haushalt 2024 in irgendeiner Hinsicht zu sprechen, weil wir erst einmal wieder den Haushalt 2023 aufstellen müssen und dann auch wissen, was ist die Eröffnungsbilanz jetzt für das Jahr 2024. Aber ich weiche an dem einen Punkt von meinem Vorsatz ab. Die Unterstützung der Ukraine, die steht politisch nicht infrage.
Münchenberg: Sie haben vorhin schon gesagt, in den neuen Etat 2024 müssen jetzt auch diese Zinszahlungen aus dem WSF dazugebucht werden, die man vorher noch nicht auf dem Schirm hatte. Können Sie trotzdem mal eine Ahnung geben davon, wie groß dieser Konsolidierungsbedarf, also diese Lücke, die man da schließen muss jetzt mit dem 2024er Haushalt, wie groß die ist, nachdem 60 Milliarden fehlen?
Lindner: Das muss man unterscheiden. Die 60 Milliarden fehlen ja für den Klima- und Transformationsfonds bis zum Jahr 2027. Also, das ist eine Zahl, die ist bis 2027, steht sie jetzt nicht mehr zur Verfügung. Das war übrigens eine Rücklage. Das bedeutet, das Geld ist nicht ausgegeben worden, sondern das war eine Reserve, untechnisch gesprochen. Also, es war eine Rücklage. Das wird dort ausgebucht, sodass geplante Ausgaben in der Zukunft im Jahr 2026 jetzt neu dargestellt werden müssen. Da muss neu geprüft werden, wie diese gewünschten Vorhaben in der Zukunft erreicht werden können.
Auf der anderen Seite haben wir den Bundeshaushalt mit seinen Konsolidierungsbedarfen. Sie hatten gerade das Beispiel Ukraine, eine Mittelverstärkung, die vorgenommen worden ist. Wir haben jetzt die Folgen der Urteile, die eingearbeitet werden müssen. Und das begründet einen Bedarf an Maßnahmen in der Größenordnung einer zweistelligen Milliardenzahl, die wir erreichen müssen. Und es wird unvermeidlich sein, auch strukturelle Entscheidungen zu treffen. Man kann also nicht einfach sagen, man greift in einen Topf und reduziert den. Nein, da müssen jetzt strukturelle Entscheidungen getroffen werden.
Münchenberg: Ist der zweistellige Milliardenbetrag eher im unteren oder im oberen Bereich oder in der Mitte?
Lindner: Ja, also, es ist eine Eins davor, ja.
Münchenberg: Okay, eine Eins.
Lindner: Also, wir reden nicht über … also, es ist aber genug, ja.
Münchenberg: Ja. Der Wirtschaftsminister trommelt jetzt trotzdem in den letzten Tagen und eigentlich auch die ganze Zeit, muss man ja fast sagen, dafür, dass man sagt, die Gelder, die fehlen jetzt im nächsten Haushalt, die müssen irgendwie alternativ mobilisiert werden. Eigentlich darf auf kein Projekt, was da geplant ist, verzichtet werden – gerade auch für grünen Umbau der Industrie. Bei der SPD, muss man sagen, klingt das ja durchaus ähnlich. Ist das aus Ihrer Sicht realistisch? Ist das machbar?
Lindner: Ich halt es für möglich, dass wir die Ziele, die wir uns gesetzt haben und die Vorhaben, die gewünscht werden, dass wir die tatsächlich finanziell abbilden bis 2027, und um den Zeitraum geht es ja. Das halte ich für möglich. Das setzt aber voraus, dass wir die Kraft finden, unsere Etats der nächsten Jahre anders zu konzipieren.
Kurz gesagt, wer für diese Investitionsvorhaben, wer dafür Mittel gewinnen will, wer Finanzhilfen zahlen will an Industrieunternehmen, der muss auf der anderen Seite mitwirken dabei, andere Aufgaben zu reduzieren, die Treffsicherheit unseres Staates zu erhöhen, die Effektivität der Staatsausgaben zu verbessern, sodass man mit weniger Geld an anderer Stelle trotzdem wirksamer arbeiten kann.
Münchenberg: Zum Beispiel?
Lindner: Zum Beispiel haben wir wachsende Sozialausgaben und je besser es gelingt, Menschen, die heute Bürgergeld beziehen, in den Arbeitsmarkt zu integrieren, desto höhere Einsparungen im Sozialetat sind möglich. Übrigens hat das nichts zu tun mit einer Politik des sozialen Kahlschlags, sondern im Gegenteil. Nach meiner Überzeugung ist das Sozialste, was man tun kann, Menschen in die Teilhabe am Arbeitsmarkt zurückzuführen oder erstmalig zu integrieren. Das hat einen doppelten Nutzen, nämlich einerseits verbessert man die Lebenschancen für Menschen und andererseits reduziert man die finanzielle Belastung im Staatshaushalt. Hier ist jetzt neues Denken gefragt.
Münchenberg: Die Union hat ja auch gefordert, dass man zum Beispiel auf die Anhebung des Bürgergeldes verzichten soll. Ist das ein Vorschlag, wo Sie sagen, da gehen Sie mit d’accord?
Lindner: Dieser Vorschlag ist rechtlich alleine hochproblematisch, und deshalb muss man das, was sich vielleicht im ersten Moment populär anhört, einer kritischen Prüfung unterziehen. Ich weiß, wovon ich rede, wenn ich jetzt über Rechtsfragen spreche.
Wir haben den Regelsatz der Grundsicherung und der wird ja nicht politisch festgelegt, sondern dahinter steht ja ein Verfahren. Und gegenwärtig haben wir eine starke Inflationsentwicklung, gerade auch bei den Lebensmittelpreisen, die bei Grundsicherungsempfängern ja bei ihrem Lebensunterhalt eine höhere Rolle spielen als bei einem Gutverdiener. Und deshalb kommt diese Anpassung.
Ich bin absolut einverstanden, wenn man prüft, ob der Abstand zwischen Sozialleistung und einem Arbeitseinkommen noch groß genug ist, ob das fair ist. Da bin ich absolut dabei. Aber das kann man nicht einfach so übers Knie brechen und aus Kostengründen einfach auf eine Erhöhung verzichten. Das eben wäre eine sehr strukturell angelegte Reform der Baustelle und nichts, was man zwischen Tür und Angel entscheiden kann. Aber diese Fragen müssen wir stellen.
Münchenberg: Die Grünen fordern ja auch jetzt schon einen Nachtragshaushalt für 2024. Ist das für Sie ein gangbarer Weg? Mit der Begründung zum Beispiel Aussetzung Schuldenbremse wegen des Kriegs im Nahen Osten.
Lindner: Jetzt bin ich nicht über jede einzelne Forderung der Grünen informiert.
Münchenberg: Der Vorschlag liegt ja schon seit Längerem im Raum.
Lindner: Ja, aber einen Nachtragshaushalt für 2024 zu fordern, bevor ein Haushalt 2024 vorliegt, davon kann ich nur in jeder Hinsicht, politisch wie rechtlich, abraten, denn man kann nicht einen Haushalt beschließen und gleichzeitig ankündigen, war gewissermaßen nur Spaß, wir müssen alles wieder ändern mit einem Nachtragshaushalt. Die Forderung der Aussetzung der Schuldenbremse 2024: Ich will ja mich erst mal intern beschäftigen, innerhalb des Kabinetts, mit dem Haushalt 2024. Deshalb kann ich nur abstrakt darauf hinweisen, dass das sehr begründungspflichtig ist.
Münchenberg: Aber Sie schließen es faktisch nicht aus?
Lindner: Aber nur, weil ich mich nicht zum Haushalt 2024 äußern will. Und deshalb will ich weder was Positives noch Negatives dazu sagen, sondern nur darauf hinweisen, dass das Verfassungsgericht die Begründungspflicht für Notlagen präzisiert hat. Und das ist Gott sei Dank nichts, was in das Belieben der Bundesregierung oder des Haushaltsgesetzgebers gestellt ist, wenngleich er einen Ermessensspielraum hat und einen Entscheidungsspielraum hat. Aber es ist nicht eine völlig freie Entscheidung.
Reform der Schuldenbremse „nicht erforderlich“
Münchenberg: Reform der Schuldenbremse, dazu bräuchte man die Union. Wobei wir jetzt eine andere Gefechtslage haben, sage ich mal. Der Druck aus den Ländern ist enorm gestiegen im Zuge dieses Urteils. Auch zum Beispiel der Berliner Bürgermeister, Herr Wegner, hat auch schon gesagt, wir müssen da ran. Also, auch da gibt es jetzt ganz andere neue Signale. Also, gäbe es vielleicht sogar eine politische Mehrheit, tatsächlich da ranzugehen? Würden Sie das mittragen?
Lindner: Ich sehe diese Mehrheit nicht. Ich halte es in der Sache aber auch nicht für erforderlich. Wir haben kein Einnahmeproblem. Wir werden bald die Marke von einer Billion Euro Staatseinnahmen passieren. Wir haben ein Problem damit, Prioritäten zu setzen und effektiver mit den Staatseinnahmen umzugehen. Und aus dem Grund geht es aus meiner Sicht darum, nicht immer mehr Geld auszugeben, sondern intelligenter, smarter mit den bestehenden Mitteln umzugehen.
Es kommt hinzu, dass das Gros der Investitionen in Deutschland ja private Investitionen sind. Da können wir mehr erreichen. Da können wir mehr Kapital mobilisieren, wenn wir als Wirtschaftsstandort insgesamt attraktiver werden. Stichwort Bürokratismus, Fachkräfte, Dauer von Planungs- und Genehmigungsverfahren und übrigens auch Steuersätze.
Münchenberg: Also, mit anderen Worten, die FDP wird das auch nicht mittragen?
Lindner: Nein. Es ist in der Sache nicht notwendig, weil wir kein Einnahmeproblem haben, sondern weil wir auf der Ausgabeseite Probleme haben. Es ist in dieser ökonomischen Situation, wo wir mit Inflation zu tun haben, auch nicht nachhaltig. Wir zahlen ja als Staat inzwischen höhere Zinsen und dementsprechend bedeutet mehr Verschuldung eine höhere Zinslast und höhere Tilgungsverpflichtungen in der Zukunft.
Wenn man das also so weiter fortsetzen würde, wir machen immer mehr Schulden, ganz expansive Finanzpolitik, dann ist nicht auszuschließen, dass wir in wenigen Jahren die Steuerlast erhöhen müssten, nur, um den Kapitaldienst, also Zins und Tilgung, für Vorhaben der Vergangenheit zu leisten. Da würden wir unseren Staat ökonomisch strangulieren. Deshalb kann man nur abraten.
„Die FDP leistet einen Beitrag in der Regierung“
Münchenberg: Nun ist es ja so, Herr Minister, auf der einen Seite hat die Ampel jetzt ein großes Problem, weil diese zwei Sonderfonds - der eine wird geschlossen, haben Sie gesagt, der andere wird deutlich kleiner. Das heißt, man muss von bestimmten Projekten vielleicht auch Abstand nehmen. Sie haben auch gesagt, da kommt einiges auf die Ampel zu. Auf der anderen Seite hat die FDP Druck. Es gibt eine Mitgliederbefragung. Da geht es darum: Soll die FDP überhaupt in der Ampel bleiben? Also, ich stelle mir die Frage: Was hält diese Koalition überhaupt noch zusammen? Wo ist der Kit, weil das Geld jetzt weg ist? Und auf der anderen Seite kriegen Sie noch Druck von der Basis.
Lindner: Ich mache mir jetzt momentan nicht überwiegend parteipolitische Gedanken, sondern es ist jetzt eine Aufgabe und letztlich auch eine Frage der Ehre, dass wir jetzt zu verfassungsrechtlich gesicherten Verhältnissen zurückkehren. Und wenn wir das haben, können wir danach auch über unsere gemeinsamen politischen Ziele in der Bundesregierung, in der Koalition wieder sprechen und andere Wege zu unverändert richtigen Zielen finden. Ist ja nichts falsch daran, dass wir den Gehalt unserer Industrienation unter den Gesichtspunkten des Klimaschutzes erhalten wollen, dass wir wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit stärken wollen, die enormen Bedarfe an Investitionen, zum Beispiel Straße, Schiene, digitale Netze, Bildung, Forschung stärken und so weiter und so fort.
Für diese als richtig erkannten Ziele müssen wir mitunter jetzt neue Wege finden. Was jetzt die FDP angeht, kann ich nur sagen, wir leisten ja unseren Beitrag, die Richtung auch der Regierungspolitik mitzubestimmen. In unserem Gespräch kamen wir ja schon auf ein paar Punkte. Ohne die freien Demokraten würden SPD und Grüne fraglos sofort die Schuldenbremse aufweichen wollen. Ist ja Gegenstand der Parteitage. Es wird seitens SPD und Grünen fortwährend gerufen nach Steuererhöhungen.
Was machen wir stattdessen? Wir senken die Steuerlast. Zum 01.01. nächsten Jahres steigt ja etwa der steuerfreie Grundbetrag bei der Lohn- und Einkommensteuer. Das heißt, ja, aber das ist das, was ich meiner Parteibasis auch sage. Die FDP leistet einen Beitrag in der Regierung und das ist eine andere Regierungspolitik als ohne uns.
Münchenberg: Aber die Wähler scheinen das ja auch nicht so richtig zu guttieren. Insofern werden Sie da von zwei Seiten sozusagen in die Zange genommen, von der Basis und vom Wähler.
Lindner: Ich bin zehn Jahre Parteivorsitzender mit all den Aufs und Abs, die es da gegeben hat. Jedenfalls wir man nicht Zustimmung bei liberal denkenden Menschen gewinnen, wenn man den Eindruck erweckt, es ginge einem nur um sich selbst und das eigene Parteiinteresse. Jetzt lösen wir erst mal akute Probleme und bringen dann die Modernisierungsvorhaben, die richtig und wichtig sind, auf den Weg. Und dann werden die Bürgerinnen und Bürger 2025 urteilen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.