Montag, 04. Dezember 2023

Finanzpolitik
Zweifel an der Schuldenbremse wachsen

Verteidigung, Klimaschutz, Infrastruktur - Politik und Experten sehen großen Investitionsbedarf in Deutschland. Doch nicht nur das Urteil des Bundesverfassungsgerichts weckt Zweifel, ob das mit der Schuldenbremse geht. Die Kritik an ihr nimmt zu.

03.12.2023

    Blick auf die "Schuldenuhr" des Bundes der Steuerzahler Deutschland in Berlin. Die Digitaluhr zeigt in roten Zahlen eine 13-stellige Summe an.
    Die "Schuldenuhr" in Berlin zeigt an, dass die Schulden der Bundesrepublik Deutschland am 24. August 2023 bei mehr als 2,5 Billionen Euro lagen. In jeder Sekunde kommen demnach 3,81 Euro hinzu. (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Seit 2009 steht die Schuldenbremse im Grundgesetz. Die maximal zulässige strukturelle Nettokreditaufnahme für den Bund ist demnach auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes begrenzt. Für die Länder gelten laut Grundgesetz ebenfalls scharfe Regeln. Die damalige große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) setzte die Schuldenbremse mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit durch. Grüne und Linke stimmten dagegen, die FDP enthielt sich.
    Von Anfang an gab es Kritik an den Schuldenregeln. Gewerkschaften, Teile der SPD, aber auch Wissenschaftler monierten, dass die Reform die finanziellen Spielräume der Parlamente in Bund und Ländern zu sehr einschränkt.
    Durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Mitte November hat die Debatte an Brisanz gewonnen: Die Richterinnen und Richter in Karlsruhe urteilten, dass die Umleitung von 60 Milliarden Euro an nicht benötigten Corona-Hilfen in den Klimafonds gegen die Schuldenbremse im Grundgesetz verstößt.
    Neben den Debatten über die konkreten Auswirkungen des Karlsruher Urteils auf Haushalt und Finanzen wird zunehmend auch grundsätzlich über die Schuldenbremse diskutiert. Unterdessen kündigte das Bundesfinanzministerium an, die Schuldenbremse für 2023 erneut aussetzen zu wollen.

    Inhalt

    Wie reagiert die Regierung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

    Wegen des Karlsruher Haushaltsurteils will die Ampel-Regierung in 2023 nun doch eine Sonderregelung nutzen, mit der die Schuldenbremse ausgesetzt werden kann. Zulässig ist dies laut Grundgesetz "im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen". Für die Jahre 2020 bis 2022 sah der Bundestag jeweils eine solche Notlage – zweimal aufgrund der Corona-Pandemie, 2022 zusätzlich wegen des Kriegs in der Ukraine. Nun soll der Bundestag für das Jahr 2023 ebenfalls eine außergewöhnliche Notlage erklären und einen Nachtragshaushalt verabschieden.
    Auf diesem Weg könnte die Bundesregierung Kredite nachträglich rechtlich absichern, die bereits genutzt wurden. Dazu muss die in diesem Jahr ohnehin schon geplante Neuverschuldung deutlich erhöht werden. Dabei geht es nach Angaben aus dem Finanzministerium um einen zusätzlichen Betrag von etwa 45 Milliarden Euro, der vor allem die Ausgaben des Energie-Krisenfonds WSF auf eine andere Grundlage stellen soll. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat auch Folgen für den WSF, den die Regierung 2022 mit Kreditermächtigungen von 200 Milliarden Euro ausgestattet hatte. Über den WSF werden insbesondere die Energiepreisbremsen finanziert.
    Durch den geplanten Nachtragshaushalt würde die Gesamtschuldenaufnahme für 2023 auf 85 bis 90 Milliarden Euro steigen. Noch ist offen, wie die Bundesregierung die erneute Notlage begründen will. Denkbar wäre ein Verweis auf die Folgen des Kriegs in der Ukraine, insbesondere die gestiegenen Energiepreise.

    Welche Kritik gibt es am neuerlichen Aussetzen der Schuldenbremse?

    Der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei (CDU), kritisierte das von der Bundesregierung geplanten Aussetzen der Schuldenbremse als „gewagtes rechtliches Manöver“.
    „Ich stelle es mir schwierig vor, dass man zu Beginn des Jahres nicht von einer Notlage spricht, wir allerdings die Grundlage dessen, was jetzt zur Grundlage einer Notlage werden soll, im Grunde genommen vor einem Jahr schon hatten“, sagte Frei im Deutschlandfunk. Frei ließ ausdrücklich offen, ob die Union noch einmal in Karlsruhe gegen den Haushalt klagen würde.
    Kritik kommt aber auch aus den Reihen der Partei von Finanzminister Christian Lindner. Ein erneutes Aussetzen der Schuldenbremse sei nur schwer vermittelbar, sagte FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Rechtlich sei eine erneute Aussetzung der Schuldenbremse zwar möglich, doch schaffe sie "erhebliche Vertrauensprobleme".

    Welche Kritik gibt es an der Schuldenbremse?

    Als „zukunftsfeindlich“ bezeichnete der Ökonom Peter Bofinger von der Universität Würzburg die Schuldenbremse. Man könne sehen, wie die Bremse „in unsere Zukunftsgestaltung einschneidet“. Als Beispiele nannte Bofinger notwendige Investitionen in Bahnmodernisierung, Gebäudesanierung und Halbleiterfabriken. Die Ausnahmeregel von der Schuldenbremse könne man wohl nur bei konkreten Krisen ziehen, nicht bei längerfristigen Entwicklungen wie dem Klimawandel.
    Jens Südekum, Ökonomie-Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, sagte: Durch das Urteil aus Karlsruhe sei die „Schuldenbremse maximal scharf gestellt“. Es werde jetzt die Frage sein, „ob sie der Realität überhaupt standhält“.
    Vergleich der Schulden von USA und EU-Staaten
    Vergleich der Schulden von USA und EU-Staaten (Statista)
    Der Forscher stellte die Frage, ob diese Schuldenbremse „einfach nicht mehr in diese Zeit passt, wo wir diese riesigen Herausforderungen vor uns haben, gerade im investiven Bereich“. Deutschland sei zudem „nie exzessiv verschuldet“ gewesen, sagte Südekum. Die Schuldenquote sei im internationalen Vergleich „sehr niedrig“. Die Verschuldung in den USA, Großbritannien und anderen Staaten sei wesentlich höher.
    Schuldenquote in ausgewählten Staaten
    Schuldenquote in ausgewählten Staaten (Statista)
    Aus den Reihen der Ampelkoalition machen sich die SPD und die Grünen für eine Lockerung der Schuldenbremse stark - zugunsten von mehr Investitionen. Nicht getätigte Investitionen seien die Schulden von morgen, argumentierte Grünen-Co-Chefin Ricarda Lang im Deutschlandfunk. Deutschland drohe im internationalen Vergleich abgehängt zu werden.
    Kritik kommt auch von mehreren SPD-Ministerpräsidentinnen. Die saarländische Regierungschefin Anke Rehlinger sagte, in der aktuellen Ausgestaltung erschwere die Bremse den Umbau des Wirtschaftsstandorts Deutschland.
    Ähnlich äußerte sich auch Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner - als erster CDU-Regierungschef. Die Schuldenbremse sei im Sinne solider Finanzen eine gute Idee. "Ihre derzeitige Ausgestaltung halte ich allerdings für gefährlich", erklärte Wegner auf der Plattform X (vormals Twitter) ebenso wie in einem Interview des Magazins "Stern". Mit seinem Vorstoß stellt sich Wegner auch gegen den Kurs von CDU-Bundeschef Friedrich Merz, der im Bundestag betonte, darüber werde nicht im Rathaus von Berlin entschieden. Fakt ist jedoch, dass auch die Länder ein Wort mitzureden haben – zum Beispiel 2009 bei der Verabschiedung der Schuldenbremse. Es gibt auch zunehmend kritische Töne von weiteren CDU-Länderchefs zur Schuldenbremse.

    Was sagen die Befürworter der Schuldenbremse?

    Der Volkswirt Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim sagte in einem „Capital“-Interview: „Die Schuldenbremse abzuschaffen, wäre eine fatale Lösung. Dann würden wir den nachfolgenden Generationen auch fiskalisch noch einen Scherbenhaufen hinterlassen.“
    Es gehe darum, die Schuldenbremse zu reformieren. „Vieles drängt in Richtung der Frage: Brauchen wir doch ein größeres Verschuldungsfenster und eine Ausweitung der Schuldenbremse?", so Heinemann. "Dafür braucht man aber eine Verfassungsänderung, so wie zuletzt geschehen beim Sondervermögen für die Bundeswehr.“
    Innerhalb der Regierungskoalition lehnen Bundesfinanzminister Lindner und seine FDP eine Reform der Schuldenbremse vehement ab. Der Staat habe kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem, sagte Lindner im Interview der Woche mit dem Deutschlandfunk.
    Auch die CDU im Bundestag spricht sich für Sparmaßnahmen und gegen eine Reform der Schuldengrenze aus. „Die Bundesregierung wird von uns jedenfalls keine Zustimmung bekommen, wenn sie ernsthaft vorschlagen sollte, die Schuldenbremse des Grundgesetzes zu lockern“, sagte Unions-Fraktionschef Friedrich Merz (CDU) im einem Interview mit „t-online“. Dafür gebe es keinerlei Rechtfertigung. Merz: „Die Ampel muss mit dem Geld auskommen, das im Bundeshaushalt vereinnahmt wird.“ Im Bundestag bekräftigte er diese Position.
    Um Haushaltslücken zu schließen, solle gespart werden, forderte CDU-Parteichef Merz, etwa bei Sozialausgaben. Konkret schlug Merz vor, auf die Kindergrundsicherung oder auf das höhere Bürgergeld zu verzichten.

    Welche Reformvorschläge gibt es?

    Angesichts der notwendigen gewaltigen Investitionen bis 2030 sagte der Wirtschaftsforscher Jens Südekum: „Ich bin für eine Reform der Schuldenbremse.“ Der Bundeshaushalt dürfte nicht viel restriktiver gestaltet werden „als in so ziemlich jedem anderen Land“.
    Zukunftsausgaben, also Investitionen, sollten kreditfinanziert werden dürfen. „Das ist die sogenannte goldene Regel der Haushaltspolitik und ist ökonomisch höchst vernünftig.“ Die Schuldenbremse sollte aus seiner Sicht für konsumtive Ausgaben des Staates gelten – also auch Transferzahlungen und Renten.
    Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) forderte, die Schuldenbremse um eine "grün-goldene Investitionsregel" zu ergänzen: "Ein zeitgemäßes Update der Schuldenbremse, das wäre nicht ihre Schwächung. (...) Es wäre ihre Stärkung", so Habeck im November auf dem Bundesparteitag der Grünen.
    In eine ähnliche Richtung zielt der Reformvorschlag von Berlins Regierendem Bürgermeister Wegner. Er unterstrich, dass er die Schuldenbremse nicht abschaffen wolle, sondern "zukunftsfest gestalten". Die Position des CDU-Politikers klingt ähnlich wie die von Wirtschaftsforscher Südekum: "Es darf Kredite ausschließlich für Investitionen geben - Kredite für konsumtive Ausgaben sind tabu."

    Wie wahrscheinlich ist eine Reform der Schuldenbremse?

    Im Bundestag zeichnet sich derzeit keine notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Änderung oder gar Abschaffung der Schuldenbremse ab. Die CDU/CSU als größte Oppositionsfraktion lehnt Änderungen an dieser Stelle im Grundgesetz bisher strikt ab. Offen ist, ob sich die Position der Union angesichts der kritischen Haltung mehrerer Ministerpräsidenten und des Streits zwischen Merz und Wegner ändert.
    Innerhalb der Ampel-Regierungskoalition dürfte eine Reform der Schuldengrenze am Widerstand der FDP scheitern. Bundesfinanzminister Lindner schloss im Dlf-Interview zwar eine abermalige Aussetzung der Schuldenbremse auch für 2024 nicht kategorisch aus, äußerte aber Vorbehalte: Dies sei sehr begründungspflichtig. Zumal das Bundesverfassungsgericht die Begründungspflicht für Notlagen inzwischen präzisiert habe.
    Laut einer aktuellen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF-"Politbarometer" ist auch eine Mehrheit der Bevölkerung gegen eine Reform der Schuldenbremse. Für eine Beibehaltung der geltenden Regelung sprachen sich demnach 61 Prozent der Befragten aus, nur 35 Prozent wollten die Schuldenbremse lockern, 4 Prozent antworteten mit "weiß nicht".

    tei/wwi