Sonntag, 28. April 2024

Finanzpolitik
Zweifel an der Schuldenbremse wachsen

Verteidigung, Klimaschutz, Infrastruktur: Politik und Experten sehen großen Investitionsbedarf in Deutschland. Doch nicht nur das Urteil des Bundesverfassungsgerichts weckt Zweifel, ob das mit der Schuldenbremse geht. Die Kritik an der Regelung nimmt zu.

02.02.2024
    Blick auf die "Schuldenuhr" des Bundes der Steuerzahler Deutschland in Berlin. Die Digitaluhr zeigt in roten Zahlen eine 13-stellige Summe an.
    Die "Schuldenuhr" in Berlin zeigt an, dass die Schulden der Bundesrepublik Deutschland am 24. August 2023 bei mehr als 2,5 Billionen Euro lagen. In jeder Sekunde kommen demnach 3,81 Euro hinzu. (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Seit 2009 steht die Schuldenbremse im Grundgesetz. Die maximal zulässige strukturelle Nettokreditaufnahme für den Bund ist demnach auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes begrenzt. Für die Länder gelten laut Grundgesetz ebenfalls scharfe Regeln. Die damalige Große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) setzte die Schuldenbremse mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit durch. Grüne und Linke stimmten dagegen, die FDP enthielt sich.
    Von Anfang an gab es Kritik an den Schuldenregeln. Gewerkschaften, Teile der SPD, aber auch Wissenschaftler monierten, dass die Reform die finanziellen Spielräume der Parlamente in Bund und Ländern zu sehr einschränkt.
    Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2023 über eine Klage der Unionsfraktion hat die Debatte an Brisanz gewonnen: Das höchste deutsche Gericht entschied, dass der Bund sich Notlagenkredite nicht für spätere Jahre auf Vorrat zurücklegen darf.
    Neben den Debatten über die Auswirkungen des Karlsruher Urteils auf Haushalt und Finanzen wird zunehmend auch grundsätzlich über die Schuldenbremse diskutiert.

    Inhalt

    Wie reagierte die Regierung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

    Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe urteilte Mitte November 2023, dass die Umleitung von 60 Milliarden Euro an nicht benötigten Corona-Hilfen in den Klimafonds gegen die Schuldenbremse im Grundgesetz verstößt. Wegen des Urteils strebte die Ampel-Regierung in 2023 eine Sonderregelung an, um die Schuldenbremse erneut auszusetzen. Zulässig ist dies laut Grundgesetz „im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen“.
    Schon zuvor für die Jahre 2020 bis 2022 sah der Bundestag jeweils eine solche Notlage – zweimal aufgrund der Corona-Pandemie, 2022 zusätzlich wegen des Kriegs in der Ukraine. Mitte Dezember 2023 erklärte der Bundestag für das Jahr 2023 ebenfalls eine außergewöhnliche Notlage, setzte die Schuldenbremse aus und verabschiedete im Folgenden den Nachtragshaushalt.
    Auf diesem Weg sicherte die Bundesregierung den Nachtragshaushalt rechtlich ab. Die Neuverschuldung für das Jahr 2023 liegt infolgedessen bei 70,61 Milliarden Euro und damit 44,8 Milliarden Euro über der zulässigen Kreditaufnahme.
    Als eine weitere Reaktion auf das Karlsruher Urteil ließ die Bundesregierung die Strom- und Gaspreisbremsen zum Ende 2023 und damit drei Monate früher als geplant auslaufen.
    Auch für den Haushalt 2024 hat das Urteil Konsequenzen. Die Ampel-Koalition musste massive Einsparungen zur ursprünglichen Planung vornehmen. Die Verhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP darüber waren schwierig, sodass der Haushalt vom Bundestag mit mehrwöchiger Verspätung erst am 2. Februar im Bundestag beschlossen wurde. Im Haushalt 2024 sind Ausgaben in Höhe von 476,8 Milliarden Euro vorgesehen – und neue Kredite über rund 39 Milliarden Euro. Bleibt es dabei, so wird die Schuldenbremse nach vier Jahren erstmals wieder eingehalten.

    Welche Kritik gibt es an der Schuldenbremse?

    Als „zukunftsfeindlich“ bezeichnete der Ökonom Peter Bofinger von der Universität Würzburg die Schuldenbremse. Man könne sehen, wie die Bremse „in unsere Zukunftsgestaltung einschneidet“. Als Beispiele nannte Bofinger notwendige Investitionen in Bahnmodernisierung, Gebäudesanierung und Halbleiterfabriken. Die Ausnahmeregel von der Schuldenbremse könne man wohl nur bei konkreten Krisen ziehen, nicht bei längerfristigen Entwicklungen wie dem Klimawandel.
    Jens Südekum, Ökonomie-Professor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, sagte: Durch das Urteil aus Karlsruhe sei die „Schuldenbremse maximal scharf gestellt“. Es werde jetzt die Frage sein, „ob sie der Realität überhaupt standhält“.
    Vergleich der Schulden von USA und EU-Staaten
    Vergleich der Schulden von USA und EU-Staaten (Statista)
    Der Forscher stellte die Frage, ob diese Schuldenbremse „einfach nicht mehr in diese Zeit passt, wo wir diese riesigen Herausforderungen vor uns haben, gerade im investiven Bereich“. Deutschland sei zudem „nie exzessiv verschuldet“ gewesen, sagte Südekum. Die Schuldenquote sei im internationalen Vergleich „sehr niedrig“. Die Verschuldung in den USA, Großbritannien und anderen Staaten sei wesentlich höher.
    Schuldenquote in ausgewählten Staaten
    Schuldenquote in ausgewählten Staaten (Statista)
    Aus den Reihen der Ampelkoalition machen sich die SPD und die Grünen für eine Lockerung der Schuldenbremse stark - zugunsten von mehr Investitionen. Nicht getätigte Investitionen seien die Schulden von morgen, argumentierte Grünen-Co-Chefin Ricarda Lang im Deutschlandfunk. Deutschland drohe, im internationalen Vergleich abgehängt zu werden.
    Kritik kommt auch von mehreren SPD-Ministerpräsidentinnen. Die saarländische Regierungschefin Anke Rehlinger sagte, in der aktuellen Ausgestaltung erschwere die Bremse den Umbau des Wirtschaftsstandorts Deutschland.
    Ähnlich äußerte sich auch Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner - als erster CDU-Regierungschef. Die Schuldenbremse sei im Sinne solider Finanzen eine gute Idee. "Ihre derzeitige Ausgestaltung halte ich allerdings für gefährlich", erklärte Wegner auf der Plattform X (vormals Twitter) ebenso wie in einem Interview des Magazins "Stern". Mit seinem Vorstoß stellt sich Wegner auch gegen den Kurs von CDU-Bundeschef Friedrich Merz, der im Bundestag betonte, darüber werde nicht im Rathaus von Berlin entschieden. Fakt ist jedoch, dass auch die Länder ein Wort mitzureden haben – zum Beispiel 2009 bei der Verabschiedung der Schuldenbremse. Mittlerweile gibt es auch zunehmend kritische Töne von weiteren CDU-Länderchefs zur Schuldenbremse.

    Was sagen die Befürworter der Schuldenbremse?

    Der Volkswirt Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim sagte in einem „Capital“-Interview: „Die Schuldenbremse abzuschaffen, wäre eine fatale Lösung. Dann würden wir den nachfolgenden Generationen auch fiskalisch noch einen Scherbenhaufen hinterlassen.“
    Es gehe darum, die Schuldenbremse zu reformieren. „Vieles drängt in Richtung der Frage: Brauchen wir doch ein größeres Verschuldungsfenster und eine Ausweitung der Schuldenbremse?", so Heinemann. "Dafür braucht man aber eine Verfassungsänderung, so wie zuletzt geschehen beim Sondervermögen für die Bundeswehr.“
    Innerhalb der Regierungskoalition lehnen Bundesfinanzminister Lindner und seine FDP eine Reform der Schuldenbremse vehement ab. Der Staat habe kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem, sagte Lindner im Interview der Woche mit dem Deutschlandfunk.
    Auch die CDU im Bundestag spricht sich für Sparmaßnahmen und gegen eine Reform der Schuldengrenze aus. „Die Bundesregierung wird von uns jedenfalls keine Zustimmung bekommen, wenn sie ernsthaft vorschlagen sollte, die Schuldenbremse des Grundgesetzes zu lockern“, sagte Unions-Fraktionschef Friedrich Merz (CDU) im einem Interview mit „t-online“. Dafür gebe es keinerlei Rechtfertigung. Merz: „Die Ampel muss mit dem Geld auskommen, das im Bundeshaushalt vereinnahmt wird.“ Im Bundestag bekräftigte er diese Position.
    Um Haushaltslücken zu schließen, solle gespart werden, forderte CDU-Parteichef Merz, etwa bei Sozialausgaben. Konkret schlug Merz vor, auf die Kindergrundsicherung oder auf das höhere Bürgergeld zu verzichten.

    Welche Reformvorschläge gibt es?

    Einige Volkswirte sehen die Schuldenbremse kritisch, da sie wichtige Investitionen erschwere. So betont der Wirtschaftsforscher Jens Südekum angesichts der notwendigen gewaltigen Investitionen bis 2030: „Ich bin für eine Reform der Schuldenbremse.“ Der Bundeshaushalt dürfte nicht viel restriktiver gestaltet werden „als in so ziemlich jedem anderen Land“.
    Zukunftsausgaben, also Investitionen, sollten kreditfinanziert werden dürfen. „Das ist die sogenannte goldene Regel der Haushaltspolitik und ist ökonomisch höchst vernünftig.“ Die Schuldenbremse sollte aus seiner Sicht für konsumtive Ausgaben des Staates gelten – also auch Transferzahlungen und Renten.
    Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) forderte, die Schuldenbremse um eine "grün-goldene Investitionsregel" zu ergänzen: "Ein zeitgemäßes Update der Schuldenbremse, das wäre nicht ihre Schwächung. Es wäre ihre Stärkung", so Habeck im November 2023 auf dem Bundesparteitag der Grünen.
    In eine ähnliche Richtung zielt der Reformvorschlag von Berlins Regierendem Bürgermeister Wegner. Er unterstrich, dass er die Schuldenbremse nicht abschaffen wolle, sondern "zukunftsfest gestalten". Die Position des CDU-Politikers klingt ähnlich wie die von Wirtschaftsforscher Südekum: "Es darf Kredite ausschließlich für Investitionen geben - Kredite für konsumtive Ausgaben sind tabu."
    Auch die sogenannten Wirtschaftsweisen haben sich für eine Reform der Schuldenbremse zugunsten von Investitionsmöglichkeiten ausgesprochen. Die Schuldenbremse sei in ihrer heutigen Form zu starr, stellen die Ökonomen Ende Januar 2024 fest. Die Vorsitzende des Sachverständigenrats Monika Schnitzer sprach sich für eine umfassende Lockerung der verfassungsrechtlichen Regelung aus: „Wir wollen die Flexibilität erhöhen und Spielräume schaffen, sodass man zukunftsorientierte öffentliche Ausgaben tätigen kann, ohne dabei die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen auszuhöhlen.“
    Konkret schlagen die Wirtschaftsweisen vor, dass es im Fall von Notlagen Übergangsregelungen für die nachfolgenden Jahre geben soll. Außerdem könnte eine jährliche Verschuldung von bis zu einem Prozent der Wirtschaftsleistung ermöglicht werden. Bisher liegt die Verschuldungsgrenze bei 0,35 Prozent. Schnitzer empfiehlt die Lockerung der Schuldenbremse dringend und noch in dieser Legislaturperiode anzugehen: „Denn je nachdem, wie sich die Dinge entwickeln, ist es in der nächsten Legislatur möglicherweise nicht mehr so einfach, eine Zweidrittelmehrheit von demokratischen Parteien zu finden“, so die Vorsitzende des Sachverständigenrates.

    Wie wahrscheinlich ist eine Reform der Schuldenbremse?

    Im Bundestag zeichnet sich derzeit keine notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Änderung oder gar Abschaffung der Schuldenbremse ab. Die CDU/CSU als größte Oppositionsfraktion lehnt Änderungen an dieser Stelle im Grundgesetz bisher strikt ab. Offen ist, ob sich die Position der Union angesichts der kritischen Haltung mehrerer Ministerpräsidenten und des Streits zwischen Merz und Wegner ändert.
    Innerhalb der Ampel-Regierungskoalition dürfte eine Reform der Schuldengrenze am Widerstand der FDP scheitern. Bundesfinanzminister Lindner schloss im Dlf-Interview zwar eine abermalige Aussetzung der Schuldenbremse auch für 2024 nicht kategorisch aus, äußerte aber Vorbehalte: Dies sei sehr begründungspflichtig. Zumal das Bundesverfassungsgericht die Begründungspflicht für Notlagen inzwischen präzisiert habe.
    Laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF-"Politbarometer" vom Dezember 2023 ist auch eine Mehrheit der Bevölkerung gegen eine Reform der Schuldenbremse. Für eine Beibehaltung der geltenden Regelung sprachen sich demnach 61 Prozent der Befragten aus, nur 35 Prozent wollten die Schuldenbremse lockern, 4 Prozent antworteten mit "weiß nicht".

    tei/wwi/cp