
Die literarische Dystopie steht derzeit hoch im Kurs. Man denke an Romane wie Dave Eggers' "The Circle", Michel Houellebecqs "Unterwerfung" oder, in der deutschsprachigen Literatur, Georg Kleins "Miakro" oder Thomas von Steinaeckers "Die Verteidigung des Paradieses". In einem gesellschaftlichen Klima, das sich zunehmend radikalisiert, ist die Lust an der Zuspitzung, die die sich wandelnden Verhältnisse kenntlich machen soll, offenbar besonders groß.
Auch Christina Dalchers Roman "VOX" liegt ein dystopischer Einfall zugrunde. Wir befinden uns in den Vereinigten Staaten von Amerika in einer nicht näher bestimmten Zukunft. Das Land wird regiert von einem willenlosen und schwachen Präsidenten, dessen mächtigster Einflüsterer ein radikaler Prediger ist. Komplettiert wird das Trio von einem sinistren Geheimdienstchef. Die neue Administration hat innerhalb ihrer kurzen Amtszeit sämtliche Frauen im Land buchstäblich entmündigt: Jede Frau ist gezwungen, ein Armband zu tragen, das ihre pro Tag gesprochenen Worte zählt. Bei 100 ist Schluss. Für jedes weitere Wort wird die Frau mit einem schmerzhaften Stromstoß bestraft. Berufstätigkeit ist untersagt, Kommunikationsmedien sind nur Männern zugänglich. Die Aufgabe lautet: Haushalt führen, Kinder bekommen, Klappe halten.
Schon früher düstere Prognosen
Dalchers Protagonistin und Ich-Erzählerin heißt Jean McClellan, ist zufälligerweise verheiratet mit einem wissenschaftlichen Berater des Präsidenten und studierte Linguistin. Vor dem Sprechverbot hat sie erfolgreich in der Forschung gearbeitet. Für Politik hat sie sich nie interessiert, obwohl ihre Zimmergenossin Jackie ihr schon während des Studiums düstere Prognosen gestellt hat:
"Warts nur ab. In ein paar Jahren ist es eine andere Welt, wenn wir nicht etwas unternehmen, das zu ändern. Ausgeweiteter Bibelgürtel, mieseste Repräsentierung im Kongress und eine Meute machthungriger kleiner Jungs, die es satthaben, dauernd ermahnt zu werden, einfühlsamer zu sein."
Man fragt sich bei der Lektüre von "VOX" sehr bald, was hanebüchener ist: Der absurde Erzähleinfall oder der literarische Dilettantismus, mit dem Christina Dalcher ihre Geschichte ausführt. Jede ihrer Figuren trieft nur so vor Klischees und verhält sich gleichzeitig auf absurde Weise unglaubwürdig. In jeder Situation geschieht stets das Erwartbare. Und um zu kaschieren, dass in diesem Roman eine einzige Grundidee auf rund 400 Seiten aufgepumpt wurde, hat Dalcher dem Buch einen theoretischen Überbau verpasst; eine Reflexion über Spracherwerb und Sprachverlust, die in deutlichem Missverhältnis zum intellektuellen Potential ihrer Protagonistin steht.
Gedankenwelt von ergreifender Schlichtheit
Anders ausgedrückt: Dass Jean nicht sprechen darf, ist das eine. Dass aber auch ihre Gedankenwelt von ergreifender Schlichtheit ist, ist das andere. Wie soll die Leserin, an die der Roman sich offenbar richtet, glauben, sie lese einen feministischen Roman, wenn die Heldin sich nach nichts mehr sehnt, als in die Arme eines starken Mannes zu sinken?
Damit das Buch nicht so schnell zu Ende ist, muss es irgendwann so etwas wie eine Handlung geben. Die besteht darin, dass der Bruder des Präsidenten angeblich einen Unfall hatte, der seine Hirntätigkeit stark beeinträchtigt. Und ausgerechnet Jean hat ganz zufällig in diesem Bereich geforscht, bevor man ihr das Armband anlegte. Also wird sie nun ausnahmsweise von Amtswegen davon befreit und in eine gut abgeschirmte geheime Forschungsgruppe gesteckt, in der sie auch ihren Kollegen Lorenzo wiedertrifft. Mit dem hatte sie noch bis vor kurzem eine Affäre. Und als sie ihn wiedersieht, klingt das so:
"Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals von der Größe eines Strandballs. Ich versuche, ein 'ciao' daran vorbeizudrücken, und was dabei herauskommt, hat die Kraft eines Mäusepupses. Meine Knie knicken ein, während sich der Raum um mich dreht, mehrfache Lorenzos und Kaffeekocher und Bücherregale, alle wirbeln in einem Strudel aus Farben und Texturen."
Das kennt man sonst nur von der Betrachtung einer Waschmaschine. Lorenzo ist im Übrigen die furchtbarste Figur des gesamten Romans. Ein charmanter und zugleich heroischer Italiener. Ein Mann, in dessen Büro selbstverständlich stets die Espressokanne auf dem Herd steht, der sehr schnell Auto fährt, weil echte Jungs das nun mal so machen, und der überhaupt alles kann und weiß und immer die richtige Entscheidung trifft und noch dazu ein bombastisch guter Liebhaber ist. Eine Mischung aus Tarzan aus 'TKKG' und einem Schweizer Taschenmesser. Und natürlich das stereotype Gegenstück zu Jeans Waschlappen-Ehemann Patrick.
"VOX" endet in einem schwer verständlichen, weil unanschaulich und wirr erzählten Showdown, in dem auch plötzlich unter anderem Jeans' Studienkollegin Jackie im Keller des Forschungsgebäudes wieder auftaucht:
"Der Mensch auf der linken Seite spricht meinen Namen aus, meinen alten Namen, den ich seit 20 Jahren nicht mehr gehört habe. Bei der zweiten Silbe von 'Jeanie' schleudert ein schmerzhafter Schlag sie nach hinten an die Stahlwand. Der ekelerregende Aufprall hallt im ganzen Raum wider."
Schludrig konstruierter Kolportageroman
"VOX" ist ein schlecht geschriebener, schludrig konstruierter und mit falschem Pathos aufgeladener Kolportageroman. In einem Interview, das dem Leseexemplar vorangestellt ist, erzählt Christina Dalcher, sie habe exakt zwei Monate an dem Buch geschrieben. Das erklärt einiges, entschuldigt aber nichts. Und im Nachwort schreibt die Autorin:
"Ich hoffe, dass der Roman Sie etwas wütend macht."
Wenigstens eine Hoffnung, die sich bereits nach wenigen Seiten voll und ganz erfüllt.
Christina Dalcher: "VOX"
Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Balkenhol und Susanne Aeckerle
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 404 Seiten, 20 Euro.
Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Balkenhol und Susanne Aeckerle
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 404 Seiten, 20 Euro.