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Christoph Poschenrieder: "Der unsichtbare Roman"
Der Yogi vom Starnberger See

Im letzten Kriegsjahr 1917 bekommt der Bestsellerautor Gustav Meyrink ein unmoralisches Angebot: Er soll einen Propaganda-Roman schreiben, in dem die Freimaurer die Kriegsschuld tragen. Der große Stilist Christoph Poschenrieder macht aus dieser wahren Anekdote einen amüsanten Roman über das Romanschreiben

Von Melanie Weidemüller | 10.12.2019
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Liebt das literarische Spiel mit Fakten und Fiktion: Der Schriftsteller Christoph Poschenrieder (Daniela Agostini / Diogenes Verlag )
Es gibt Fragen, die einem im Jahr 2019 nicht unbedingt auf den Nägeln brennen, zum Beispiel diese: Wer ist Schuld am Ersten Weltkrieg? Wir erinnern uns, das Attentat von Sarajewo 1914, Geschichtsunterricht Mittelstufe, und über die Schuldfrage streitet heute eigentlich auch niemand mehr ernsthaft: Die beiden Kriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts wurden vom Deutschen Reich angezettelt. Alles sattsam bekannt und auserzählt, könnte man meinen – wäre da nicht der Schriftsteller Christoph Poschenrieder.
Der studierte Philosoph und Journalist findet nämlich gar nicht die Fakten so interessant, verrät er in Interviews, sondern die Lücken, die sich dazwischen auftun. Poschenrieder ist ein akribischer Rechercheur, vor allem aber ein phantasiebegabter Geschichtenerzähler auf der Schwelle zwischen Fakt und Fiktion. Zwei frühere Romane hatte der 1964 in Boston geborene Autor bereits um den Ersten Weltkrieg angesiedelt, "Der Spiegelkasten" und "Das Sandkorn".
Der spleenige Held Meyrink hat wirklich gelebt
Auf dem Schreibtisch liegt nun, gut sichtbar, sein neues Buch mit dem durchaus verwirrenden Titel "Der unsichtbare Roman". Wie plausibel sich dieses Paradox am Ende aufklärt, das wird hier auf gar keinen Fall ausgeplaudert werden. Stattdessen springen wir direkt hinein in die Atmosphäre des letzten Kriegsjahrs – und lauschen dem Auftakt des "unsichtbaren Romans":
"Es klopft. 'Teufel noch mal, denkt Meyrink, wer klopft? Der Einzige, der hier klopfen darf – und zu gegebener Zeit auch klopfen wird –, bin ich, und ich habe nicht geklopft.'
Er blickt in vier entgeisterte Gesichter. Das hätten sie nicht gedacht. Ausgerechnet bei einer spiritistischen Sitzung. Das Tischrücken hat kaum begonnen, der Tisch noch nicht einmal gezittert, schon gar nicht geschwebt, und es klopft. Die Apothekerwitwe bewegt stumm die Lippen, die Frage, die sie an den lieben Verstorbenen richten will, muss hinaus. Meyrink hebt die Hand; die Witwe ist jedoch nicht zu bremsen.
'Hartmut, bist du das? (...) Liebster, es ist wegen des Schmucks, ich bitte dich. Wo hast du den Pfandschein versteckt?'
'Bitte nur Ja-Nein-Fragen, gnädige Frau', sagt Meyrink."
Gustav Meyrink, der da gegen Ende des ersten Weltkriegs in seiner Villa am Starnberger See eine gefakte Séance abhält, ist die Hauptfigur in Poschenrieders "unsichtbarem Roman". Und: Hätte es den Mann nicht wirklich gegeben, man müsste ihn als literarische Figur erfinden. Was für ein Typ: Geboren 1868 in Wien als unehelicher Sohn eines adeligen Staatsministers und der Hofschauspielerin Marie Meyer, führte er mit Stationen in Prag, Wien, München und Starnberg das Abenteurerleben eines unkonventionellen Geistes. Fotos zeigen den historischen Meyrink gut gekleidet, mit markanten Zügen, Glatze und den auffallenden "Augen eines Geistersehers", wie Zeitgenossen formulierten.
Wie korrumpierbar ist der erfolgshungrige Bestsellerautor?
Er war Okkultist und Mitglied mehrerer Geheim-Logen, gescheiterter Bankier mit Gefängnisstrafe, praktizierender Yogi, Übersetzer, Satiriker und Schriftsteller. Heute kennt man allenfalls noch Gustav Meyrinks Hauptwerk, den 1915 veröffentlichten Roman "Der Golem". Die Geschichte aus dem jüdischen Ghetto Prags war ein Bestseller seiner Zeit; er gehört zu den Klassikern der phantastischen Literatur.
Dass Christoph Poschenrieder dieser schillernden Persönlichkeit jetzt einen ganzen Roman widmet, hat mit einer historischen Anekdote zu tun: Korrespondenzen belegen recht verlässlich, dass das Auswärtige Amt des Deutschen Reichs dem populären Verfasser des "Golem" kurz vor Kriegsende das Angebot machte, gegen großzügiges Honorar einen Propagandaroman zu schreiben. Darin sollte Meyrink den Freimaurern die Kriegsschuld zuschieben. In Poschenrieders Fiktion wird aus dieser Randnotiz der Geschichte ein Schriftsteller-Drama: Meyrink nimmt den Vorschuss an – und landet in der größten Schreibblockade seines Lebens.
"Er zeichnet eine flach auslaufende Wellenlinie aufs Papier, als Platzhalter eines noch nicht gefundenen Titels. Er betrachtet diesen müde verendenden Strich und überlegt, ob darin eine Botschaft, ein Zeichen stecken könnte, packt schließlich das Büchlein weg. Immerhin: Ein Anfang ist gemacht, mag er auch dürftig sein."
Während Meyrink die Auftraggeber mit frei erfundenen Berichten seiner Fortschritte hinhält, passiert in Wahrheit mit seinem Manuskript: nichts. Die aus Berlin zugeschickten Kisten mit Freimaurer-Literatur bleiben ungelesen, Meyrink rudert lieber auf dem Starnberger See, trifft sich in den Schwabinger Kaffeehäusern, dem Hot Spot der revolutionären Münchner Bohème, ratsuchend mit dem befreundeten Anarchisten Erich Mühsam. Er entspannt Muskeln und Geist im Yogazimmer unterm Dach seiner Starnberger Villa, experimentiert mit Schreibtechniken und Tricks – alles vergeblich: Das Papier bleibt leer.
Das alles liest sich amüsant, denn Poschenrieder erweist sich mit diesem abschließenden Teil seiner Trilogie über das Untergehende Deutsche Kaiserreich einmal mehr als souveräner Stilist. Sein "unsichtbarer Roman" spiegelt atmosphärisch den revolutionären Zeitgeist im Vorfeld der Münchner Räterepublik, doch ins Zentrum gerät zunehmend das Schreibprojekt als solches. Etwa, wenn es immer wieder um den berühmten ersten Satz geht.
Der berühmte Horror Vakui
"Der erste Satz ist der Duft über der Kaffeetasse, das Knistern der Semmel, wie sie hier in Bayern sagen. Keine Garantie, aber eine Verheißung. Für den Autor noch mehr als für den Leser. Jenseits des ersten Satzes liegt die Terra incognita, der Dschungel, die der Autor wie ein Humboldt oder ein Linvingstone zu erobern hat, Machete in der Hand, feindliche Pfeile um die Ohren. Der Leser aber lässt sich in der Sänfte durch diesen Dschungel tragen, und – das Buch zugeklappt! – schnell ist er wieder draußen."
Belauschen wir hier die Gedanken des Schriftstellers Gustav Meyrink am Schreibpult? Oder lässt sich an dieser Stelle, hundert Jahre später, Christoph Poschenrieder am Rechner über die Schulter schauen? Offenbar schreiben beide Autoren an der vermaledeiten Freimaurer-Geschichte, so geschickt sind die Ebenen der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verzwirnt.
Der Clou an Poschenrieders Roman aber ist sein offener Werkstatt-Charakter. In die Handlung um den schreibgehemmten Meyrink hat Poschenrieder immer wieder "Recherche-Notizen" eingestreut, Quellenmaterial aus allen verfügbaren Archiven: Briefe, Zeilen aus Meyrinks Notizbuch, Erinnerungen seiner Frau Mena, Abschriften der Akten im Berliner Archiv des Auswärtigen Amts, Zitate aus Kurt Eisners bewegendem Gefängnistagebuch. Und, um das selbstreferentielle Spiel auf die Spitze zu treiben: Auch ein E-Mail-Wechsel des Autors Christoph Poschenrieder mit seiner Lektorin ist abgedruckt.
Damit entpuppt sich "Der unsichtbare Roman" von Christoph Poschenrieder am Ende vor allem als Roman über das Romaneschreiben. Poschenrieder ist nicht nur ein Autor, der durch die Schule der Postmoderne gegangen ist. Er hat daraus auch seinen ganz eigenen Stil entwickelt: Leichtfüßig, selbstironisch, nachdenklich. Eine kuriose Story, einen interessanten Protagonisten und das schöne Spiel mit der wahren Fiktion gibt es bei seinem neuesten Werk obendrauf. Oder, wie heißt es doch einmal im "Unsichtbaren Roman":
"Die Wahrheit ist zu kostbar, um sie Priestern, Politikern und der Presse zu überlassen."
Christoph Poschenrieder: Der unsichtbare Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2019. 272 Seiten, 24 Euro