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Christopher Kloeble: "Das Museum der Welt"
Wissenschaft und Rebellion

Der indische Waisenjunge Bartholomäus soll deutsche Wissenschaftler auf ihrer Forschungsreise begleiten. Er zögert - und ist fasziniert und abgestoßen zugleich von den Kolonialherren des 19. Jahrhunderts. Christopher Kloeble schreibt einen ungewöhnlichen und hochaktuellen Abenteuerroman.

Von Nora Koldehoff | 28.02.2020
Der Schhriftsteller Christopher Kloeble
Christoph Kloebles Romane sind bereits in mehrere Sprachen übersetzt worden, Verfilmungen werden vorbereitet. Der Autor lebt in Berlin und Neu-Delhi. (dtv / Christine Fenzl)
Bartholomäus ist "mindestens zwölf Jahre alt" und in einem Waisenhaus in Bombay aufgewachsen. Er spricht mehr als sechs verschiedene Sprachen und hat ein Ziel: Er will das erstes Museum Indiens gründen, das "Museum der Welt". Bestimmt ist es für "die teuersten und schwersten und gefährlichsten Objekte des Kontinents und selbst Unsichtbares wie Gefühle, Träume oder Erinnerungen" sollen dort zu finden sein. Das Museum entsteht und wächst in Bartholomäus' Notizbuch, einem Geschenk des Paters "Vater Fuchs". Der Geistliche des Waisenhauses ist für den Jungen eine Vaterfigur.
Das Notizbuch-Museum ist bereits der zweite Anlauf für das Projekt. In einer Holzkiste gesammelte Objekte bildeten den Anfang. Doch die anderen Kinder im Waisenhaus, die Bartholomäus immer wieder quälen, zerschlagen und verbrennen seine Schätze. Davon aber lässt sich Vater Fuchs nicht beirren, er möchte das Museum des Jungen besuchen:
"Er bat um eine Führung. Es ist verbrannt, sagte ich.
Aber nicht in deinem Kopf, richtig? Was in deinem Kopf ist, können sie nicht verbrennen.
Nein, sagte ich, können sie nicht.
Dann mach, dass ich es sehen kann, sagte er und schloss die Augen, führe mich durch dein Museum."
"Glück, das man essen kann"
Und Bartholomäus beginnt - mit Worten. Er beschreibt dem Pater "Handvo", das Gujarati-Gebäck der Köchin Smitaben und nennt es "Glück, das man essen kann". Da ist auch eine Dose, so zugerostet, dass sie sich nicht mehr öffnen lässt, ihr geheimnisvolles Klackern aber den Neugierigen mit Hoffnung füttert. Eine Schriftrolle, in deren verschwommenen Zahlen sich fast alles erkennen lässt, war ebenso im verbrannten Kistenmuseum wie ein hölzernes Kreuz aus dem Waisenhaus und kleine Fundobjekte ohne bestimmbaren Zweck. Das wichtigste Ausstellungsstück aber ist in Bartholomäus‘ Museum ein leerer Platz:
"Dort würde etwas sein, wenn die Vickys nicht nach Indien gekommen und meine Eltern noch am Leben wären."
"Vickys", so nennt Bartholomäus die Engländer: Viktorianer, die selbst ja auch alles so benennen, wie es ihnen beliebt, wie er von Vater Fuchs weiß. Der Pater verspricht, Bartholomäus am nächsten Morgen den perfekten Namen für das Museum zu schenken. Doch dazu kommt es nicht: Als der Junge ihn aufsucht, ist Vater Fuchs spurlos verschwunden.
Buchcover: Christopher Kloeble: "Das Museum der Welt"
Buchcover: Christopher Kloeble: "Das Museum der Welt" (Buchcover: DTV, Hintergrund: AFP - Bengal Safari)
Historischer Hintergrund
Christopher Kloebles neuer, in detailreicher und dennoch niemals zu ausgeschmückter Sprache erzählter Roman spielt im Indien des 19. Jahrhunderts. Die fiktive Handlung wird mit den historischen Ereignissen und Figuren jener Zeit verwoben. Kurz vor Beginn des ersten Unabhängigkeitskrieges in Indien bereisen in den 1850er-Jahren die deutschen Brüder Adolph, Hermann und Robert Schlagintweit das Land. Sie sind Forscher, aber auch im Auftrag des mächtigen britischen Handelsimperiums "East India Company" unterwegs, immer auf der Suche nach neuen Handelsbeziehungen. Im Gepäck haben die Brüder eine Empfehlung von Alexander von Humboldt, der aus politischen Gründen nicht selbst auf den Subkontinent reisen konnte.
Vater Fuchs, der wie die Brüder aus Bayern stammt, hatte ihnen in einem Briefwechsel von dem klugen und sprachbegabten Jungen erzählt. Nun soll er als Übersetzer die Reise der Schlagintweits begleiten. Bartholomäus ist von dieser Idee allerdings zunächst wenig begeistert.
Vermessung der Heimat
Christopher Kloeble erzählt sehr überzeugend, wie sich Bartholomäus' Einstellung zu den Brüdern Schlagintweit im Laufe der gemeinsamen Reise immer wieder ändert. Mal sucht er ihre Nähe und Anerkennung, insbesondere zum zweitältesten und zugänglichsten Bruder Adolph; dann wieder arrangiert er sich nur aus Pragmatismus mit ihnen. Auch in die durchaus vorhandene Faszination für die Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen, für die dazu benutzten Apparaturen und den Willen, das Land in allen seinen Aspekten zu erkunden, mischen sich immer wieder Bartholomäus' Skepsis und Widerwillen. Neugierig liest er in Hermanns Notizen und ist erstaunt:
"Wie konnte ich bereits seit mindestens zwölf Jahren in Bombay leben und nicht wissen, dass die Oberfläche der Stadt fünfundzwanzig Quadratkilometer betrug? Der Malabar Hill war seinen Aufzeichnungen nach achtundfünfzig Meter hoch. Diese Zahlen waren meine Heimat. Wieso wusste er etwas davon, was ich nicht wusste? Indem er Dinge, die ich schon immer kannte, seinem Zahlensystem unterordnete, waren sie nicht mehr meine. Sie gehörten jetzt ihm."
Faszination und Widerstand
In massive Loyalitätskonflikte sieht sich Bartholomäus gestürzt, als ihn Mitglieder der indischen Widerstandsbewegung dazu bringen wollen, die Brüder Schlagintweit auszuspionieren. Sie versuchen ihm klarzumachen, dass der Erkenntnisgewinn der Wissenschaftler vor allem wirtschaftlichem und politischem Machtgewinn dient. Bartholomäus wird zu einem Doppelagenten, der immer wieder die Argumente beider Seiten prüft.
Ganz bewusst erzählt Christopher Kloeble die drei Jahre umspannende Reise aus der Sicht des fiktiven jugendlichen Inders. Der Autor ist sich sicher, dass es jemanden wie ihn gegeben haben muss. Deshalb gibt er ihm – und damit stellvertretend auch all jenen Expeditions-Begleitern, die sonst nie erwähnt werden –, eine Stimme.
Dabei wagt der Autor mit seiner Innensicht einer indischen Waise viel. Christopher Kloeble ist ein europäischer weißer Mann, der von der eigenen Interpretation der indischen Historie und den unterschiedlichen Sichtweisen auf diese nicht unbeeinflusst sein kann. Dass Kloeble gemeinsam mit seiner Frau, die in Neu-Delhi aufgewachsen ist, unter anderem in Indien lebt, erlaubt ihm jedoch einen tiefen und gründlichen Blick auf das Erleben aus indischer Sicht und die Historie des Landes.
Kenntnisreich und spannend
Aus der Ich-Perspektive des Protagonisten beschreibend, gibt der Erzählton dessen ambivalentes Erleben wieder und nutzt dafür naturgemäß auch viele ihm geläufige indische Bezeichnungen. Deren Bedeutung wird selten im Text erklärt, sodass ein kleines Glossar am Buchende hilfreich gewesen wäre. An einigen Stellen allerdings will der Ton nicht so recht zu dem eines Halbwüchsigen passen – sei dieser auch noch so eloquent, reflektiert und analytisch. Insgesamt fällt das angesichts des packenden Erzählstils von Christopher Kloeble aber nicht sehr ins Gewicht.
Als Mischung aus Abenteuer- und Spionageroman, Coming-of-Age-Erzählung, Historie und Kolonialismuskritik ist der Roman kurzweilig und spannend erzählt, dem roten Faden des Museums-Notizbuch folgend. Bevor die Wege der Brüder sich trennen und Bartholomäus mit Adolph weiterreist, erlaubt der Junge Hermann Schlagintweit mit gemischten Gefühlen, etwas in das Museum zu schreiben. Der Deutsche nutzt die Gelegenheit, dem Jungen gegenüber seine mit der Zeit gewachsene Achtung zum Ausdruck zu bringen und sich von den rassistischen Lehren dieser Zeit zu distanzieren. Bartholomäus ist beeindruckt von Hermanns Anerkennung und notiert: "Ich habe immer gewusst, dass sein Talent und meines ebenbürtig sind. Aber ich hätte nicht gedacht, dass er dies weiß und auch eingestehen würde."
Christopher Kloeble: "Das Museum der Welt"
dtv, München. 528 Seiten, 24 Euro.