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Claudia Roth zur Türkei-Wahl
"Ein rabenschwarzer Tag für die Türkei"

Präsident Recep Tayyip Erdoğan habe mit der Wiederholung der Parlamentswahl beabsichtigt, die Verfassung zu ändern und ein Präsidialsystem in der Türkei einzuführen, sagte Claudia Roth, Vize-Bundestagspräsidenten im DLF. Man könne nicht von fairen Wahlen sprechen, betonte die Grünen-Politikerin.

Claudia Roth im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 02.11.2015
    Die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth
    Die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (dpa / picture-alliance / Britta Pedersen)
    Es habe Unregelmäßigkeiten am Wahltag gegeben, so die Überzeugung von Claudia Roth. "Man redet in Izmir von mehr ungültigen Stimmen als von gültigen", sagte sie. Zum Vorwurf des Terrors sagte sie: "Die HDP konnte gar keinen Wahlkampf machen. 500 Mitglieder sind verhaftet worden. Erdogan spaltet und polarisiert die türkische Gesellschaft in Gläubige und Ungläubige. Ein rabenschwarzer Tag für die Türkei." Die HDP (Demokratische Partei der Völker) ist eine Partei, die sich um die Rechte vor allem der kurdischen Minderheit kümmert
    Merkel hat faktisch Wahlkampf gemacht
    An die Adresse der deutschen Politik sagte sie: "Es war ein massiver Fehler von Merkel, kurz nach der Wahl [im Juli 2015] nach Ankara zu fahren. Frau Merkel hat faktisch Wahlkampf für Erdogan gemacht. Er hat das ausgenutzt." Zudem müsse sich die EU überlegen, wie hoch der Preis sei, den sie bezahlen möchte, um die Flüchtlingsströme aus der Türkei abzuhalten, wenn das Land zu einem sicheren Herkunftsland erklärt werden solle. "Augen zu, was die undemokratischen Verhältnisse in der Türkei angeht, ist sehr gefährlich für die Türkei und die EU". Dennoch stimmte sie zu, dass die Türkei in dieser Flüchtlingsfrage Unterstützung brauche.
    Die islamisch-konservative Partei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan hat nach dem Verlust der absoluten Mehrheit im Juli die Wiederholung der Parlamentswahl in die Wege geleitet und am 1. November mit großem Abstand diese Mehrheit zurückgewonnen.

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Der türkische Präsident Erdogan hat nicht mehr allzu viele Fans in Europa. In der Türkei sieht das anders aus: Seine AKP hat gestern bei den Wahlen völlig überraschend noch mal eine absolute Mehrheit geholt. Das ist ein Ergebnis, das europäischen und natürlich auch deutschen Politikern Stoff zum Nachdenken geben wird, denn die Türkei ist in der aktuellen Flüchtlingskrise ein Dreh- und Angelpunkt, auch weil das Land mehr als zwei Millionen syrischer Kriegsflüchtlinge aufgenommen hat.
    Am Telefon ist jetzt die Grünen-Politikerin Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und seit vielen Jahren und durch unterschiedliche Tätigkeiten und Reisen bestens mit der politischen Lage in der Türkei vertraut. Schönen guten Morgen, Frau Roth.
    Claudia Roth: Einen schönen guten Morgen. Ich grüße Sie, Herr Armbrüster.
    Armbrüster: Frau Roth, eine absolute Mehrheit für die AKP. Wenn Herr Erdogan Ihnen jetzt zuhören würde, welchen Rat würden Sie ihm geben?
    Roth: Ich würde ihm, obwohl ich ein sehr freundlicher und wohlerzogener Mensch bin, nicht gratulieren, sondern ich würde der Türkei kondolieren zu diesem rabenschwarzen Tag. Denn seine Strategie ist aufgegangen, die Gesellschaft zu spalten, zu polarisieren in wir und die, in Gläubige und Ungläubige. Das hat ihm zwar den Sieg gebracht, aber das hat der Demokratie in der Türkei und dem sozialen Frieden massiv geschadet. Das würde ich ihm sagen.
    Ich würde ihm auch sagen, dass man wirklich nicht in den vergangenen fünf Monaten von fairen Wahlkampfbedingungen sprechen kann. Wir haben Gewaltexzesse erlebt, wir haben erlebt, dass die Pressefreiheit hinter Gitter gesteckt worden ist, wir haben Ausnahmezustand in großen Teilen der kurdischen Regionen erlebt, wir haben bürgerkriegsartige Zustände, Terror und Angst erlebt, wir haben zynische Reaktionen auf den schlimmsten Terroranschlag in der Geschichte der Türkei in Ankara erlebt, wo der Ministerpräsident gesagt hat nach dem Anschlag, ach jetzt gehen unsere Umfragen nach oben, wir haben eine entfesselte PKK erlebt, die Gewalt ausgeübt hat als Reaktion. Die Türkei ist in einer wirklich schlechten Lage und das ist ein trauriger Tag.
    Armbrüster: Nun ist die Türkei ein Land, das in einer Region liegt mit sehr vielen Spannungen, mit Spannungen, die wir uns hier in Deutschland gar nicht vorstellen können. Immerhin: an der Grenze zu Syrien mit einem internen Konflikt mit der PKK. Kann man es den Türken wirklich verdenken, dass sie in so einer Situation eine Partei wählen, die ihnen seit mehr als zehn Jahren eine bis dahin nie gekannte Stabilität gebracht hat plus einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung?
    Erdogan will "autokratisches Präsidialsystem"
    Roth: Nein. Es ist überhaupt nicht meine Rolle und auch mein Recht, jetzt die Wähler zu beschimpfen. Aber man muss schon überlegen, was hat dazu geführt, dass die AKP in den letzten Monaten noch mal fast zehn Prozent aufholen konnte, und das war tatsächlich eine gnadenlose Strategie von Gewalt, von Angstmache, von Terror. Und dass die Menschen nach Sicherheit lechzen, dass sie Sicherheit und Frieden wollen, ja das kann man aus dem Wahlergebnis auch herauslesen. Aber diese Türkei ist jetzt total gespalten. Sie müssen sich vorstellen: Eine HDP, die kurdisch orientierte Partei, die konnte faktisch überhaupt keinen Wahlkampf mehr machen. 500 Mitglieder sind verhaftet worden, 258 Tote sind zu beklagen, 190 Parteibüros sind angegriffen und zerstört worden. So kann man doch keinen Wahlkampf machen, der auf Terror und der auf Angst und der auf Unsicherheit basiert. Das war die Strategie von Erdogan, die ist aufgegangen. Noch einmal: Er hat gesiegt, er hat die absolute Mehrheit, möglicherweise bekommt er mit Unterstützung von Teilen der MHP - das ist die ganz rechte Partei - auch die Möglichkeit, jetzt die Verfassung zu ändern hin zu einem autokratischen Präsidialsystem. Das ist alles nicht gut, auch nicht gut für Europa.
    Armbrüster: Frau Roth, waren das dann keine fairen Wahlen?
    Roth: Ich würde sagen, es waren keine fairen Wahlen. Man redet jetzt von Unregelmäßigkeiten am Wahltag. Dass zum Beispiel behauptet wird, dass in Izmir, einer der größten Städte in der Türkei, mehr ungültige Stimmen abgegeben worden seien als gültige, halte ich für ein ziemliches Novum. Aber das Problem war nicht das, was gestern passiert ist, sondern was in den vergangenen fünf Monaten passiert ist, wo ein Staatspräsident über seine Kompetenzen hinaus eingreift in das politische Geschehen und sagt, die Wahl im Juli, die hat mir nicht gefallen, jetzt wird so lang gewählt, bis ist das erreiche, was ich will: die absolute Mehrheit und die Möglichkeit, ein Präsidialsystem zu errichten.
    "Merkel hat faktisch Wahlkampf für Erdogan gemacht"
    Armbrüster: Wenn nun die AKP hier mit unsauberen Methoden gearbeitet hat im Wahlkampf und wenn es tatsächlich deshalb keine fairen Wahlen waren, wie Sie sagen, wie sollten dann deutsche Politiker reagieren bei ihren Kontakten in die Türkei?
    Roth: Ich glaube, es war ein massiver Fehler von Angela Merkel, kurz vor der Wahl nach Ankara zu fahren. Er hat das brutal propagandistisch ausgenutzt, Herr Erdogan. Frau Merkel hat faktisch Wahlkampf für Erdogan gemacht. Er hat mit der Möglichkeit, Flüchtlinge in der Türkei zu belassen beziehungsweise die türkischen Grenzen dicht zu machen, eine fast erpresserische Art und Weise ausgeübt. Ich glaube, es war ein Fehler, tatsächlich ein Fehler, dass unsere Kanzlerin Wahlkampfhilfe oder zur Wahlkampfhelferin gemacht worden ist.
    Und ich glaube, die Europäische Union muss sich sehr genau überlegen, wie hoch der Preis ist, den sie bereit ist zu bezahlen, um Flüchtlinge aus Europa abzuhalten, indem man zum Beispiel die Türkei zum sicheren Herkunftsland erklären will. Ich muss Ihnen wirklich sagen, das ist aberwitzig. Man kann nicht ein Land zur Sicherheit erklären, wo es faktisch keine Pressefreiheit mehr gibt, die Journalisten sind geprügelt worden, eingesperrt worden, Zeitungen und Fernsehsender sind geschlossen worden. Der Friedensprozess ist zerbombt worden. Man kann doch nicht nur aus eigenem Interesse, dass in der Türkei noch mehr Flüchtlinge aufgenommen werden und nicht nach Europa kommen, all das ignorieren, was undemokratische Verhältnisse in der Türkei angeht.
    Interessensgeleitete EU-Politik
    Armbrüster: Wir müssen Herrn Erdogan und seinem Land aber auch zugutehalten, dass er, die von ihm geführte Regierung dafür gesorgt hat, dass zwei Millionen syrischer Kriegsflüchtlinge in der Türkei aufgenommen werden. Führt da für uns in Deutschland ein Weg daran vorbei, dieses Land weiter zu unterstützen in der Flüchtlingskrise?
    Roth: Da haben Sie natürlich recht. Die Türkei ist das Land auf der Welt, das die allermeisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Da hat man nur die letzten Jahre überhaupt nicht dran gedacht und sich auch nicht darum gekümmert. Ja, es braucht eine Unterstützung, eine humanitäre Unterstützung für die Aufnahme von Flüchtlingen, aber in der Türkei sind jetzt schon so viele Flüchtlinge, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie es aussehen soll, wenn noch mehr Flüchtlinge kommen. Und die Situation in Syrien, im Irak, in Afghanistan, die hat sich ja nicht beruhigt. Ganz im Gegenteil! Deswegen ist es wirklich eine allein interessensgeleitete Politik der Europäischen Union: Augen zu, was die demokratischen oder undemokratischen Verhältnisse in der Türkei angeht. Augen zu, wir kooperieren mit Erdogan, dafür hält er uns die Flüchtlinge vom Leib. Sehr, sehr, sehr gefährlich für die Situation der Flüchtlinge, aber auch für eine Nachbarschaft und für ein Verhältnis zur Türkei, wo wir ja das allergrößte Interesse haben müssen, dass es eine demokratische und rechtsstaatliche Türkei ist.
    Armbrüster: Ist die Türkei noch ein EU-Beitrittskandidat?
    Roth: Es war sicher ein Fehler, dass die Beitrittsverhandlungen so gestockt haben und dass man über Jahre hinweg es von europäischer Seite, auch vonseiten der Bundesregierung, von Frau Merkel, von Frankreich und anderen Ländern, dass man eigentlich die Türkei am langen - wie soll ich sagen? -, man hat sie verhungern lassen. Man hat nicht den Beitrittsprozess nach vorne getrieben. Die Türkei ist ein Beitrittskandidat, aber so wie sie heute aussieht ist sie nicht beitrittsfähig.
    Armbrüster: Live hier bei uns im Deutschlandfunk in den "Informationen am Morgen" war das die Grünen-Politikerin Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen.
    Roth: Vielen Dank, Herr Armbrüster.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.