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Corona-Pandemie in Großbritannien
Landesregierungen als starke Krisenmanager

Das Vereinigte Königreich ist weitgehend zentralistisch organisiert. Allerdings sind es die Regierungen in Schottland, Wales und Nordirland gewesen, die mit der Coronakrise in ihren Teilen des Landes umgehen mussten – und sich gegenüber der britischen Regierung in London behaupten konnten.

Von Ann-Kathrin Jeske | 18.06.2020
Eine Reihe von britischen Nationalflaggen hängt entlang der Straße The Mall, die zum Buckingham Palace in London führt.
Farblich sind die Teile des Königreiches geeint, politisch sind sie stellenweise aber dezentral organisiert. (picture alliance / Kristy O'Connor)
"The policy was to stay at home. We change it now to: Stay alert. So for now: Stay alert, control the virus and safe lives." Zuhause oder nur wachsam bleiben? Und noch eins war unklar: Als Boris Johnson Mitte Mai die Lockerung des Lockdown ankündigte, wussten die Briten nicht: Sprach der Premier des Vereinigten Königreichs zu ihnen allen – also zu Engländern, Schotten, Walisern und Nordiren - oder galt die neue Linie einzig für England?
"Gerade zu Anfang der Pandemie gab es viel Verwirrung, weil es im Vereinigten Königreich diese merkwürdige Besonderheit gibt, dass die Regierung in manchen Bereichen das Vereinigten Königreich als Ganzes repräsentiert, aber in anderen Bereichen nur für England spricht."
"Es ist eine chaotische Vereinbarung"
Die Verwirrung war groß, das Chaos des britischen Zentralstaats perfekt, erinnert sich Vaughan Roderick – seit über vierzig Jahren ist er Reporter für die BBC in Wales. Der Grund für das Durcheinander: Während Wales, Schottland und Nordirland eigene, dezentrale Landesregierungen haben, kommt Boris Johnson eine Doppelrolle zu. Er regiert als Premier das gesamte Vereinigte Königreich; er ist aber auch englischer Landeschef, weil England keine von der Zentralregierung separate Landesregierung hat.
Als der Premier mit dem zerzausten Haar Mitte Mai den Lockdown lockerte, vergaß er also der Bevölkerung in seiner Fernsehansprache ein wichtiges Detail mitzuteilen: Dass er nur für England sprach. "Es ist eine chaotische Vereinbarung. Das ist nicht wie im Deutschland, wo es eine schriftliche Verfassung gibt, in der die Bund-Länder-Kompetenzen eindeutig festgehalten sind."
Wenn Vaughan Roderick über die Machtverteilung im Königreich spricht, kommt das Urgestein der walisischen BBC schon mal ins Seufzen. Das Verhältnis zwischen der zentralistischen Westminster-Regierung und den dezentralen Landesparlamenten – eine chaotische Angelegenheit.
Dezentrale Strukturen in der Krisenzeit womöglich vorteilhaft
Das zeigte sich auch während der Corona-Pandemie: Schottland ist die unabhängigste der Nationen, hat am weitreichendsten eigene Gesetzgebungskompetenzen, gefolgt von Nordirland und Schlusslicht Wales. Mit dem Ergebnis, dass Schottland dem britischen Coronavirus Act, also dem Pandemiegesetz, in 30 Klauseln zustimmen musste, Nordirland in 27 und Wales in 17. Dennoch habe sich die dezentrale Struktur in der Krise bewährt:
"Wenn Sie sich die Sterberaten in Wales, Schottland und Nordirland angucken, liegen sie in etwa im europäischen Durchschnitt, während die Sterberaten in England europaweit mit am höchsten sind."
Für Vaughan Roderick ein Beleg dafür, dass die Landesregierungen das Virus besser in den Griff kriegen als die Zentralregierung in London. Jetzt, nach zwanzig Jahren, sei der Bevölkerung klar geworden, dass sie nicht, wie oft behauptet, machtlos seien, meint der Journalist. Zuständig sind sie zum Beispiel für die Bildungs- und Gesundheitspolitik und – eben auch für viele der Lockdown-Maßnahmen in Pandemiezeiten. In einem fundamentalen Punkt aber ist die Abhängigkeit groß, wendet Rodericks Kollege von der schottischen BBC Philip Sim in einem Interview des Senders ein:
Landesregierungen sind finanziell abhängig von London
"Die meisten Lockdown-Maßnahmen werden in Schottland von schottischen Ministern entschieden, aber es gibt eine große finanzielle Abhängigkeit von der Zentralregierung, die sich zum Beispiel bei der Bezahlung des Zwangsurlaubs zeigt: Wenn die Zentralregierung in Westminster nicht für den Zwangsurlaub zahlen würde, hätte die schottische Landesregierung keinen finanziellen Spielraum gehabt, um den Lockdown aufrechtzuerhalten."
Kurzum: Die Anweisung "Stay at home", hätte die schottische Landesregierung faktisch nicht ausgeben können, wenn die Zentralregierung – ähnlich wie bei der deutschen Kurzarbeit – nicht länger für die Gehälter der Arbeitnehmer im Zwangsurlaub aufgekommen wäre. Die Landesregierungen hängen also finanziell am Tropf von Westminster.
Dennoch ist ihr politischer Spielraum wohl nie stärker zu Tage getreten als in den vergangenen Monaten. Auf die Entscheidung, die der Bevölkerung in Wales am deutlichsten gemacht haben dürfte, wie viel Macht ihre Landesregierung hat, dürfte die walisische Labour-Regierung selbst allerdings nicht gerade stolz sein. Denn die Partei, die sich selbst als proeuropäisch und weltoffen zeigt und sich in Wales gegen den Brexit positionierte sorgte jetzt, zum ersten Mal seit 500 Jahren, für Grenzkontrollen zwischen England und Wales.