Dienstag, 19. März 2024

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Corona-Szenarien für den Herbst
"Je früher wir handeln, desto kürzer ist der Lockdown"

Die zweite Corona-Welle hat Deutschland erfasst, und mit ihr steigt auch die Zahl älterer Infizierter wieder an. Eine Modellierungsstudie prognostiziert dementsprechend einen deutlichen Anstieg der Todesfälle. Die Forscherin Viola Priesemann erklärt, warum ein kurzer Lockdown jetzt richtig ist.

Viola Priesemann im Gespräch mit Ralf Krauter | 27.10.2020
Eine weggeworfene Mundschutzmaske.
Ist ab Donnerstag in Mecklenburg-Vorpommern und ab 1. Mai in Hamburg größtenteils nicht mehr nötig: die Mundschutzmaske. (dpa / Winfried Rothermel)
Der Anstieg der Corona-Neuinfektionen seit dem Sommer wurde zunächst hautpsächlich von jüngeren Menschen verursacht, von denen nur wenige an oder mit dem Virus sterben. Doch seit Anfang September steigen die gemeldeten Coronavirus-Fälle in den älteren Generationen über 60 Jahre massiv an, konstatieren die Autoren der Studie "Vorboten einer zweiten Welle", die am 13. Oktober veröffentlicht wurde. Dies deute darauf hin, dass die vulnerableren Altersgruppen - anders als im Sommer - nicht mehr gut geschützt seien.
Der Schutz der Risikopersonen war demnach möglich, solange die Fallzahlen niedrig waren. Wenn die Anzahl der Neuinfektionen aber so hoch ist, dass es sehr lange dauert, bis Testergebnisse vorliegen und die Gesundheitsämter nicht mehr mit der Kontaktnachverfolgung hinterherkommen, wird die Übertragung auf ältere Menschen wahrscheinlicher. Denn dann bleiben immer mehr Infizierte unentdeckt, die das Virus unbeabsichtigt übertragen - auch auf Risikopersonen. Die Wissenschaftler nennen das den Kipppunkt.
Eine Frau lässt sich testen
"Wir wissen nicht mal, wie viel Leute in den Gesundheitsämtern arbeiten"
Die Gesundheitsämter haben aktuell große Probleme, die Corona-Kontaktketten nachzuverfolgen, sagte Ute Teichert, Vorsitzende der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, im Dlf.
"Aus unserer Sicht ist die Situation seit Mitte September außer Kontrolle geraten, zumindest in den ersten Landkreisen", sagte die Physikerin und Co-Autorin der Studie, Viola Priesemann, im Deutschlandfunk. "Das ist für uns der Anfang des Kippens. Seit Mitte September sehen wir vermehrte Infektionen und ein vermehrtes Überspringen zu den Älteren."
Priesemann leitet eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen und entwickelt gemeinsam mit einem Team von Spezialisten seit Monaten Computermodelle, welche die Ausbreitung und Eindämmungsmöglichkeiten für SARS-CoV-2 vorhersagen sollen.

Anstieg der Todesfälle prognostiziert

Die Wissenschaftler gehen in ihrem Papier vom 13. Oktober davon aus, dass die Infektionssterblichkeitsrate bei älteren Menschen ansteigen wird. Die Vorhersagen liegen - je nach Modellierung - zwischen 150 und 300 wöchentlichen Todesfällen Anfang November. Die Studienautoren betonen, die Anzahl an Todesfällen könnte sogar noch schneller ansteigen, wenn eine zweite Welle ungebremst eintritt.
150 Coronatote wöchentlich seien noch wenig im Vergleich zu normalerweise durchschnittlich 700 Todesfällen wöchentlich in der Altersgruppe über 80, sagte Priesemann im Dlf. Doch derzeit verdoppelten sich die Todeszahlen etwa alle zehn Tage. Aus den 150 pro Woche würden erst 300, dann 600. Nach zwei Verdopplungszeiten wäre man also bereits bei den normalerweise erwarteten Sterbezahlen angelangt und der Zustand der sogenannten Übersterblichkeit wäre erreicht.
Die Anzahl der wöchentlichen COVID-19-Fälle(links) sowie die Anzahl der vorhergesagten und tatsächlichenCOVID-19-assoziierten Todesfälle für verschiedene Altersgruppen (rechts)
Die Anzahl der wöchentlichen COVID-19-Fälle(links) sowie die Anzahl der vorhergesagten und tatsächlichenCOVID-19-assoziierten Todesfälle für verschiedene Altersgruppen (rechts) (Screenshot MPG/arxiv)

Szenarien für den Umgang mit der zweiten Welle

Szenario 1: Ein kurzer Lockdown
Um die Kontrolle wieder herzustellen, müssen die Fallzahlen gesenkt werden, betonte Priesemann. Eine Möglichkeit sei ein harter Cut: "Ein temporärer, kurzer Lockdown würde wahrscheinlich typischerweise reichen, um die Fallzahlen wieder runterzubringen in den Bereich, dass die Gesundheitsämter Luft haben und die Kontaktnachverfolgung wieder machen können." Sobald die Ausbreitung wieder kontrollierbar sei, seien auch wieder mehr Freiheiten für die Bevölkerung möglich.
Die Physikerin hält den temporären Lockdown in erster Linie für ein Instrument für Landkreise, in denen die Zahl der Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche über 50 liegt. Wenn es nur um einige Landkreise gehe, seien lokale Lockdowns eine gute Maßnahme. In der jetzigen Situation allerdings, wo die Lage flächendeckend außer Kontrolle geraten sei, sei eine konzertierte Aktion wichtig, bei der alle betroffenen Landkreise einen "Reset" machten - was einem bundesweiten Lockdown nahe käme.
Einschätzung von zwei Ökonomen:

DIW-Chef Marcel Fratscher plädiert für kurzen, konsequenten Lockdown

Ökonom Straubhaar "Existenzgefährdende Welle für kleine Betriebe"

Je länger man damit warte, desto länger dauere es, bis man zahlenmäßig wieder in der Lage sei, die Ausbreitung zu kontrollieren, erklärte Priesemann. Zudem seien in manchen Landkreisen die Fallzahlen so hoch, dass es ohnehin eine Zeit brauche, bis sie wieder auf ein kontrollierbares Maß geschrumpft seien. Die Erfahrung der vergangenen Monate zeige, dass sich Fallzahlen nach einer strikten Maßnahme innerhalb einer Woche halbierten.
Das Foto zeigt eine Frau mit Maske in einer Straße Ende August in Lyon.
Unentdeckte Virusträger als Treiber der Pandemie
Die Gesundheitsämter können die Ausbreitung von SARS-CoV-2 begrenzen. Unentdeckte Träger des Virus dürften aber höchstens je zwei Personen anstecken, sagte Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut im Dlf.
Szenario 2: Kontrolliertes Gegensteuern
Um zu verhindern, dass sich das Virus lawinenartig in der Bevölkerung ausbreitet, muss die effektive Reproduktionszahl wieder unter 1 gedrückt werden, also die Zahl der Menschen, die ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Derzeit wird hier ein kontrolliertes Gegensteuern mit einer Vielzahl von Maßnahmen versucht. Dabei hat die Kontaktnachverfolgung der Gesundheitsämter laut Priesemann den größten Einfluss auf die Ausbreitung beziehungsweiseauf die Eindämmung der Pandemie. Andere Einzelmaßnahmen seien dagegen viel weniger wirksam.
Kontaktreduzierungen oder frühes Zuhause-Bleiben bei Krankheitssymptomen könnten zwar in kleinem Maß helfen, wenn es darum gehe, den R-Wert von über 1 auf kurz unter 1 zu drücken. Wenn aber die Kapazität der Gesundheitsämter überschritten sei, brauche es eine massive Änderung, um die Kontrolle wieder herzustellen. Andere Maßnahmen drohten zu verpuffen. "Ich denke, dass es nicht reicht, wenn sich 70 Prozent der Leute ein bisschen zurücknehmen und 30 Prozent nicht", so Priesemann. "Ohne konzertierte Aktion wird es sehr schwieirig sein, Fallzahlen wieder runterzubekommen."
Szenario 3: Nur Alte und Kranke schützen
Anfang Oktober wandten sich drei Epidemiologen in den USA mit der "Great Barrington Declaration" an die Öffentlichkeit. Um gesundheitliche und gesellschaftliche Nebenwirkungen der Pandemiebekämpfung zu vermeiden, schlagen sie ein Konzept des "fokussierten Schutzes" vor: Menschen in der Hochrisikogruppe sollen von dem Erreger so gut wie möglich abgeschirmt werden, der Rest lebt sein Leben weiter, als ob das Coronavirus nicht existierte. So könne sich auf natürliche Weise eine "Herdenimmunität" aufbauen, von der indirekt auch die älteren und vorerkrankten Bürgerinnen und Bürger profitieren.
Kritiker monieren jedoch, eine Isolation der Menschen mit hohem Covid-19-Risiko sei weder ethisch vertretbar noch praktisch umsetzbar. Die Folge wären steigende Opferzahlen. Zudem gebe es auch nach einer überstandenen COVID-19-Erkrankung mögliche Folgekomplikationen.
Grafik: Die Entwicklung in Deutschland – eine Chronik
Was die Neuinfektionen für die kommenden Wochen bedeuten
Eine Epidemie bedeutet ständige Veränderung. Die Situation ist im Fluss, doch wohin? Ein Überblick über Zahlen und Trends zum Coronavirus – für Deutschland und die Welt.

International hat die Great Barrington Declaration starken Widerspruch aus der Wissenschaft erfahren: Eine Gruppe von Forscherinnen und Forschern, unter ihnen auch Max-Planck-Forscherin Viola Priesemann aus Göttingen, veröffentlichte im Fachmagazin "The Lancet" eine Gegenerklärung: das John Snow Memorandum. Darin kritisieren sie die Idee, dass eine natürliche Herdenimmunität zu erreichen sei, indem man dem Virus keine Grenzen setzt. Dies gehe vielmehr nur durch Impfen.
Im Deutschlandfunk betonte Priesemann, dass man irgendwann die Grenze der Krankenhaus-Kapazitäten erreiche, wenn man die Fallzahlen steigen lasse. Noch seien die Zahlen keine große Belastung. Doch wenn man bei 40.000 Infektionen am Tag sei, "dann spätestens wird man das sicherlich im Gesundheitssystem merken". Das sei in zwei oder drei Verdopplungszeiten der Fall.
In allen Ländern, in denen die Corona-Neuinfektionszahlen stark gestiegen seien, sei irgendwann doch ein Lockdown beschlossen worden. Der dauere dann wie in Israel einige Wochen, so Priesemann. "Je früher wir handeln, desto kürzer ist er."
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)