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COVID-19
Neandertaler-Genvariante erhöht Risiko für schweren Verlauf

SARS-CoV-2-Infizierte, die alt sind und unter Vorerkrankungen leiden, haben häufiger einen schweren Verlauf. Das Risiko dafür erhöht offenbar auch eine bestimmte Genvariante. Diese haben wir sehr wahrscheinlich von den Neandertalern geerbt, wie eine neue Studie zeigt.

Von Christine Westerhaus | 02.10.2020
Die Nachbildung eines älteren Neandertalers im Neandertal-Museum in Mettmann.
In Europa trägt einer von sechs Menschen die Risikovariante. In Afrika kommt sie so gut wie gar nicht vor. (picture-alliance/ dpa - Federico Gambarini)
Es geschah vor etwa 60.000 Jahren. Damals begegneten sich Neandertaler und der moderne Mensch und zeugten gemeinsame Nachkommen. Die Folge: Im Genom aller heute lebenden Menschen außerhalb Afrikas finden sich Spuren von Neandertaler-DNA. Zu diesem Erbe der Neandertaler zählt auch eine Gruppe von Genen, die das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf bei COVID-19 erhöhen. Das haben Hugo Zeberg vom Karolinska Institut in Stockholm und sein Kollege Svante Pääbo entdeckt, als sie Gensequenzen, die wegen COVID-19 ins Visier der Forscher geraten waren, mit dem Erbgut von Neandertalern verglichen. Hugo Zeberg:
"Es war völlig überraschend, diese Übereinstimmung zu entdecken. Ich bin fast vom Stuhl gefallen, als ich das gesehen habe."
Gefährliches Erbe
Dieses gefährliche Erbe der Neandertaler kommt jedoch nicht bei allen Bevölkerungsgruppen gleich häufig vor. In Europa trägt etwa jeder sechste diese Neandertaler-Gene in sich. In Südasien sind viel mehr Menschen betroffen.
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"Dort besitzt etwa die Hälfte der Menschen diese spezielle Genvariante, und das ist ungewöhnlich viel. Deshalb diskutieren Forscher, ob diese Erbinformation möglicherweise früher einmal vorteilhaft war, weil sie die Menschen vor bestimmten Krankheiten geschützt hat. Zum Beispiel vor der Cholera, die in Südasien ja sehr häufig vorkommt."
Zusammenhang mit Zytokinsturm?
Wie häufig dieses Risikogen für einen schweren Verlauf von COVID-19 in der Bevölkerung vorkommt, könne allein jedoch nicht erklären, warum manche Länder stärker von der Pandemie betroffen sind, betont Zeberg. Und die Forscher wissen auch noch nicht genau, wie die von Neandertalern geerbte Genvariante die Immunreaktion heute lebender Menschen beeinflusst. Vieles spricht aber dafür, dass sie sich auf den Zytokinrezeptor der Zellen auswirkt. Zytokine sind Botenstoffe, die Entzündungsreaktionen im Körper auslösen. Gleichzeitig wird ein "Zytokinsturm", also eine überschießende Reaktion des Immunsystems, dafür verantwortlich gemacht, dass eine Sars-CoV-2-Infektion bei manchen Menschen besonders schwer verläuft.
"Unsere Hypothese lautet, dass der Zytokinrezeptor bei dieser Genvariante hochreguliert ist. Sodass der Körper mit einer stärkeren Immunreaktion auf die Ausschüttung von Zytokinen reagiert und deshalb schwerer an COVID-19 erkrankt."
Neandertaler-Gene nicht nur nachteilig
Das bedeute aber nicht, dass das Erbe der Neandertaler immer nur Nachteile hat, betont Hugo Zeberg. Denn bei anderen Infektionskrankheiten könnte es ein Vorteil sein, wenn der Körper heftig auf die Ausschüttung von Zytokinen reagiert. Außerdem haben die Forscher in einer früheren Studie gezeigt, dass das prähistorische Rendezvous mit den Neandertalern für manche Frauen durchaus positive Folgen hatte.
"Wir haben uns in dieser Untersuchung den Rezeptor für das Gelbkörperhormon angesehen, das das Wachstum der Gebärmutterschleimhaut anregt. Und eine Genvariante, die auf Neandertaler zurückgeht, scheint bei Frauen die Zahl der Fehlgeburten zu reduzieren und zu weniger Blutungen in der frühen Schwangerschaft zu führen. Das Erbe der Neandertaler hat also gute und schlechte Seiten und ist ein zusätzlicher Beitrag zur genetischen Vielfalt in der menschlichen Population."
Einfacher Test zur Risikobestimmung?
Für Menschen mit dem Neandertaler-Risikogen für COVID-19 ist das Risiko, nach einer SARS-CoV-2-Infektion so schwer zu erkranken, dass sie künstlich beatmet werden müssen, schätzungsweise dreimal höher als bei Menschen ohne diese Genvariante. Nun wollen die Forschenden herausfinden, ob sich dieses Risiko möglicherweise mit einem einfachen Test voraussagen lässt.