
Seit Jahren ermitteln mehrere Staatsanwaltschaften und Gerichte bundesweit, um einen der größten Steuerskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte aufzuklären: Banker, Anwälte, Investoren haben von 2001 bis 2016 den deutschen Staat mit Steuertricks und Aktiengeschäften um Milliardensummen betrogen: durch das klassische Cum-Ex-Geschäft um mindestens 10 Milliarden Euro und mit den verwandten und später ausgeführten Cum-Cum-Geschäften um weitere 20 Milliarden Euro. Beide Vorgehensweisen haben eine gemeinsame Grundstruktur, unterscheiden sich aber.
Was sind Cum-Ex-Geschäfte?
Cum-Ex-Geschäfte sind eine bestimmte Form von Aktiendeals um den Dividendenstichtag einer Aktiengesellschaft herum. Investoren und Banken handeln Aktien eines DAX-Konzerns mit ("cum") und ohne ("ex") Dividende, also der Gewinnbeteiligung der Anleger. Auf die Dividende wird bei Privatpersonen automatisch eine Kapitalertragssteuer in Höhe von 25 Prozent erhoben. Institutionelle Investoren, wie zum Beispiel Fonds oder Banken, sind von der Steuer ausgenommen. Sie können sie vom Staat zurückfordern.
Bei Cum-Ex-Geschäften werden Steuern gleich mehrfach zurückgefordert. Dabei machen es die handelnden Akteure dem Staat schwer zu entscheiden, wer Anspruch auf diese Steuerrückerstattung hat. Wem die Aktien wann gehörten, konnten Finanz- und Aufsichtsbehörden lange nicht nachvollziehen.
Beispiel für Cum-Ex-Deals mit drei Akteuren:
Eine Aktiengesellschaft steht kurz vor ihrem Dividendenstichtag. Großinvestor A hält ein Aktienpaket dieser Aktiengesellschaft. Die Aktien sind aktuell vergleichsweise viel wert, da die Dividende noch eingepreist ist. Käuferbank B kauft nun Aktienpakete dieser Aktiengesellschaft als Leerverkäufe von einem dritten Akteur C (nicht von A!). Das heißt: Leerverkäufer C hat zu diesem Zeitpunkt die Aktien (noch) nicht in seinem Besitz. A kassiert am Stichtag die Dividende und zahlt darauf Steuern. Dafür bekommt er eine Bescheinigung. Mit dieser kann er unter bestimmten Bedingungen die Steuern wieder zurückfordern und tut das auch.
Nachdem die Dividende ausgezahlt wurde, hat die Aktie an Wert verloren. Jetzt kauft Leerverkäufer C sich die Aktien von Großinvestor A zu dem aktuell geringeren Wert (minus Dividende). Leerverkäufer C liefert dann die Aktien an Käuferbank B und zahlt dieser wegen des Wertverlusts einen Ausgleich. Diese Entschädigung entspricht aber wiederum nicht der vollen Höhe der Dividende, sondern der Netto-Dividende (Dividende minus der Kapitalertragssteuer). Leerverkäufer C macht also ein gutes Geschäft.
Die Käuferbank B hat aber auch keinen Verlust: B bekommt eine Steuerbescheinigung für die vermeintlich abgeführte Kapitalertragssteuer (sie hatte ja ursprünglich Cum-Aktien gekauft) und holt sich ihr fehlendes Geld durch die Rückerstattung vom Staat zurück. Die Käuferbank B verkauft die Aktien wieder an Großinvestor A zu dem Preis, zu dem A sie an den Leerverkäufer C verkauft hat. Käuferbank B und Aktionär A können sich so die vermeintlich gezahlten Steuern insgesamt zweimal zurückerstatten lassen und sich die "Rendite" durch Provisionen und Beraterhonorare untereinander aufteilen.
So funktionieren Cum-Ex-Geschäfte

Was versteht man unter Cum-Cum-Geschäften?
Cum-Cum-Geschäfte laufen ähnlich ab. Hier geht es aber darum, Steuerregeln für ausländische Inhaber deutscher Aktien zu umgehen. Ein ausländischer Inhaber deutscher Aktien, zum Beispiel ein Pensionsfonds in den USA, kann keine Erstattung der Kapitalertragsteuer beantragen. Deshalb verleiht er seine Aktien kurz vor dem Dividendenstichtag an eine deutsche Bank oder einen Spezialfonds, die die Steuer zurückfordern können. Kurz nach der Ausschüttung wird die Leihe beendet und die deutsche Bank zahlt einen vereinbarten Leihbetrag, der niedriger ist als die Dividende.
Steuerausfälle durch Cum-Cum- und Cum-Ex-Geschäfte

Welche Bedeutung hatte das BGH-Urteil vom Juli 2021?
Das Urteil vom 28. Juli 2021 war richtungsweisend. In dem höchstrichterlichen Urteil entschieden die Richter erstmals, dass es sich bei den Cum-Ex-Geschäften von Investoren und Banken um strafbare Steuerhinterziehung handelt. Auch die Gewinne aus den Geschäften können seitdem eingezogen werden. Mit dem Grundsatzurteil bestätigte das Gericht auch die Verurteilung zweier Aktienhändler wegen Steuerhinterziehung beziehungsweise Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Außerdem wurde die Warburg Bank verurteilt, 176 Millionen Euro an die Staatskasse zu zahlen.
Am 11. August 2022 bestätigte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Bonn einen entsprechenden "Handelsblatt"-Bericht, dass die Behörde Zahlungsaufforderungen in Höhe von fast 191 Millionen Euro an die Warburg-Bank und einen britischen Aktienhändler verschickt habe. Etwa 176 Millionen Euro davon entfallen auf die Privatbank. Einen Tag später hat die Staatsanwaltschaft Bonn die Einziehung der 176 Millionen Euro von der Warburg-Bank jedoch ausgesetzt. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft sagte am 12. August, das Geldinstitut habe geltend gemacht, diese Zahlungen im Rahmen des Steuerverfahrens bereits an das Finanzamt Hamburg geleistet zu haben. Dies werde jetzt vom Landgericht Bonn geklärt. Ein Banksprecher betonte: "Mit den durch Warburg geleisteten Rückzahlungen an das Finanzamt in Hamburg (im Steuerverfahren) sind die wegen der sogenannten Cum-Ex-Aktiengeschäfte der Warburg Bank für die Jahre 2007 bis 2011 vom Finanzamt festgesetzten Steuern vollständig beglichen."
Im Cum-Ex-Komplex sind zahlreiche Strafverfahren vor deutschen Gerichten anhängig. Laut des Bürgerverbands "Finanzwende" liegen allein bei der Staatsanwaltschaft Köln, die demnach für die Mehrheit der Fälle zuständig ist, inzwischen mehr als 100 Fallkomplexe mit über 1.400 Beschuldigten. "Im Grunde genommen sind wir noch ganz am Anfang dieser Aufarbeitung", sagt
Journalist Massimo Bognanni
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Welche Rolle spielte Hanno Berger?
Der wohl prominenteste Fall im Cum-Ex-Komplex ist der des ehemaligen Steueranwalts Hanno Berger. Er ist zwar nicht Erfinder der Cum-Ex-Deals, gilt aber als eine Schlüsselfigur, weil er das Geschäftsmodell für Investoren geöffnet hat. Berger entzog sich zunächst jahrelang der Strafverfolgung, indem er in die Schweiz floh, im Februar 2022 wurde er ausgeliefert und der besonders schweren Steuerhinterziehung in drei Fällen angeklagt.
Vor dem Landgericht Bonn legte er im August 2022 ein Teilgeständnis ab. Er räumte ein, ab 2009 mit bedingtem Vorsatz gehandelt zu haben. Berger soll die Privatbank M.M. Warburg zur Aufnahme von Cum-Ex-Geschäften bewogen und maßgeblich geholfen haben, die nötigen Strukturen einzurichten. Zudem soll er gutgläubige Investoren angeworben haben. Berger selbst betrachtet die Cum-Ex-Geschäfte nicht als unrechtmäßig. Gegenüber dem „Handelsblatt“ hatte er gesagt, die Möglichkeit von doppelten Steuererstattungen sei eine Gesetzeslücke.
Im Dezember 2022 verurteilte ihn das Landgericht Bonn zu acht Jahren Haft. Am 30. Mai 2023 verurteile ihn das Landgericht Wiesbaden wegen Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und drei Monaten. Außerdem sollen aus seinem Vermögen Taterträge von 1,1 Millionen Euro eingezogen werden. Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig. Berger hat Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt und will die Cum-Ex-Urteile wegen Verfahrensfehlern kippen: Sein Anwalt Jürgen Graf setzt darauf, dass die Schuldsprüche von deutschen Gerichten gegen Berger unvereinbar mit dem Schweizer Auslieferungsbescheid von 2021 sind.
Welche Rolle spielte Olaf Scholz?
Im Zusammenhang mit den Cum-Ex-Geschäften der Warburg-Bank ist auch Bundeskanzler Olaf Scholz in den Fokus geraten. Der SPD-Politiker war von 2011 bis 2018 Erster Bürgermeister von Hamburg. Dort geht ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss der Bürgschaft nun der Frage nach, ob Scholz damals seine schützende Hand über die Warburg-Bank gehalten hat. Die Generalanwaltschaft Hamburg sieht bislang noch keinen Anlass für Ermittlungen gegen Scholz.
Die Union im Bundestag forderte einen Untersuchungsausschuss zur Rolle von Scholz in der Warburg-Affäre. Die Ampel-Parteien verhinderten das im Juli 2023. CDU und CSU kündigten an, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.
Was wurde bisher getan, um Cum-Ex-Geschäfte zu unterbinden?
Die Politik habe über Jahre verschlafen, wirklich gegen diese Geschäfte vorzugehen, so Yannick Schwarz vom Netzwerk Steuergerechtigkeit im Interview mit Deutschlandradio Kultur (04.04.2022). Jetzt passiere aber sehr viel. Die deutsche Politik zeige "wirklich ihre Zähne". So sei beispielsweise die Auslieferung Hanno Bergers von der Schweiz nach Deutschland durchgesetzt worden. Die Schweiz liefert normalerweise nicht aufgrund von Steuerstraftaten aus.
Problematisch für die Strafverfolgung sei aber die "extreme Waffenungleichheit" zwischen dem Finanzsektor und der Steuer- und Finanzverwaltung. Es fehle immer mehr Personal, so Schwarz. So werde man Steuerkriminalität langfristig nicht verhindern können.
Das Bundesfinanzministerium betonte gegenüber dem Dlf: "Die Finanzverwaltung verfolgt mit Nachdruck die Aufklärung einschlägiger Cum-Ex-Gestaltungen." Seit Anfang 2020 gebe es beim Bundeszentralamt für Steuern die "Sondereinheit gegen Steuergestaltungsmodelle am Kapitalmarkt". Mit dem "Gesetz zur Modernisierung der Entlastung von Abzugsteuern und der Bescheinigung der Kapitalertragsteuer" will man die Transparenz bei Dividendenzahlungen erhöhen. Und: Der gesetzliche Schutz für Whistleblower soll verbessert werden.

Zudem gibt es seit 2011 neue Auszahlungsregeln. Die Aktiengesellschaften überweisen seither die Dividenden brutto an die Deutsche Börse, welche sie an die Depotbanken verteilt. Diese Depotbanken führen die Kapitalertragssteuer ans Finanzamt ab. "Und nur wer Steuer abführt, darf auch eine Bescheinigung ausstellen und damit fällt sozusagen das in eine Hand", erklärte der Mannheimer Betriebswirt Christoph Spengel im Dlf (28.07.2021).
og, dpa, dgb