Freitag, 29. März 2024

Archiv

Dada und die Folgen
Subversive Kunst

Vor 100 Jahren nahm mit Dada eine Anti-Kunst im Zürcher "Cabaret Voltaire" ihren Anfang. Der Bruch mit jeglicher Tradition, die Zerschlagung aller herkömmlichen Kunstformen eröffnete unendlich viele neue Möglichkeiten. Jedes Verfahren und nahezu sämtliche Materialien sind dabei erlaubt. Die zeitgenössische Kunst ist ohne diese Lizenz weder vorstellbar noch zu verstehen.

Von Joachim Büthe | 17.04.2016
    Im Cabaret Voltaire, einer Künstlerkneipe in Zürich, wurde 1916 der Dadaismus begründet.
    Im Cabaret Voltaire, einer Künstlerkneipe in Zürich, wurde 1916 der Dadaismus begründet. (dpa / picture alliance / Thierry Gachon)
    Dada hat den Weg freigemacht. Der Bruch mit jeglicher Tradition, die Zerschlagung aller herkömmlichen Kunstformen eröffnet unendlich viele neue Möglichkeiten, jedes Verfahren ist nun erlaubt und nahezu sämtliche Materialien stehen zur Verfügung. Die zeitgenössische Kunst ist ohne diese Lizenz weder vorstellbar noch zu verstehen. Das ist eine der Konsequenzen, die Dada langfristig gehabt hat, aber es ist gewiss nicht das, was seine Protagonisten intendiert hatten.
    Wie auch immer man Dada, das sich einer Definition stets entzogen hat, bezeichnen mag; am Anfang stand ein entschiedenes Statement: So kann es nicht weitergehen. Nicht mit der Kunst und nicht mit der Gesellschaft. Dada ging über die Kunst hinaus oder auch hinter sie zurück. Diese Aussage ist schon in den spielerischen Züricher Provokationen von 1916 enthalten, noch deutlicher wird sie, als Dada 1918 in Berlin ankommt. Raoul Hausmann, Mitbegründer der Berliner Dada-Gruppe und lebenslanger Dadaist, beschreibt den Kontext des ersten Dada-Abends:
    "Bankrott-Erklärung aller heiligsten Werte der Bürger"
    "Der erste Abend am 12. April 1918 war zum Teil noch eklektisch, aber die Wirkung auf das von epileptischer Wut erfasste Publikum war ungeheuer und unmittelbar. Es war die Bankrott-Erklärung aller heiligsten Werte der Bürger. Einige Monate später zwangen die militärischen Niederlagen und der Aufstand der Matrosen von Kiel die Generäle zum Waffenstillstand vom 11. November 1918. Das war die Revolution. Schluss mit den Träumen von einer imperialistischen allmächtigen deutschen Vorherrschaft. Spartakus war auf den Straßen, an allen Orten, und im erschütterten Berlin regte sich Dada.
    'Wer stehen bleibt, wird erschossen', Aufruf des Polizei-Präfekten. Weder Gas, noch Wasser, noch Elektrizität, und dies seit mehreren Tagen. An jeder Straßenecke Kontrolle wegen Waffentragen, Massen-Manifestationen, Meetings für Spartakus, nachts der Lärm der Maschinengewehre im Centrum, wo SIE sich im großen Gebäude des Lokalanzeigers verbarrikadiert hatten. Und dabei sollte man gut geschliffene Verse machen, Stil-Leben oder nackte Frauen malen? Zum Teufel!"

    Kunst als Opposition. Wer Ende der 60er-Jahre als junger Mensch den Neumarkt der Künste, Vorläufer des heutigen Kölner Kunstmarkts, besuchte, hat vermutlich viele der dort gezeigten Arbeiten nicht verstanden, denn kaum jemand hatte die Voraussetzungen dazu. Was man aber verstehen konnte, war, dass hier eine andere Art zu denken und zu leben vorgeführt wurde als die bis dahin bekannte und vertraute.
    In der Ausstellung "In Szene gesetzt - Aus Porträts werden Kleider" ist am 07.10.2015 im Lindenau-Museum in Altenburg (Thüringen) das Porträt Raoul Hausmann (r) von Conrad Felixmüller (1897-1977) und eine plastische Nachbildung (l) zu sehen. Studenten der Hochschule für Bildende Künste Dresden im Studiengang Theaterausstattung haben die auf ausgewählten Gemälden des Museums dargestellten Kostüme historisch genau nachempfunden und hergestellt.
    Im Lindenau-Museum in Altenburg ist das Porträt Raoul Hausmann von Conrad Felixmüller (1897-1977) sowie eine plastische Nachbildung zu sehen. (picture alliance / dpa / Martin Schutt)
    "Versuch, alle Ausdrucksformen auf Null zu reduzieren"
    Kunst, insbesondere die moderne und zeitgenössische Kunst, als Dekoration der Macht, die den Künstlern und Kunstvermittlern ein komfortables Einkommen verschafft, gab es erst in ihren Anfängen. Die Dada-Impulse hatten sich fortgesetzt, aber sie trafen nach und nach auf eine Realität, der es gelungen ist, die utopischen und subversiven Momente zu neutralisieren und einzukaufen. Greil Marcus hat in seinem Buch "Lipstick Traces" diese Momente sowie ihre Vor- und Nachgeschichte beschrieben:
    "Neben dem Versuch, alle Ausdrucksformen auf Null zu reduzieren, war die Nebeneinanderstellung scheinbar zusammenhangloser Phänomene die grundlegende Taktik der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn sich nachweisen ließ, dass die ästhetischen Kategorien falsch waren, so der zugrunde liegende Gedanke, dann könnten die gesellschaftlichen Barrieren als konstruierte Illusionen entlarvt, und die Welt könnte verändert werden. Der Schein trügt: So hieß damals die Botschaft, und so heißt sie heute.
    Der Unterschied - so lautet die Legende der Periode von 1910 bis 1930, in der überall in Europa Künstler auf Papier und Leinwand neue Welten erschufen (Welten, die so brutal neu waren, dass man aus heutiger Sicht die offizielle Geschichte des Jahrhunderts als den verzweifelten Rückzug vor diesen erschreckend klaren Utopias interpretieren muss, vor den neuen Welten, die in jeder Bildkomposition El Lissitzkys, jeder Fotografie Man Rays, jedem De‑Stijl-Entwurf enthalten sind) - ist der, dass die Botschaft damals schockierte, während sie heute noch nicht mal eine Botschaft ist."
    Dadaisten waren die Narren - Surrealisten die Buchhalter
    Der Siegeszug der Avantgarde ist ihr ästhetischer und materieller Gewinn, den allerdings andere abschöpften. Man Ray in seinem zugigen Pariser Atelier zum Beispiel hat von den Wertsteigerungen seiner Arbeiten nicht mehr profitieren können. In Frankreich ging Dada zunächst im bestens dokumentierten Surrealismus auf. Die Dadaisten waren die Narren, sagt Greil Marcus, die Surrealisten die Buchhalter.

    Dada verschwand, wenn man von den untergründigen Nachfolgern in den 50er‑Jahren absieht, von denen gleich die Rede sein wird, und tauchte in den 60er‑Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder auf als Neo-Dada. Hausmann wetterte gegen den Neo‑Dadaismus, trat jedoch bei neodadaistischen Veranstaltungen gern und polternd auf, froh, wieder heimgeholt worden zu sein in einen Zusammenhang, aus dem er sich nie verabschiedet hatte und dessen Wiederkehr ihm bei aller Kritik schon recht war. Joseph Beuys sah das Verhältnis von Kunst und ihrer Negation schon viel gelassener:
    Der amerikanische Maler, Fotograf und Filmemacher Man Ray 1966 in Köln vor einem seiner frühen Werke, Schwarz-weiß-Aufnahme.
    Der amerikanische Maler, Fotograf und Filmemacher Man Ray 1966 in Köln vor einem seiner frühen Werke. (dpa/picture alliance)
    "Mein Verhältnis zur Kunst ist gut, mein Verhältnis zur Anti-Kunst auch."

    Seitdem kann man beide nicht mehr auseinanderhalten.
    "Der neue Künstler protestiert. Er malt nicht mehr symbolistische und illusionistische Reproduktion, sondern handelt unmittelbar schöpferisch."
    Dies schrieb Tristan Tzara 1919, und seine untergründigen Nachfolger in den 50er-Jahren, die Situationisten, haben es zwar etwas anders ausgedrückt, aber so hätten sie es auch sagen können. Künstlerische Strategien sollten in unmittelbare Lebenspraxis überführt werden, sodass die Kunst als eigenständige Kategorie in ihr verschwände. Sie wird nicht mehr gebraucht, wenn die unentfremdete, durch keine institutionelle Ordnung beschnittene Individualität zum Ausgangspunkt der Zersetzung der bürgerlichen Ordnung wird. Diese antiautoritär-anarchische Haltung hat sich auch im Mai 1968 in Paris und anderswo niedergeschlagen.
    "Wer macht uns frei? Wir selbst, keine Partei." So hieß eine westdeutsche Parole zu dieser Zeit. Auch Malcolm McLarens Erfindung des Punks aus dem Geist des Situationismus verdankt sich dieser Grundhaltung. Die situationistische Internationale selbst hat sich, eingeschrumpft auf drei Mitglieder, 1972 aufgelöst. In den letzten 10 ‑ 20 Jahren kehrten die situationistischen Ideen zurück, wurden weiterentwickelt, verwässert, kontrovers diskutiert oder den heutigen Bedingungen angepasst. Sie wurden zu einem Steinbruch, aus dem man sich auch deshalb zwanglos bedienen konnte, weil eine konsistente situationistische Theorie bei dieser sich in ständiger Bewegung befindenden Gruppe von Individuen ein Widerspruch in sich wäre.
    Die Narren haben über die Buchhalter gesiegt
    In der Kunst bezieht sich die Wiederkehr der situationistischen Ideen weitgehend auf das Agieren im öffentlichen Raum, auch wenn Relikte dieser Aktionen in den musealen Raum zurückkehren können. Die Kunst wird nicht mehr aufgehoben in der politischen und sozialen Praxis, wie es unter anderem auch der Fluxus-Stratege George Maciunas gefordert hatte - ohne sich je daran zu halten - , sondern die soziale Praxis benutzt und benötigt das Refugium der Kunst, um politisch wirksam werden zu können.
    Die situationistischen Strategien des Umherschweifens (dérive), der Hervorbringung von ungewöhnlichen bis störenden Situationen im öffentlichen Raum und der Zweckentfremdung (détournement) unter anderem eben dieses Raumes kehren zurück. Es muss ja nicht gleich die Revolution sein. Mit der zumindest partiellen Rückeroberung des öffentlichen Raumes wäre auch schon viel gewonnen.
    Im Jahr 2002 protestiert das Ligna Radioballett, hervorgegangen aus einem freien Hamburger Radiosender, auf seine Weise gegen die Hausordnung, die sich der Hauptbahnhof in den 90er-Jahren gegeben hat. Es ist verboten, die Hand aufzuhalten, Tauben zu füttern, auf Sitzgelegenheiten zu liegen, überhaupt alles, was die Bahn für einen unnötigen Aufenthalt hält. Der Bahnhof als öffentlicher Raum ist damit kassiert.

    Das Radioballett fordert die Akteure, in diesem Fall also jeden, der sich beteiligen möchte, via Radio dazu auf, jene Gesten, die nun verboten waren, recht massenhaft zu zelebrieren. Als die Bahn davon erfährt, reagiert sie mit einem Verbot der Veranstaltung und droht mit Strafanzeigen. Auf dieses Versammlungsverbot wiederum reagiert Ligna unter anderem mit dem Einwand, es handele sich nicht um eine Versammlung, sondern um eine Zerstreuung.
    Friedrich Nietzsches Satz "Gott ist tot" und Tristan Tzaras Aussage "Die Kunst ist tot", zu lesen in der Ausstellung "Dada Universal" im Landesmuseum in Zürich.
    Friedrich Nietzsches Satz "Gott ist tot" und Tristan Tzaras Aussage "Die Kunst ist tot", zu lesen in der Ausstellung "Dada Universal" im Landesmuseum in Zürich. (picture alliance / dpa / Ennio Leanza)
    Lignas Strategie, ästhetische Aktionen im öffentlichen Raum und vor unvorbereitetem Publikum durchzuführen, steht in der Tradition der situationistischen Gruppe King Mob, die allerdings radikaler war. Sie schickte zur Weihnachtszeit Weihnachtsmänner in die Kaufhäuser, die das Spielzeug direkt aus den Regalen an die Kinder verteilten. Diese mussten dann mit ansehen, wie ihre Weihnachtsmänner verhaftet wurden. Zu Festnahmen ist es in Hamburg nicht gekommen.
    Das Radioballett ist nur ein Beispiel aus der Vielzahl der situationistisch inspirierten Aktionen, besonders im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Insofern haben die Narren über die Buchhalter gesiegt. Und die Beuyssche Sentenz zur Kunst und Anti-Kunst ließe sich variieren: Mein Verhältnis zur Politik ist gut, mein Verhältnis zur Anti‑Politik auch.
    "Wir fordern allen Ernstes die Gaudi"
    Subversive Aktionen folgen einem anderen Verständnis von Politik, das die herrschende Vorstellung von Politik ironisiert und attackiert, indem es sie nicht mehr ernst nimmt und so zu de-legitimieren versucht. Die situationistische Münchner Künstlergruppe S.P.U.R. veröffentlicht 1961 ein Gaudi-Manifest. Eine Ironisierung der so zahlreichen Manifeste der Avantgarde schwingt darin auch mit:
    "Wer in Politik, Staat, Kirche, Wirtschaft, Militär, Parteien, sozialen Organisationen keine Gaudi sieht, hat mit uns nichts zu tun. Boykottiert alle herrschenden Systeme und Konventionen, indem ihr sie nur als missratene Gaudi betrachtet. Unbrauchbarkeit ist unser Ziel: Gaudi ist unpopuläre Volkskunst. […] Wir fordern allen Ernstes die Gaudi. Wir fordern die urbanistische Gaudi, die unitäre, totale, reale, imaginäre, sexuelle, irrationale, integrale, militärische, politische, psychologische, philosophische […] Gaudi. Wir engagieren die ganze Welt für unsere Gaudi."
    Selber lächerlich gemacht werden wollte man allerdings nicht. Dann betrachtet man lieber die ganze Welt von außen und schleudert ihr das avantgardistische Ethos entgegen. Aus einem Flugblatt aus dem gleichen Jahr:
    "Nachdem man die Produkte der Avantgarde ästhetisch neutralisiert auf den Markt gebracht hat, will man nun ihre Forderungen, die nach wie vor auf eine Verwirklichung im gesamten Bereich des Lebens abzielen, aufteilen, zerreden und auf tote Gleise abschieben. Im Namen der früheren und jetzigen Avantgarde und aller vereinzelten, unzufriedenen Künstler protestieren wir gegen diese kulturelle Leichenfledderei und rufen alle schöpferischen Kräfte zum Boykott solcher Diskussionen auf […] Wir, die neue Werte schaffen, werden von den Hütern der Kultur nicht mehr nur lauthals bekämpft, sondern auf spezialisierte Bereiche festgelegt, und unsere Forderungen werden lächerlich gemacht."
    Dilettantismus als Form der Befreiung
    Es ist diese Mischung aus Protest, Provokation, Verweigerung und Größenwahn, gelegentlich gepaart mit Witz, sich außerhalb von Kunst und Gesellschaft stellend, aber auch innerhalb von beidem agierend, Kultur und Subkultur, Tun und Nichtstun, die sich in postdadaistischen Kunst- und Aktionsformen entfaltet. Die Mischungen sind jeweils anders, je nach Zeiten und Bedürfnissen.
    Die Erbitterung in der Restaurationsphase der Adenauer‑Jahre ist nicht vergleichbar mit der heutigen globalisierten Welt, die andere Formen des Protests und der ästhetischen Reaktion hervorgebracht hat. Zu Beginn der 80er-Jahre, der Punk-Impuls war noch laut und deutlich zu hören, die politisierten und theoretisierten Siebziger kaum vergangen, war es die Betonung des Dilettantismus als eine Form der Befreiung, die sich den Virtuosen und Spezialisten verweigert, die den Ausbruch aus den vorhersehbaren Ergebnissen versprach.
    "Dilletantismus auf musikalischen (aber auch allen anderen möglichen) Bereichen hat nichts mit Stillstand durch Nicht-Professionalität zu tun - ganz im Gegenteil - Entwicklung unter Einbeziehung aller möglichen und angeblich unmöglichen Bereiche, kann ein universellen Ausdruck finden, dem die Profis hilflos unterlegen sind. Schwerpunkte oder Ausgangspunkte, ob es nun das Stricken von Pullovern oder Musizieren in der Familie ist, findet man bei jedem Dilletanten.

    Mit der endlosen Kette der Verfeinerung und Ver‑Komplizierung von Instrumenten/Aufnahmetechniken, die einen 'Fortschritt' dort aufzeigen wollen, wo Leere sichtbar wird, kann Dilletantismus in provozierender Form einen Schock auslösen, indem er diesen sog. Fortschritt - der in seinen Grundgedanken zutiefst überaltert ist - mit Lärm und Krach attackiert. Lärm und Krach kann jeder machen, dazu braucht man keine Digital-Aufnahmetechnik oder ein 36 Spur Studio mit tausend Raffinessen.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Dada-Künstler Wolfgang Müller stellt das Buch "Volapük" vor, eine Anleitung zur Dada-Sprache. (Deutschlandradio / Oranus Mahmoodi)
    Die Vertreter des Fortschritts sehen die Gefahr, die auf sie zukommen könnte, wehren sie ab, indem sie die negative Substanz, die in den Wörtern wie Krach/Lärm und Chaos vorhanden ist, entsprechend herausstellen und als einziges Merkmal dieser Geräuscherzeugung denunzieren. Heilsamer Lärm ist dagegen ein Konzentrat verschiedenster Inhalte; Medikamente und Genußmittel zugleich, kann er Befreiung anregen."
    Subkultur von gestern ist Hochkultur von morgen
    So beschreibt es Wolfgang Müller 1982 im einleitenden Artikel zu der von ihm im Merve Verlag herausgegebenen kleinen Dokumentation "Geniale Dilletanten". Der heilsame Lärm war in anderer Form bereits im Züricher Cabaret Voltaire zu hören und über die Jahre an den verschiedensten Orten zu vernehmen. Die Dadaisten hat er nicht vor der Musealisierung bewahrt und warum sollte es den Genialen Dilletanten anders ergehen? Die Subkultur von gestern ist die Hochkultur von morgen, und nur wer neue Wege geht, landet irgendwann im Museum.
    So will es der Innovationszwang des Kunstsystems, den Boris Groys als eine Form der Aufmerksamkeitsverschiebung beschrieben hat, und nichts anderes hat Wolfgang Müller ja gefordert. Jetzt ist er mit der "Tödlichen Doris" und anderen Projekten aus dem Umfeld im Münchener Haus der Kunst angekommen. Das mitveranstaltende Goethe-Institut schickt die Ausstellung sogar auf Tournee.
    Die Subversion, wenn sie alt genug geworden ist, zeugt vom Innovationspotenzial einer Gesellschaft und kann zum Repräsentanten deutscher Kultur werden. Innovation ist ja inzwischen eine auf allen Gebieten geforderte Tugend. Der utopische Impuls, der in unbekannte Gegenden vorzustoßen sich wünscht, hat es schwer, noch als solcher wahrgenommen zu werden.
    "Utopian Pulse - Flares in the Darkroom" (Utopischer Impuls - Flackern im Darkroom), so hieß eine Ausstellung, die im letzten Jahr im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart und im Jahr zuvor in der Wiener Secession zu sehen war, ein Versuch, der Utopie unter diesen erschwerten Bedingungen noch einmal zu ihrem Recht zu verhelfen.

    "Utopie wird hier verstanden als eine immer noch unvollständige Alternative, als eine innerhalb des Bestehenden erfolgende Anrufung von etwas, das mit diesem unvereinbar ist, ja ihm feindlich gegenübersteht. Es handelt sich um eine Negation des Bestehenden, um die Feststellung, dass etwas fehlt, aber auch um ein - zwangsläufig unvollkommenes - Bekenntnis zu dem, was (noch) nicht ist: Utopie als Behauptung des Unrealisierten im Realen und gegen das Reale."
    Die Utopie wird angerufen wie eine Gottheit, die nicht leicht aufzufinden ist. Sie flackert durch den Darkroom. Organisiert ist die Ausstellung in Salons, die unter anderem Klimbim, Räume der Utopie oder Public Happiness genannt werden. Die klassischen musealen Werkformen sind kaum vertreten, stattdessen Performances, besonders in der turbulenten Sektion Klimbim, die dem schon erwähnten Gefühl der Befreiung gewidmet war, andere Aufführungen, Videos, Filme, Vorträge, Workshops. Der Titel der Sektion Public Happiness bezieht sich auf eine Überlegung Hannah Arendts, dass mit dem "pursuit of happiness" in der amerikanischen Verfassung nie das private, sondern immer das öffentliche Glück gemeint war.
    Realisation außerhalb des Kunstsystems
    Unter anderem war ein Vortrag der Performerin und Künstlerin Sylvi Kretzschmar zu hören, die den Hamburger Megafon Chor ins Leben gerufen hat. Entstanden ist er in der Auseinandersetzung um den Abriss und Neubau der sogenannten Esso Häuser im Stadtteil St. Pauli, die im Rahmen der Gentrifizierungsdebatte überregionale Aufmerksamkeit gefunden hat. Das Wortmaterial des Chores war Interviews mit Betroffenen entnommen worden, doch es bestimmte die Performance nicht allein:
    "Das so entstandene Textmaterial ist als Performance, politische Rede und Requiem eindringlich in Szene gesetzt. Zehn Frauen bilden als Chor ein kollektives und doch instabiles Subjekt - einen Schwarm. Ortlos und in wechselnden Konstellationen schweifen die Protagonistinnen im Raum umher. Gemeinsam gesprochene Worte, Parolen und Reflexionen werden durch Megafone verstärkt, die gleichzeitig als Musikinstrumente und als skulpturale Objekte zum Einsatz kommen. Manchmal entsteht so etwas wie eine konkrete Poesie des politischen Widerstands. Ein Aufeinandertreffen von Agitprop mit den Gestaltungsmitteln modernistischer und autonomer Klangkunst."
    Ein Müllcontainer steht am 07.01.2014 am Spielbudenplatz in Hamburg auf der Reeperbahn vor den sogenannten Esso-Häusern und einer Esso-Tankstelle. Drei Wochen nach der Evakuierung der einsturzgefährdeten "Esso-Häuser" auf der Hamburger Reeperbahn werden seit 07.01.2014 alle Wohnungen leergeräumt. Die Mieter dürfen ihr Mobiliar aus Sicherheitsgründen nur mit Hilfe einer Spedition aus den baufälligen Gebäuden holen.
    Die Auseinandersetzung um den Abriss und Neubau der sogenannten Esso Häuser im Stadtteil St. Pauli hat im Rahmen der Gentrifizierungsdebatte überregionale Aufmerksamkeit gefunden. (picture alliance / dpa / Maja Hitij)
    Es sind ebenso überraschende wie schräge Töne, die den Megafonen entlockt werden, eine Art konkrete Utopie des Megafons mit den Mitteln elektronischer Klangmanipulation. Realisiert außerhalb des Kunstsystems unter Beteiligung der vor Ort Betroffenen, die wiederum Bestandteil des Chores werden konnten. Nein, nicht ganz außerhalb des Kunstsystems, solche kreativ innovativen Ansätze werden heimgeholt, falls sie nicht schon von Beginn an zweigleisig geplant waren. Es gab auch eine Aufführung im Theaterhaus Kampnagel, die wiederum zum Festival "Politik im freien Theater" eingeladen wurde.
    Es versteht sich fast von selbst, dass auch die PlanBude zu einem Workshop im Rahmen des Salons Public Happiness eingeladen wurde. Die PlanBude ist ein interdisziplinäres Team aus den Feldern Architektur, Stadtplanung, Kunst, Urbanistik und sozialer Stadtteilarbeit. Hervorgegangen ist sie aus der autonomen Stadtteilversammlung "St. Pauli selber machen", und es ist ihr gelungen, die in diesem Zusammenhang entwickelten Kriterien zur Grundlage des Architekturwettbewerbs um den Neubau der Esso Häuser zu machen. Das ähnlich strukturierte Londoner Team Assemble hat mit seiner Wiederbelebung eines heruntergekommen Liverpooler Viertels 2015 immerhin den renommierten Turner Prize für Kunst gewonnen.
    Grenzen verschwimmen zumindest konzeptionell
    Die Grenzen zwischen Museen, Kunstvereinen und öffentlichem Raum verschwimmen zumindest konzeptionell. Der Kunstraum kann zu einem Ort werden, in dem dokumentiert wird, wie künstlerische Eingriffe an anderen Orten funktionieren und was sie erreichen wollen. Die alte avantgardistische Utopie, Kunst und Leben zu vereinen, klingt darin an und scheint auf dem Weg zu einer pragmatischen Lösung zu sein.
    Man kann sich allerdings fragen, ob die Utopie als das gänzlich Andere auf diesem Weg nicht im Darkroom verschwindet. So sehr man es begrüßen mag, dass Künstler ihre speziellen Fähigkeiten in soziale und gesellschaftliche Zusammenhänge einbringen, sie unterscheiden sich dann nur noch wenig von anderen engagierten Bürgern. Man hat Wirksamkeit gewonnen, möglicherweise, aber man hat auch etwas verloren. Es könnte die Utopie sein.
    Aber vielleicht ist die Frage falsch gestellt und die Perspektive verschiebt sich, wenn man den zentraleuropäischen Raum verlässt und die Utopie darin besteht, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Der kurdische Künstler Ahmet Öğüt, dem das Eindhovener Van Abbe Museum im letzten Jahr eine Werkschau gewidmet hat, stammt aus der Stadt Diyarbakır in der kurdischen Türkei, die sich nun erneut in einem Belagerungszustand befindet.
    "Ich bin an einem Ort aufgewachsen, wo der Bürgerkrieg ein Teil des Alltagslebens war, wo Sicherheit im öffentlichen Raum in Tag und Nacht unterschieden war, in Haupt- und Nebenstraßen, Berge mit Höhlen und Felder mit verbrannten Bäumen. Es war normal, dass Panzer mit schwerbewaffneten Spezialeinheiten im Herzen der Stadt patrouillierten. Für eine Zeitung als Journalist zu arbeiten war gefährlich genug, um auf offener Straße am hellen Tag ermordet zu werden. Musik in unserer Sprache zu hören wurde als Verbrechen betrachtet.
    Stellen Sie sich einen Ort vor, wo Grundschulkinder verhört wurden, weil sie an einem Zeichenwettbewerb zum internationalen Tag des Friedens teilgenommen hatten. Aufgewachsen unter den Umständen eines radikal militarisierten Alltagslebens mit sehr beschränkten Mitteln komme ich nicht aus einem Ort, an dem das Weltbild der westlichen Moral und Ethik als Allgemeingut selbstverständlich war. Ich komme aus einer Gegend, in der ich gelernt habe, wie wichtig das Bewusstsein ist - mehr noch das kollektive Bewusstsein - wenn man sowohl kulturell als auch politisch isoliert ist."
    Woher kommt das Geld für die weltweiten Festivals der Bildenden Kunst?
    Auf der 19. Biennale in Sydney 2014 zeigte Öğüt die Arbeit "Stones to Throw". Er hat Steine mit Comic-Motiven bemalt, mit denen in beiden Weltkriegen Jagdbomber dekoriert worden waren, bevor sie ihre Bombenlast verteilten. Diese Steine schickte er per Luftfracht in seine Heimatstadt und ließ sie dort auslegen. Es ist dort nicht unüblich, dass Kinder das Militär mit Steinen bewerfen. Was mit den Steinen geschah, ist nicht dokumentiert. In Sydney zu sehen waren, ausgelegt neben schlichten dunklen Quadern, nur die Frachtpapiere von FedEx und ein einzelner Stein als Beispiel.

    Die Biennale in Sydney war auch insofern aufschlussreich, als hier ein Konflikt offen zutage trat, der sonst selten wahrgenommen wird. Woher kommt das Geld für all die schönen weltweiten Festivals der Bildenden Kunst? Ihr Hauptsponsor war die Firma Transfield Holdings, die unter anderem Auffanglager in Papua-Neuguinea mit miserablen Bedingungen für Asylsuchende betrieb, um sie von australischem Boden fernzuhalten.
    Ahmet Öğüt war einer von 46 Unterzeichnern eines Protestbriefes, eine Aktion, die nicht mit dem Rückzug der Künstler endete, sondern mit dem Rückzug des Sponsors. Das war nicht von Anfang an klar, die Veranstalter argumentierten, dass es die Biennale ohne den Beitrag von Transfield Holdings gar nicht gäbe.

    Was muss man hinnehmen, um seine Arbeit und sein Anliegen zeigen zu können? In diesem Fall wurde der Druck auf den Sponsor zu groß und das Festival fand trotzdem statt. Das ist ein Erfolg, der die medienwirksame Verbuddelung ertrunkener Flüchtlinge durch Philipp Ruch und sein Zentrum für Politische Schönheit dahin verweist, wo sie hingehört. Es ist ein Teilaspekt dessen, was der situationistische Theoretiker Guy Debord die Gesellschaft des Spektakels genannt hat, in die sich selbst der Protest noch medienwirksam einfügt.
    Mit beschmiertem Gesicht posiert Philipp Ruch vom "Zentrum für Politische Schönheit" am 08.08.2012 vor dem Reichstag in Berlin für den Fotografen.
    Medienwirksame Verbuddelung ertrunkener Flüchtlinge: Mit beschmiertem Gesicht posiert Philipp Ruch vom "Zentrum für Politische Schönheit" vor dem Reichstag in Berlin. (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
    Kunstentwicklung hat Hoch-, Sub- und Soziokultur längst vermischt
    Ein Projekt, das inzwischen weite Kreise zieht und von Öğüt neben seinen vielfältigen künstlerischen Aktivitäten initiiert wurde, ist die Silent University. Unterstützt von der Tate Modern in London, der Tensta Kunsthalle in Stockholm, mit Zweigstellen in Hamburg, München, Mülheim/Ruhr und Amman. Was passiert mit dem Wissen derer, die ihr Land verlassen mussten?
    "Angefangen hat alles 2012. Als ich damals in London recherchierte, fiel mir das Schicksal von Flüchtlingen und Asylbewerbern mit akademischem Hintergrund auf, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in Großbritannien nicht einsetzen und sich nicht mit anderen austauschen konnten. Ihre Uniabschlüsse wurden nicht anerkannt. Das 'Schweigen' im Worttitel der Universität meint diese Wartezeit, während der über ihren legalen und ihren Bildungsstatus entschieden wird. In dieser Zeit leben sie in einer Art erzwungenem Schweigen. Wir wollten diese Passivität beenden und das zum Schweigen gebrachte Wissen sofort aktivieren."
    Natürlich war die Silent University auch zu Gast bei Utopian Pulse und zwar im Salon Fluchthilfe, obwohl sie aus dem Stadium der Utopie bereits herausgetreten und handfeste Realität geworden ist. Jeder, der möchte, kann sich dort im Internet einschreiben und teilnehmen. Die meisten Lehrangebote haben mit Kunst nichts zu tun, aber Öğüt ist es gelungen, sein Renommee als Künstler in die Waagschale zu werfen, um Kunstinstitutionen, in Deutschland zum Beispiel die Münchener Kammerspiele und das Theaterfestival Impulse, zu überzeugen, diesem Vorhaben einen temporären Ort und größere Aufmerksamkeit zu verschaffen.
    In den 1970er-Jahren gab es in der Linken eine etwas öde Debatte über die Frage, was wichtiger sei, die Hochkultur oder die Soziokultur. Der Silent University stellt sich diese Frage nicht. Die Kunstentwicklung hat Hoch-, Sub- und Soziokultur längst vermischt. Früher war das Theater der Ort, an dem die Künste zusammenkamen. Die Bildende Kunst hat das Feld noch um einige Disziplinen erweitert.
    Zertrümmerung des Kunstsystems als Reaktion auf die Trümmer des Ersten Weltkrieges
    "Ein Journalist damals in London war irritiert, weil er nicht wusste, in welcher Sparte seiner Zeitung er es unterbringen sollte: Kunst oder Erziehung. Die Silent University stellt diese Unterscheidung infrage. Schon allein, weil sie sich selbst von einem Kunst- zu einem Bildungsprojekt entwickelt. Was mich daran interessiert ist, dass es große Organisationen aus Kunst und Wissenschaft dazu zwingt zu kollaborieren, und sich mit diesen Fragen radikaler auseinanderzusetzen."

    Über die Kunst hinausgehen und hinter sie zurückgehen. Die Dadaisten haben auf die Trümmer des Ersten Weltkrieges mit der Zertrümmerung des Systems der Kunst reagiert. Seitdem sind die Bruchstücke immer wieder neu zusammengesetzt worden und das Kunstsystem hat sich so allumfassend erweitert, dass nahezu jede Aktivität, die sich in diesen Kontext stellt, in ihm Platz findet.
    Fries mit Dada-Künstlern im Keller des Cabaret Voltaire in Zürich
    Fries mit Dada-Künstlern im Keller des Cabaret Voltaire in Zürich (picture alliance / dpa / Thierry Gachon)
    Aus dem System Kunst heraustreten und in es zurückkehren könnte eine dialektische Antwort auf diese Entwicklung sein. Sie hätte sich vom Pathos der Avantgarde und ihrer Manifeste verabschiedet, und auch das inzwischen wohlfeile Mittel der Provokation käme nur noch selten zum Einsatz. Die Empörung über gesellschaftliche Entwicklungen und politische Entscheidungen muss dabei nicht auf der Strecke bleiben.
    Die Sydney Biennale war nicht die erste Ausstellung, bei der es zu ernsten Differenzen zwischen Ausrichtern und teilnehmenden Künstlern kam. Ahmet Öğüt hat Überlegungen angestellt, ob in solchen Fällen nicht die Figur eines unabhängigen Vermittlers nützlich sei. Bei Tarifauseinandersetzungen nennt man diese Person einen Schlichter. Das wäre allerdings eine Rolle, die der historischen Avantgarde sehr fern steht und die auch Ahmet Öğüt in seiner Rolle als Künstler nicht ernsthaft anstrebt.
    Joachim Büthe, geboren 1951, arbeitet regelmäßig als Autor für den Rundfunk (Deutschlandfunk, WDR), als Literatur- und Kunstkritiker sowie für das Kulturelle Feature. Publikationen in Printmedien, u.a. in der Neuen Bildenden Kunst.