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Daimler AG
Das Arbeitszeit-Experiment

Nicht nur Personalchefs sind überzeugt von flexibleren Arbeitszeiten, sondern auch der Betriebsratschef der Daimler AG. Michael Brecht ist sogar bereit, für ein Experiment mit der Arbeitszeit an Tabus wie tariflich abgesicherten Ruhezeiten zu rütteln.

Von Thomas Wagner | 13.09.2016
    Jemand sitzt an einem Tisch vor einem Laptop und hält mit einer Hand ein Smartphone, im Hintergrund ist ein Fahrrad zu sehen, im Vordergrund eine Tasse.
    Laptop und Smartphone - manchmal braucht es nicht mehr zum Arbeiten. (Imago / Westend61)
    "Und jetzt sind wir an einem Punkt, wo wir sagen: Wir möchten den Menschen einen Rahmen geben, in dem sie selbstbestimmt, ohne dass ich eine Riesengenehmigung vom Vorgesetzten erst einmal brauche, auch sagen können: Ich möchte einen Teil meiner Zeit zum Beispiel zu Hause machen."
    Fordert Michael Brecht, Gesamtbetriebsratsvorsitzender der Daimler AG . Und er wünscht sich die Möglichkeit des flexiblen Arbeitens nicht nur für einen eher überschaubaren Kreis von Managern, sondern für einen viel größeren Teil der Belegschaft:
    "Bei uns können rund 40.000 Menschen von Zuhause schon mit den entsprechenden technischen Hilfsmitteln in die Daimler-Systeme eingreifen. Das heißt: Wir haben Menschen, die müssen nicht jeden Tag im Büro sitzen, um ihre Tätigkeiten zu verrichten. Sondern die können die eben von Zuhause erledigen oder wenn sie eben woanders unterwegs sind."
    Recht auf Home Office für alle
    Eigentlich nichts Ungewöhnliches: Viele arbeiten schließlich schon heute von Zuhause aus; Home Office ist zu einem geflügelten Wort geworden. Daimler-Betriebsratsvorsitzender Michael Brecht fordert aber mehr: Jeder, dessen Tätigkeit dies grundsätzlich zulässt, soll das Recht auf Home Office haben – ganz unabhängig vom Gutdünken seines Vorgesetzten.
    Und: Das flexible Arbeiten zu Hause soll genauso als Arbeitszeit erfasst werden wie die Tätigkeit im Büro. All dies hat der Daimler-Betriebsrat mit dem Vorstand in einer Betriebsvereinbarung festgehalten. Ab Oktober sollen die neuen Regelungen in sogenannten "Experimentierfeldern" erprobt werden. Dafür ist Michael Brecht sogar bereit, an Tabus wie tariflich abgesicherten Ruhezeiten zu rütteln.
    "Und wenn einer jetzt selbstständig und flexibel arbeitet und sann sagt: Ich möchte jetzt meine Zeit unterbrechen, weil ich jetzt im Sommer mit meinen Kindern nachmittags ins Schwimmbad will, und ich arbeite dann abends drei oder vier Stunden - dann dürfte er nach dem Arbeitsende dann erst elf Stunden später im Büro sein."
    Das aber könne nicht im Sinne des Arbeitnehmers liegen.
    "Ich bin schon der Meinung, wir müssen im einen oder anderen Fall in der Lage sein, die Arbeitszeitgesetzgebung etwas flexibler handhaben zu können."
    Aufhorchen in der Fachwelt
    Das Projekt "Experimentierfelder für flexiblere Arbeitszeiten" bei Daimler sorgt für ein Aufhorchen in der Fachwelt, bleibt allerdings nicht ohne Widerspruch.
    "Ausgerechnet ein Betriebsratschef sagt das!"
    Wundert sich Professor Manfred Moldaschl, Nachhaltigkeits-Forscher an der privaten Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. Er sieht vor allem eine Gefahr: Dass nämlich die Flexibilisierung von Arbeitszeiten auf breiter Basis zu einer Art Selbstausbeutung der Arbeitnehmer führen könnte – und stellte sich die Frage:
    "Was ist eigentlich, wenn die Arbeitszeit entgrenzt wird? Also wenn ich kein festes Arbeitsende habe? Wenn ich jederzeit gehen kann, aber wenn gleichzeitig erwartet wird, dass ich das Arbeitspensum bewältige, egal wie, zum Beispiel wenn ich es mit nach Hause nehme."
    Hier sieht Moldaschl die Notwendigkeit flankierender Regeln, wie sie bei machen Unternehmen bereits umgesetzt werden:
    "Die Unternehmen sind ja dazu übergegangen, selber regulative Maßnahmen einzuführen. Zum Beispiel, dass ab nach 17 Uhr über den Organisationsserver keine E-Mails mehr versendet werden."
    Individueller Umgang mit Flexibilität
    Letztlich hängt der Erfolg flexiblerer Arbeitswelten auch davon ab, wie der Einzelne damit umgeht. Christoph Kahlert, Absolvent der Zeppelin-Universität, arbeitet als Jung-Manager einer PR-Agentur – und kommt ins Grübeln:
    "Was ich beobachte, ist eine Diskussion, dass gerade jüngere Generationen sich viel Stress machen, um wertvoll zu erscheinen. Das heißt lange zu arbeiten, nicht um Leistung zu erbringen, sondern um sichtbar zu machen: Ich werde gebraucht. Ich bin nur etwas wert im Job, wenn ich wirklich viel sitze. Wo ich sitze, ist egal geworden."
    Deshalb müsse sich jeder Einzelne selbstkritisch die Frage stellen, ob er mit den Möglichkeiten flexibler Arbeitswelten vernünftig umgeht - oder eben auch nicht.